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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Potemkins Dörfer

Henschel" begegnet man einer Fülle Reden von der Länge einer drittel und
halben Druckseite. Die hochdeutschen Reden derer vom Vorderhause klingen
fast durchweg unlebendig, ausstudiert. Auch das darf sich Hauptmann er¬
lauben -- aber was darf er sich im Schutze seiner Potemkinschen Gestalten
nicht erlauben?

Auch hier herrscht der schlesische Dialekt wieder in der rein äußerlichen
Art vor, die an den bloßen Worten haftet, nicht aber den Charakter ausprägt.
Als Ausdruck des Stammescharakters oder als äußere Bekundung einer im
Kunstwerk innerlich zur Geltung kommenden Stammesart verwenden Hebel,
Klaus Groth und Reuter den Dialekt. Noch niemand hat an Hauptmanns
Gestalten spezifisch schlesische Charaktere entdeckt; hier weht nichts von schle-
sischen Erdgeruch: wiederum nur das äußere Wort. Dürften wir an dieser
Thatsache noch zweifeln, so hat sich der als Vertrauter Hauptmanns bekannte
Direktor des Burgtheaters beeilt, den Beweis für sie zu erbringen, indem er das
Stück aus dem Schlesischen unverzagt ins -- Niederösterreichische umsetzen ließ!
Auch ist es zur Genüge aufschlußreich, daß der Kellner George als Sachse
vorgeführt ist, einfach indem er sächsisch spricht. Ebenso gut könnte er
wienerisch oder mecklenburgisch reden: offenbar reicht des Dichters Kenntnis
des sächsischen Stammes nicht über die "Fliegenden Blätter" hinaus.

Wir brauchen kaum fortzufahren, kaum noch auseinanderzusetzen, wie sich
aus dem Mangel an Charakterzeichnung und innerer Motivierung mit Not¬
wendigkeit das Ausbleiben einer tragisch erschütternden und erhebenden Wirkung
der traurigen Handlung, die Verzweiflung einer Philosophie des Strickes er¬
giebt. Schon haben einige unabhängige Kritiker neben der Geistlosigkeit des
Ganzen diese Verflachung des Schlußeindrucks hervorgehoben, aber sofort wird
der auf die Gedankenlosigkeit berechnete Scheingrund entgegengehalten: Haupt¬
mann erkennt ja aber die alten Kunstgesetze nicht an; was nach ihnen als
Mangel erscheint, ist eben das Wesen des neuen Stils! Nun, so wissen wir
wenigstens, worin der "neue Stil" besteht: in der Verflachung der Charakte¬
ristik, in der Geistlosigkeit der Handlung, in der Veräußerlichung der Milieu¬
schilderung, in der pedantischen Wiedergabe der Sprechweise und des äußern
Benehmens, in der geflissentlich prosaischen Nüchternheit. Überall das Wams,
aber nicht das Herz. Wer uns diese tiefgreifenden Mängel des Dichters
-- und sei es in ehrlichster Verbohrtheit -- als bewußte Äußerung einer
neuen Kunst anpreist, der erinnert wohl noch in andrer Weise an Potemkin:
denn was man uns als Leben vortäuscht, ist auch hier nur Pappe.




Potemkins Dörfer

Henschel" begegnet man einer Fülle Reden von der Länge einer drittel und
halben Druckseite. Die hochdeutschen Reden derer vom Vorderhause klingen
fast durchweg unlebendig, ausstudiert. Auch das darf sich Hauptmann er¬
lauben — aber was darf er sich im Schutze seiner Potemkinschen Gestalten
nicht erlauben?

Auch hier herrscht der schlesische Dialekt wieder in der rein äußerlichen
Art vor, die an den bloßen Worten haftet, nicht aber den Charakter ausprägt.
Als Ausdruck des Stammescharakters oder als äußere Bekundung einer im
Kunstwerk innerlich zur Geltung kommenden Stammesart verwenden Hebel,
Klaus Groth und Reuter den Dialekt. Noch niemand hat an Hauptmanns
Gestalten spezifisch schlesische Charaktere entdeckt; hier weht nichts von schle-
sischen Erdgeruch: wiederum nur das äußere Wort. Dürften wir an dieser
Thatsache noch zweifeln, so hat sich der als Vertrauter Hauptmanns bekannte
Direktor des Burgtheaters beeilt, den Beweis für sie zu erbringen, indem er das
Stück aus dem Schlesischen unverzagt ins — Niederösterreichische umsetzen ließ!
Auch ist es zur Genüge aufschlußreich, daß der Kellner George als Sachse
vorgeführt ist, einfach indem er sächsisch spricht. Ebenso gut könnte er
wienerisch oder mecklenburgisch reden: offenbar reicht des Dichters Kenntnis
des sächsischen Stammes nicht über die „Fliegenden Blätter" hinaus.

