Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Potemkins Dörfer

Mit vollendeter Virtuosität sind nur die äußern Begleiterscheinungen und Zu¬
thaten der Handlung wiedergegeben: nicht einmal die wesentlichen Geschehnisse
selbst gelangen zu dramatischer Gestaltung, meist werden sie als geschehen er¬
zählt. Jedenfalls ist alles als äußeres Geschehnis hingenommen: es fehlt
jeder Versuch einer tiefern Motivierung aus den Charakteren, es fehlt jeder
Versuch einer eigentlichen Charakterzeichnung. Wir sehen allenfalls die energie¬
lose Gutmütigkeit auf der einen, die energische Böswilligkeit auf der andern
Seite; auch öder Aberglaube zuckt ein paarmal auf: aber nirgends werden
uns tiefere Blicke in das menschliche Gemüt gewährt, nirgends neue Provinzen
des menschlichen Herzens entdeckt. Hauptmann führt uns zu den geistig Armen,
aber nicht zu denen, die das Himmelreich erben sollen: für die Geistlosigkeit
entschädigt keine Gemütsfülle, in trostloser Dumpfheit brüten die Haupt-
gestalten dahin.

Für das Ärmliche der Handlung wie der Charaktere soll nun vielleicht
im Sinne des Zolaischen Stils eine breite Schilderung des Milieus ent¬
schädigen? Allerdings wird sehr ausgiebig die Umgebung und der ganze
Lebenskreis des Fuhrmanns gekennzeichnet: indes nach keiner Richtung in dem
Sinne, der eine Milieuschilderung künstlerisch berechtigt und notwendig er¬
scheinen läßt, in dem Sinne einer Motivierung der Handlung, einer Erklärung
der Charaktere. Wird durch irgend eine Person des Vorderhauses: durch den
Gasthofbesitzer, den Schankwirt oder dessen leichtfertige Tochter, in irgend einer
Weise der Gang der Handlung beeinflußt, die Entwicklung der Charaktere, ihr
Wesen oder ihr Treiben bestimmt oder wenigstens verständlicher gemacht? Und
was haben selbst die dem Kreise des Fuhrmanns näherstehenden Gestalten: der
Pferdehändler, der Tierarzt mit der Handlung selbst zu schaffen? Gewiß, ein
Fuhrmann kauft auch Pferde, und es wird ihm auch zu Zeiten ein Pferd
krank: die Aufgabe des Künstlers besteht aber darin, solche nur äußerlich in
den Bereich des Helden hineinragende Gestalten entweder als belanglos aus¬
zuscheiden, oder sie seinerseits irgendwie organisch mit der Handlung zu ver¬
knüpfen, ihnen irgend ein bestimmendes oder innerlich erklärendes Eingreifen
zuzuschreiben. Anders im "Fuhrmann Henschel," wo alle äußerlich hinein¬
ragenden Gestalten, alle äußern Alltagsvorgänge, alle zufälligen Gespräche
bunt durch einander wirbeln, ja mit pedantischer Genauigkeit breit entfaltet
werden, die eigentliche Handlung aber ohne innern Zusammenhang mit alledem
nur zwischendurchgeht. Dieses gänzliche Verfehlen des eigentlichen Zwecks der
Zeichnung des Milieus zeugt am lebendigsten dafür, daß Hauptmann wenigstens
nach einer bestimmten Richtung über Zolas Naturalismus hinausgeschritten
ist: an bequemer Veräußerlichung.

Sehr bequem hat es sich Hauptmann auch mit dem Dialog gemacht. Wo
ist denn die vom Realismus erstrebte Zusammendrängung auf den kurzen,
springenden Ton des Lebens geblieben? In allen Akten des "Fuhrmann


Potemkins Dörfer

Mit vollendeter Virtuosität sind nur die äußern Begleiterscheinungen und Zu¬
thaten der Handlung wiedergegeben: nicht einmal die wesentlichen Geschehnisse
selbst gelangen zu dramatischer Gestaltung, meist werden sie als geschehen er¬
zählt. Jedenfalls ist alles als äußeres Geschehnis hingenommen: es fehlt
jeder Versuch einer tiefern Motivierung aus den Charakteren, es fehlt jeder
Versuch einer eigentlichen Charakterzeichnung. Wir sehen allenfalls die energie¬
lose Gutmütigkeit auf der einen, die energische Böswilligkeit auf der andern
Seite; auch öder Aberglaube zuckt ein paarmal auf: aber nirgends werden
uns tiefere Blicke in das menschliche Gemüt gewährt, nirgends neue Provinzen
des menschlichen Herzens entdeckt. Hauptmann führt uns zu den geistig Armen,
aber nicht zu denen, die das Himmelreich erben sollen: für die Geistlosigkeit
entschädigt keine Gemütsfülle, in trostloser Dumpfheit brüten die Haupt-
gestalten dahin.

