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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Nation und Staat

war ein Zustand, der gewiß kein nationales Bewußtsein im Volke fördern konnte.
Wohl flammte hie und da in Einzelnen dieses Bewußtsein auf. Aber ein
Luther hatte vor allem mit Rom zu kämpfen und vermochte zuletzt doch nicht,
auch nur auf dem religiösen Boden das Volk zu einigen. Ein Wallenstein
wagte den Versuch, gegen Kaiser und Fürsten, Welsche und Schweden einen
fest geschlossenen Staat auf deutschem Boden zusammen zu hämmern. Aber
er stand mit seinen heldenhaften, weitblickenden Plänen allein, und er und seine
wahrhaft nationalen Unternehmungen sielen durch die der Nation feindlichen
Mächte zu Wien. Und von diesem heillosesten aller Bürgerkriege an gab es,
wenn man die rein österreichischen Kriege ausscheidet, in den mehr als zwei¬
hundert Jahren bis zu den Einigungskümpfen von 1870 keinen deutschen Krieg,
der nicht ganz oder zu einem Teil ein Bürgerkrieg gewesen wäre. Ein Bürger¬
krieg, wenn man die Bestandteile des Deutschen Reichs als zu einer staatlichen
Einheit gehörend will gelten lassen. Und doch waren diese drei Jahrhunderte
wahrlich nicht arm an Kriegen. Waren es nicht Österreicher, Bayern, Sachsen,
Preußen usw., die gegen einander fochten, so sah man Pommern im schwedischen
Heere oder Hannoveraner im englischen, oder Rheinländer, Westfalen, Bayern
im französischen Heere gegen Deutsche kämpfen, bis zuletzt im Rheinbunde der
größte Teil der alten reindeutschen Stämme den Franzosen bei der Nieder¬
werfung der beiden Ostmarken, Österreichs und Preußens, half.

Nichts in der deutschen Geschichte ist vom nationalen Gesichtspunkte ans
so erschütternd, als dieser Kampf der alten echten Stämme gegen die Staaten,
die nun auf ihrem ehemals kolonialen Boden am festesten für die Existenz der
Nation eintraten. Freilich weniger mit dem idealen Ziele der Verfechtung
nationaler Interessen, als mit der Absicht, ihre staatlichen Interessen, sei es
auch auf Kosten der Nation, zu fördern. Denn erst die plötzlich erwachte Be¬
geisterung des Volkes im Befreiungskriege von 1813, die aus nationaler Quelle
entsprang, entzündete auch die Regierungen zum Bewußtsein nationaler Auf¬
gaben. Bis dahin waren ihre Ziele auch in Wien und Berlin ebenso bloß
staatlicher Natur wie in den kleinern Staaten. Bis dahin standen auch sie
noch immer auf dem rein staatlichen Boden, den sie in diesen Kriegen seit 1792
eingenommen hatten.

Beide überließen zu Basel und Campo Formio, zu Rastatt und Lüneville
sehr bereitwillig den letzten Rest des einst so großen linksrheinischen Besitzes
von Deutschland den Franzosen. Dagegen wirkte Paul von Rußland, der in
Deutschland nichts besaß als die Herrschaft Jever, jahrelang mit weit größerm
Eifer für die Erhaltung der Reichsgrenzen als irgend ein deutscher Staat.
Während beide deutsche Vormächte gierig nach Beute an deutschem Boden
spähten; während beide kein Bedenken trugen, jeden Schaden, den deutsche,
selbst nichtdeutschc Fürsten, wie Orcinien, Sardinien, Toskana, Modena, von
Franzosen erlitten hatten, mit deutschem Lande zu bezahlen, und zuletzt aus


Nation und Staat

war ein Zustand, der gewiß kein nationales Bewußtsein im Volke fördern konnte.
Wohl flammte hie und da in Einzelnen dieses Bewußtsein auf. Aber ein
Luther hatte vor allem mit Rom zu kämpfen und vermochte zuletzt doch nicht,
auch nur auf dem religiösen Boden das Volk zu einigen. Ein Wallenstein
wagte den Versuch, gegen Kaiser und Fürsten, Welsche und Schweden einen
fest geschlossenen Staat auf deutschem Boden zusammen zu hämmern. Aber
er stand mit seinen heldenhaften, weitblickenden Plänen allein, und er und seine
wahrhaft nationalen Unternehmungen sielen durch die der Nation feindlichen
Mächte zu Wien. Und von diesem heillosesten aller Bürgerkriege an gab es,
wenn man die rein österreichischen Kriege ausscheidet, in den mehr als zwei¬
hundert Jahren bis zu den Einigungskümpfen von 1870 keinen deutschen Krieg,
der nicht ganz oder zu einem Teil ein Bürgerkrieg gewesen wäre. Ein Bürger¬
krieg, wenn man die Bestandteile des Deutschen Reichs als zu einer staatlichen
Einheit gehörend will gelten lassen. Und doch waren diese drei Jahrhunderte
wahrlich nicht arm an Kriegen. Waren es nicht Österreicher, Bayern, Sachsen,
Preußen usw., die gegen einander fochten, so sah man Pommern im schwedischen
Heere oder Hannoveraner im englischen, oder Rheinländer, Westfalen, Bayern
im französischen Heere gegen Deutsche kämpfen, bis zuletzt im Rheinbunde der
größte Teil der alten reindeutschen Stämme den Franzosen bei der Nieder¬
werfung der beiden Ostmarken, Österreichs und Preußens, half.

