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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Nation und Staat

Geiste nachforscht, der damals gerade in den alten deutschen Kernlanden lebte.
Das Gefühl staatlicher oder nationaler Würde war völlig zerfetzt, zerrieben,
verloren, Recht und Ordnung waren gebrochen, der Druck der Armut an vielen
Orten groß, und wo noch freiere Bewegung, Sicherheit der Arbeit und des
Besitzes vorhanden waren, da fühlte man sich von allen Seiten durch Beamte
und Zunftordnungen, durch den Zollbeamten rechts, den Steuereinnehmer links,
die Tcixissche Reichspost hier, die Lasten auf Handel und Verkehr dort so
eingeschnürt, daß, als von Paris her der Ruf nach Freiheit herübertönte, nicht
nur junge Schwärmer, sondern auch verständige Leute alsbald gewonnen
wurden.

Um 1790 war man links des Rheins zum großen Teil französisch ge¬
sinnt und ebenso in Frankfurt; und als das linke Rheinland an Frankreich
kam, freute man sich, aus der alten unerträglich drückenden Atmosphäre heraus¬
gekommen zu sein; der nationale Gegensatz blieb vorläufig verdeckt unter der
Freiheit vom alten Zwacken und Planken der Kleinstaaterei. So sehr verdeckt,
daß man links des Rheins trotz der dann drüber weg gehenden Kriege auch
1815 noch mit sehr geteilten Empfindungen die Vereinigung mit den deutschen
Staaten aufnahm. Auch weiter hinein ins Reich verflog der Rest nationaler
Gesinnung vielfach vor der Aussicht, durch die Franzosen zu bessern staatlichen
Zuständen zu gelangen. Die Freiheitskämpfe ließen den nationalen Geist zwar
Plötzlich aufflammen. Aber kaum war der Friede geschlossen, so begingen die
deutschen Regierungen den Frevel, vor diesem nationalen Geist in Furcht ge¬
ratend, ihn durch Wiederherstellung eines großen Teils der alten staatlichen
Zwangsanstalten zu bekämpfen.

Im preußisch gewordnen Rheinlande wurde zwar nicht alles, was die
französische Herrschaft gebracht hatte, urteilslos wieder hinausgefegt; vor allem
blieb der französische Kodex des Rechts in Kraft; aber man erinnerte sich dort
doch noch lange, woher diese Wohlthaten gekommen waren, und sah mißmutig
auf die strenge Beamtenfaust Preußens und die Karlsbader Beschlüsse hin.
Im Süden legten sich die Kleinen, die von Napoleons Gnaden größer ge¬
worden waren, keinen Zwang an, als die beiden deutschen Vormächte sie auf¬
forderten, die gute alte Zeit wieder herzustellen und den gefährlichen natio¬
nalen Geist in Banden zu schlagen, "und so ist sie nun, seufzte Ritter
von Lang, mit Gottes Hilfe und um den Preis unsers vielen Blutes wieder
°a, die alte schöne Zeit der Patrimonialgerichte, der Landessperren, der Siegel¬
mäßigkeit und Steuerprivilegien, der neuen Fideikommisse der wieder befestigten
leibeignen Gütergcbundenheit, der geheiligten Gemeindeordnungen, der Wall¬
fahrten, des Kapuzinerbettels."

Was anders denn war es, als die Idee von Staat und Nation, wo¬
gegen Österreich zu Karlsbad und auf den Kongressen von Aachen bis Verona
focht? In ganz Europa wurde deu Nationen, die sich auf sich selbst besannen,


Nation und Staat

Geiste nachforscht, der damals gerade in den alten deutschen Kernlanden lebte.
Das Gefühl staatlicher oder nationaler Würde war völlig zerfetzt, zerrieben,
verloren, Recht und Ordnung waren gebrochen, der Druck der Armut an vielen
Orten groß, und wo noch freiere Bewegung, Sicherheit der Arbeit und des
Besitzes vorhanden waren, da fühlte man sich von allen Seiten durch Beamte
und Zunftordnungen, durch den Zollbeamten rechts, den Steuereinnehmer links,
die Tcixissche Reichspost hier, die Lasten auf Handel und Verkehr dort so
eingeschnürt, daß, als von Paris her der Ruf nach Freiheit herübertönte, nicht
nur junge Schwärmer, sondern auch verständige Leute alsbald gewonnen
wurden.

Um 1790 war man links des Rheins zum großen Teil französisch ge¬
sinnt und ebenso in Frankfurt; und als das linke Rheinland an Frankreich
kam, freute man sich, aus der alten unerträglich drückenden Atmosphäre heraus¬
gekommen zu sein; der nationale Gegensatz blieb vorläufig verdeckt unter der
Freiheit vom alten Zwacken und Planken der Kleinstaaterei. So sehr verdeckt,
daß man links des Rheins trotz der dann drüber weg gehenden Kriege auch
1815 noch mit sehr geteilten Empfindungen die Vereinigung mit den deutschen
Staaten aufnahm. Auch weiter hinein ins Reich verflog der Rest nationaler
Gesinnung vielfach vor der Aussicht, durch die Franzosen zu bessern staatlichen
Zuständen zu gelangen. Die Freiheitskämpfe ließen den nationalen Geist zwar
Plötzlich aufflammen. Aber kaum war der Friede geschlossen, so begingen die
deutschen Regierungen den Frevel, vor diesem nationalen Geist in Furcht ge¬
ratend, ihn durch Wiederherstellung eines großen Teils der alten staatlichen
Zwangsanstalten zu bekämpfen.