Für das Ärmliche der Handlung wie der Charaktere soll nun vielleicht
im Sinne des Zolaischen Stils eine breite Schilderung des Milieus ent¬
schädigen? Allerdings wird sehr ausgiebig die Umgebung und der ganze
Lebenskreis des Fuhrmanns gekennzeichnet: indes nach keiner Richtung in dem
Sinne, der eine Milieuschilderung künstlerisch berechtigt und notwendig er¬
scheinen läßt, in dem Sinne einer Motivierung der Handlung, einer Erklärung
der Charaktere. Wird durch irgend eine Person des Vorderhauses: durch den
Gasthofbesitzer, den Schankwirt oder dessen leichtfertige Tochter, in irgend einer
Weise der Gang der Handlung beeinflußt, die Entwicklung der Charaktere, ihr
Wesen oder ihr Treiben bestimmt oder wenigstens verständlicher gemacht? Und
was haben selbst die dem Kreise des Fuhrmanns näherstehenden Gestalten: der
Pferdehändler, der Tierarzt mit der Handlung selbst zu schaffen? Gewiß, ein
Fuhrmann kauft auch Pferde, und es wird ihm auch zu Zeiten ein Pferd
krank: die Aufgabe des Künstlers besteht aber darin, solche nur äußerlich in
den Bereich des Helden hineinragende Gestalten entweder als belanglos aus¬
zuscheiden, oder sie seinerseits irgendwie organisch mit der Handlung zu ver¬
knüpfen, ihnen irgend ein bestimmendes oder innerlich erklärendes Eingreifen
zuzuschreiben. Anders im „Fuhrmann Henschel," wo alle äußerlich hinein¬
ragenden Gestalten, alle äußern Alltagsvorgänge, alle zufälligen Gespräche
bunt durch einander wirbeln, ja mit pedantischer Genauigkeit breit entfaltet
werden, die eigentliche Handlung aber ohne innern Zusammenhang mit alledem
nur zwischendurchgeht. Dieses gänzliche Verfehlen des eigentlichen Zwecks der
Zeichnung des Milieus zeugt am lebendigsten dafür, daß Hauptmann wenigstens
nach einer bestimmten Richtung über Zolas Naturalismus hinausgeschritten
ist: an bequemer Veräußerlichung.

Sehr bequem hat es sich Hauptmann auch mit dem Dialog gemacht. Wo
ist denn die vom Realismus erstrebte Zusammendrängung auf den kurzen,
springenden Ton des Lebens geblieben? In allen Akten des „Fuhrmann