Wir brauchen kaum fortzufahren, kaum noch auseinanderzusetzen, wie sich
aus dem Mangel an Charakterzeichnung und innerer Motivierung mit Not¬
wendigkeit das Ausbleiben einer tragisch erschütternden und erhebenden Wirkung
der traurigen Handlung, die Verzweiflung einer Philosophie des Strickes er¬
giebt. Schon haben einige unabhängige Kritiker neben der Geistlosigkeit des
Ganzen diese Verflachung des Schlußeindrucks hervorgehoben, aber sofort wird
der auf die Gedankenlosigkeit berechnete Scheingrund entgegengehalten: Haupt¬
mann erkennt ja aber die alten Kunstgesetze nicht an; was nach ihnen als
Mangel erscheint, ist eben das Wesen des neuen Stils! Nun, so wissen wir
wenigstens, worin der „neue Stil" besteht: in der Verflachung der Charakte¬
ristik, in der Geistlosigkeit der Handlung, in der Veräußerlichung der Milieu¬
schilderung, in der pedantischen Wiedergabe der Sprechweise und des äußern
Benehmens, in der geflissentlich prosaischen Nüchternheit. Überall das Wams,
aber nicht das Herz. Wer uns diese tiefgreifenden Mängel des Dichters
— und sei es in ehrlichster Verbohrtheit — als bewußte Äußerung einer
neuen Kunst anpreist, der erinnert wohl noch in andrer Weise an Potemkin:
denn was man uns als Leben vortäuscht, ist auch hier nur Pappe.




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[0552] Potemkins Dörfer Henschel" begegnet man einer Fülle Reden von der Länge einer drittel und halben Druckseite. Die hochdeutschen Reden derer vom Vorderhause klingen fast durchweg unlebendig, ausstudiert. Auch das darf sich Hauptmann er¬ lauben — aber was darf er sich im Schutze seiner Potemkinschen Gestalten nicht erlauben? Auch hier herrscht der schlesische Dialekt wieder in der rein äußerlichen Art vor, die an den bloßen Worten haftet, nicht aber den Charakter ausprägt. Als Ausdruck des Stammescharakters oder als äußere Bekundung einer im Kunstwerk innerlich zur Geltung kommenden Stammesart verwenden Hebel, Klaus Groth und Reuter den Dialekt. Noch niemand hat an Hauptmanns Gestalten spezifisch schlesische Charaktere entdeckt; hier weht nichts von schle- sischen Erdgeruch: wiederum nur das äußere Wort. Dürften wir an dieser Thatsache noch zweifeln, so hat sich der als Vertrauter Hauptmanns bekannte Direktor des Burgtheaters beeilt, den Beweis für sie zu erbringen, indem er das Stück aus dem Schlesischen unverzagt ins — Niederösterreichische umsetzen ließ! Auch ist es zur Genüge aufschlußreich, daß der Kellner George als Sachse vorgeführt ist, einfach indem er sächsisch spricht. Ebenso gut könnte er wienerisch oder mecklenburgisch reden: offenbar reicht des Dichters Kenntnis des sächsischen Stammes nicht über die „Fliegenden Blätter" hinaus. Wir brauchen kaum fortzufahren, kaum noch auseinanderzusetzen, wie sich aus dem Mangel an Charakterzeichnung und innerer Motivierung mit Not¬ wendigkeit das Ausbleiben einer tragisch erschütternden und erhebenden Wirkung der traurigen Handlung, die Verzweiflung einer Philosophie des Strickes er¬ giebt. Schon haben einige unabhängige Kritiker neben der Geistlosigkeit des Ganzen diese Verflachung des Schlußeindrucks hervorgehoben, aber sofort wird der auf die Gedankenlosigkeit berechnete Scheingrund entgegengehalten: Haupt¬ mann erkennt ja aber die alten Kunstgesetze nicht an; was nach ihnen als Mangel erscheint, ist eben das Wesen des neuen Stils! Nun, so wissen wir wenigstens, worin der „neue Stil" besteht: in der Verflachung der Charakte¬ ristik, in der Geistlosigkeit der Handlung, in der Veräußerlichung der Milieu¬ schilderung, in der pedantischen Wiedergabe der Sprechweise und des äußern Benehmens, in der geflissentlich prosaischen Nüchternheit. Überall das Wams, aber nicht das Herz. Wer uns diese tiefgreifenden Mängel des Dichters — und sei es in ehrlichster Verbohrtheit — als bewußte Äußerung einer neuen Kunst anpreist, der erinnert wohl noch in andrer Weise an Potemkin: denn was man uns als Leben vortäuscht, ist auch hier nur Pappe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/552>, abgerufen am 23.07.2024.