Nichts in der deutschen Geschichte ist vom nationalen Gesichtspunkte ans
so erschütternd, als dieser Kampf der alten echten Stämme gegen die Staaten,
die nun auf ihrem ehemals kolonialen Boden am festesten für die Existenz der
Nation eintraten. Freilich weniger mit dem idealen Ziele der Verfechtung
nationaler Interessen, als mit der Absicht, ihre staatlichen Interessen, sei es
auch auf Kosten der Nation, zu fördern. Denn erst die plötzlich erwachte Be¬
geisterung des Volkes im Befreiungskriege von 1813, die aus nationaler Quelle
entsprang, entzündete auch die Regierungen zum Bewußtsein nationaler Auf¬
gaben. Bis dahin waren ihre Ziele auch in Wien und Berlin ebenso bloß
staatlicher Natur wie in den kleinern Staaten. Bis dahin standen auch sie
noch immer auf dem rein staatlichen Boden, den sie in diesen Kriegen seit 1792
eingenommen hatten.

Beide überließen zu Basel und Campo Formio, zu Rastatt und Lüneville
sehr bereitwillig den letzten Rest des einst so großen linksrheinischen Besitzes
von Deutschland den Franzosen. Dagegen wirkte Paul von Rußland, der in
Deutschland nichts besaß als die Herrschaft Jever, jahrelang mit weit größerm
Eifer für die Erhaltung der Reichsgrenzen als irgend ein deutscher Staat.
Während beide deutsche Vormächte gierig nach Beute an deutschem Boden
spähten; während beide kein Bedenken trugen, jeden Schaden, den deutsche,
selbst nichtdeutschc Fürsten, wie Orcinien, Sardinien, Toskana, Modena, von
Franzosen erlitten hatten, mit deutschem Lande zu bezahlen, und zuletzt aus


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[0640] Nation und Staat war ein Zustand, der gewiß kein nationales Bewußtsein im Volke fördern konnte. Wohl flammte hie und da in Einzelnen dieses Bewußtsein auf. Aber ein Luther hatte vor allem mit Rom zu kämpfen und vermochte zuletzt doch nicht, auch nur auf dem religiösen Boden das Volk zu einigen. Ein Wallenstein wagte den Versuch, gegen Kaiser und Fürsten, Welsche und Schweden einen fest geschlossenen Staat auf deutschem Boden zusammen zu hämmern. Aber er stand mit seinen heldenhaften, weitblickenden Plänen allein, und er und seine wahrhaft nationalen Unternehmungen sielen durch die der Nation feindlichen Mächte zu Wien. Und von diesem heillosesten aller Bürgerkriege an gab es, wenn man die rein österreichischen Kriege ausscheidet, in den mehr als zwei¬ hundert Jahren bis zu den Einigungskümpfen von 1870 keinen deutschen Krieg, der nicht ganz oder zu einem Teil ein Bürgerkrieg gewesen wäre. Ein Bürger¬ krieg, wenn man die Bestandteile des Deutschen Reichs als zu einer staatlichen Einheit gehörend will gelten lassen. Und doch waren diese drei Jahrhunderte wahrlich nicht arm an Kriegen. Waren es nicht Österreicher, Bayern, Sachsen, Preußen usw., die gegen einander fochten, so sah man Pommern im schwedischen Heere oder Hannoveraner im englischen, oder Rheinländer, Westfalen, Bayern im französischen Heere gegen Deutsche kämpfen, bis zuletzt im Rheinbunde der größte Teil der alten reindeutschen Stämme den Franzosen bei der Nieder¬ werfung der beiden Ostmarken, Österreichs und Preußens, half. Nichts in der deutschen Geschichte ist vom nationalen Gesichtspunkte ans so erschütternd, als dieser Kampf der alten echten Stämme gegen die Staaten, die nun auf ihrem ehemals kolonialen Boden am festesten für die Existenz der Nation eintraten. Freilich weniger mit dem idealen Ziele der Verfechtung nationaler Interessen, als mit der Absicht, ihre staatlichen Interessen, sei es auch auf Kosten der Nation, zu fördern. Denn erst die plötzlich erwachte Be¬ geisterung des Volkes im Befreiungskriege von 1813, die aus nationaler Quelle entsprang, entzündete auch die Regierungen zum Bewußtsein nationaler Auf¬ gaben. Bis dahin waren ihre Ziele auch in Wien und Berlin ebenso bloß staatlicher Natur wie in den kleinern Staaten. Bis dahin standen auch sie noch immer auf dem rein staatlichen Boden, den sie in diesen Kriegen seit 1792 eingenommen hatten. Beide überließen zu Basel und Campo Formio, zu Rastatt und Lüneville sehr bereitwillig den letzten Rest des einst so großen linksrheinischen Besitzes von Deutschland den Franzosen. Dagegen wirkte Paul von Rußland, der in Deutschland nichts besaß als die Herrschaft Jever, jahrelang mit weit größerm Eifer für die Erhaltung der Reichsgrenzen als irgend ein deutscher Staat. Während beide deutsche Vormächte gierig nach Beute an deutschem Boden spähten; während beide kein Bedenken trugen, jeden Schaden, den deutsche, selbst nichtdeutschc Fürsten, wie Orcinien, Sardinien, Toskana, Modena, von Franzosen erlitten hatten, mit deutschem Lande zu bezahlen, und zuletzt aus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/640>, abgerufen am 23.07.2024.