Im preußisch gewordnen Rheinlande wurde zwar nicht alles, was die
französische Herrschaft gebracht hatte, urteilslos wieder hinausgefegt; vor allem
blieb der französische Kodex des Rechts in Kraft; aber man erinnerte sich dort
doch noch lange, woher diese Wohlthaten gekommen waren, und sah mißmutig
auf die strenge Beamtenfaust Preußens und die Karlsbader Beschlüsse hin.
Im Süden legten sich die Kleinen, die von Napoleons Gnaden größer ge¬
worden waren, keinen Zwang an, als die beiden deutschen Vormächte sie auf¬
forderten, die gute alte Zeit wieder herzustellen und den gefährlichen natio¬
nalen Geist in Banden zu schlagen, „und so ist sie nun, seufzte Ritter
von Lang, mit Gottes Hilfe und um den Preis unsers vielen Blutes wieder
°a, die alte schöne Zeit der Patrimonialgerichte, der Landessperren, der Siegel¬
mäßigkeit und Steuerprivilegien, der neuen Fideikommisse der wieder befestigten
leibeignen Gütergcbundenheit, der geheiligten Gemeindeordnungen, der Wall¬
fahrten, des Kapuzinerbettels."

Was anders denn war es, als die Idee von Staat und Nation, wo¬
gegen Österreich zu Karlsbad und auf den Kongressen von Aachen bis Verona
focht? In ganz Europa wurde deu Nationen, die sich auf sich selbst besannen,


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[0647] Nation und Staat Geiste nachforscht, der damals gerade in den alten deutschen Kernlanden lebte. Das Gefühl staatlicher oder nationaler Würde war völlig zerfetzt, zerrieben, verloren, Recht und Ordnung waren gebrochen, der Druck der Armut an vielen Orten groß, und wo noch freiere Bewegung, Sicherheit der Arbeit und des Besitzes vorhanden waren, da fühlte man sich von allen Seiten durch Beamte und Zunftordnungen, durch den Zollbeamten rechts, den Steuereinnehmer links, die Tcixissche Reichspost hier, die Lasten auf Handel und Verkehr dort so eingeschnürt, daß, als von Paris her der Ruf nach Freiheit herübertönte, nicht nur junge Schwärmer, sondern auch verständige Leute alsbald gewonnen wurden. Um 1790 war man links des Rheins zum großen Teil französisch ge¬ sinnt und ebenso in Frankfurt; und als das linke Rheinland an Frankreich kam, freute man sich, aus der alten unerträglich drückenden Atmosphäre heraus¬ gekommen zu sein; der nationale Gegensatz blieb vorläufig verdeckt unter der Freiheit vom alten Zwacken und Planken der Kleinstaaterei. So sehr verdeckt, daß man links des Rheins trotz der dann drüber weg gehenden Kriege auch 1815 noch mit sehr geteilten Empfindungen die Vereinigung mit den deutschen Staaten aufnahm. Auch weiter hinein ins Reich verflog der Rest nationaler Gesinnung vielfach vor der Aussicht, durch die Franzosen zu bessern staatlichen Zuständen zu gelangen. Die Freiheitskämpfe ließen den nationalen Geist zwar Plötzlich aufflammen. Aber kaum war der Friede geschlossen, so begingen die deutschen Regierungen den Frevel, vor diesem nationalen Geist in Furcht ge¬ ratend, ihn durch Wiederherstellung eines großen Teils der alten staatlichen Zwangsanstalten zu bekämpfen. Im preußisch gewordnen Rheinlande wurde zwar nicht alles, was die französische Herrschaft gebracht hatte, urteilslos wieder hinausgefegt; vor allem blieb der französische Kodex des Rechts in Kraft; aber man erinnerte sich dort doch noch lange, woher diese Wohlthaten gekommen waren, und sah mißmutig auf die strenge Beamtenfaust Preußens und die Karlsbader Beschlüsse hin. Im Süden legten sich die Kleinen, die von Napoleons Gnaden größer ge¬ worden waren, keinen Zwang an, als die beiden deutschen Vormächte sie auf¬ forderten, die gute alte Zeit wieder herzustellen und den gefährlichen natio¬ nalen Geist in Banden zu schlagen, „und so ist sie nun, seufzte Ritter von Lang, mit Gottes Hilfe und um den Preis unsers vielen Blutes wieder °a, die alte schöne Zeit der Patrimonialgerichte, der Landessperren, der Siegel¬ mäßigkeit und Steuerprivilegien, der neuen Fideikommisse der wieder befestigten leibeignen Gütergcbundenheit, der geheiligten Gemeindeordnungen, der Wall¬ fahrten, des Kapuzinerbettels." Was anders denn war es, als die Idee von Staat und Nation, wo¬ gegen Österreich zu Karlsbad und auf den Kongressen von Aachen bis Verona focht? In ganz Europa wurde deu Nationen, die sich auf sich selbst besannen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/647>, abgerufen am 23.07.2024.