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0551" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230237"/>
          <fw type="header" place="top"> Potemkins Dörfer</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2237" prev="#ID_2236"> Mit vollendeter Virtuosität sind nur die äußern Begleiterscheinungen und Zu¬<lb/>
thaten der Handlung wiedergegeben: nicht einmal die wesentlichen Geschehnisse<lb/>
selbst gelangen zu dramatischer Gestaltung, meist werden sie als geschehen er¬<lb/>
zählt. Jedenfalls ist alles als äußeres Geschehnis hingenommen: es fehlt<lb/>
jeder Versuch einer tiefern Motivierung aus den Charakteren, es fehlt jeder<lb/>
Versuch einer eigentlichen Charakterzeichnung. Wir sehen allenfalls die energie¬<lb/>
lose Gutmütigkeit auf der einen, die energische Böswilligkeit auf der andern<lb/>
Seite; auch öder Aberglaube zuckt ein paarmal auf: aber nirgends werden<lb/>
uns tiefere Blicke in das menschliche Gemüt gewährt, nirgends neue Provinzen<lb/>
des menschlichen Herzens entdeckt. Hauptmann führt uns zu den geistig Armen,<lb/>
aber nicht zu denen, die das Himmelreich erben sollen: für die Geistlosigkeit<lb/>
entschädigt keine Gemütsfülle, in trostloser Dumpfheit brüten die Haupt-<lb/>
gestalten dahin.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2238"> Für das Ärmliche der Handlung wie der Charaktere soll nun vielleicht<lb/>
im Sinne des Zolaischen Stils eine breite Schilderung des Milieus ent¬<lb/>
schädigen? Allerdings wird sehr ausgiebig die Umgebung und der ganze<lb/>
Lebenskreis des Fuhrmanns gekennzeichnet: indes nach keiner Richtung in dem<lb/>
Sinne, der eine Milieuschilderung künstlerisch berechtigt und notwendig er¬<lb/>
scheinen läßt, in dem Sinne einer Motivierung der Handlung, einer Erklärung<lb/>
der Charaktere. Wird durch irgend eine Person des Vorderhauses: durch den<lb/>
Gasthofbesitzer, den Schankwirt oder dessen leichtfertige Tochter, in irgend einer<lb/>
Weise der Gang der Handlung beeinflußt, die Entwicklung der Charaktere, ihr<lb/>
Wesen oder ihr Treiben bestimmt oder wenigstens verständlicher gemacht? Und<lb/>
was haben selbst die dem Kreise des Fuhrmanns näherstehenden Gestalten: der<lb/>
Pferdehändler, der Tierarzt mit der Handlung selbst zu schaffen? Gewiß, ein<lb/>
Fuhrmann kauft auch Pferde, und es wird ihm auch zu Zeiten ein Pferd<lb/>
krank: die Aufgabe des Künstlers besteht aber darin, solche nur äußerlich in<lb/>
den Bereich des Helden hineinragende Gestalten entweder als belanglos aus¬<lb/>
zuscheiden, oder sie seinerseits irgendwie organisch mit der Handlung zu ver¬<lb/>
knüpfen, ihnen irgend ein bestimmendes oder innerlich erklärendes Eingreifen<lb/>
zuzuschreiben. Anders im &#x201E;Fuhrmann Henschel," wo alle äußerlich hinein¬<lb/>
ragenden Gestalten, alle äußern Alltagsvorgänge, alle zufälligen Gespräche<lb/>
bunt durch einander wirbeln, ja mit pedantischer Genauigkeit breit entfaltet<lb/>
werden, die eigentliche Handlung aber ohne innern Zusammenhang mit alledem<lb/>
nur zwischendurchgeht. Dieses gänzliche Verfehlen des eigentlichen Zwecks der<lb/>
Zeichnung des Milieus zeugt am lebendigsten dafür, daß Hauptmann wenigstens<lb/>
nach einer bestimmten Richtung über Zolas Naturalismus hinausgeschritten<lb/>
ist: an bequemer Veräußerlichung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2239" next="#ID_2240"> Sehr bequem hat es sich Hauptmann auch mit dem Dialog gemacht. Wo<lb/>
ist denn die vom Realismus erstrebte Zusammendrängung auf den kurzen,<lb/>
springenden Ton des Lebens geblieben?  In allen Akten des &#x201E;Fuhrmann</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0551] Potemkins Dörfer Mit vollendeter Virtuosität sind nur die äußern Begleiterscheinungen und Zu¬ thaten der Handlung wiedergegeben: nicht einmal die wesentlichen Geschehnisse selbst gelangen zu dramatischer Gestaltung, meist werden sie als geschehen er¬ zählt. Jedenfalls ist alles als äußeres Geschehnis hingenommen: es fehlt jeder Versuch einer tiefern Motivierung aus den Charakteren, es fehlt jeder Versuch einer eigentlichen Charakterzeichnung. Wir sehen allenfalls die energie¬ lose Gutmütigkeit auf der einen, die energische Böswilligkeit auf der andern Seite; auch öder Aberglaube zuckt ein paarmal auf: aber nirgends werden uns tiefere Blicke in das menschliche Gemüt gewährt, nirgends neue Provinzen des menschlichen Herzens entdeckt. Hauptmann führt uns zu den geistig Armen, aber nicht zu denen, die das Himmelreich erben sollen: für die Geistlosigkeit entschädigt keine Gemütsfülle, in trostloser Dumpfheit brüten die Haupt- gestalten dahin. Für das Ärmliche der Handlung wie der Charaktere soll nun vielleicht im Sinne des Zolaischen Stils eine breite Schilderung des Milieus ent¬ schädigen? Allerdings wird sehr ausgiebig die Umgebung und der ganze Lebenskreis des Fuhrmanns gekennzeichnet: indes nach keiner Richtung in dem Sinne, der eine Milieuschilderung künstlerisch berechtigt und notwendig er¬ scheinen läßt, in dem Sinne einer Motivierung der Handlung, einer Erklärung der Charaktere. Wird durch irgend eine Person des Vorderhauses: durch den Gasthofbesitzer, den Schankwirt oder dessen leichtfertige Tochter, in irgend einer Weise der Gang der Handlung beeinflußt, die Entwicklung der Charaktere, ihr Wesen oder ihr Treiben bestimmt oder wenigstens verständlicher gemacht? Und was haben selbst die dem Kreise des Fuhrmanns näherstehenden Gestalten: der Pferdehändler, der Tierarzt mit der Handlung selbst zu schaffen? Gewiß, ein Fuhrmann kauft auch Pferde, und es wird ihm auch zu Zeiten ein Pferd krank: die Aufgabe des Künstlers besteht aber darin, solche nur äußerlich in den Bereich des Helden hineinragende Gestalten entweder als belanglos aus¬ zuscheiden, oder sie seinerseits irgendwie organisch mit der Handlung zu ver¬ knüpfen, ihnen irgend ein bestimmendes oder innerlich erklärendes Eingreifen zuzuschreiben. Anders im „Fuhrmann Henschel," wo alle äußerlich hinein¬ ragenden Gestalten, alle äußern Alltagsvorgänge, alle zufälligen Gespräche bunt durch einander wirbeln, ja mit pedantischer Genauigkeit breit entfaltet werden, die eigentliche Handlung aber ohne innern Zusammenhang mit alledem nur zwischendurchgeht. Dieses gänzliche Verfehlen des eigentlichen Zwecks der Zeichnung des Milieus zeugt am lebendigsten dafür, daß Hauptmann wenigstens nach einer bestimmten Richtung über Zolas Naturalismus hinausgeschritten ist: an bequemer Veräußerlichung. Sehr bequem hat es sich Hauptmann auch mit dem Dialog gemacht. Wo ist denn die vom Realismus erstrebte Zusammendrängung auf den kurzen, springenden Ton des Lebens geblieben? In allen Akten des „Fuhrmann

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/551
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/551>, abgerufen am 23.07.2024.