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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Zur reichsgesetzlichen Regelung des Versicherungsrechts

Auch hier trat indes bald jener oben hervorgehobne Mißstand ein: Zur
Beseitigung der dem Gesetz und der Billigkeit entsprechenden Folgerungen
nahmen die Gesellschaften in ihre Antragsformulare und in die "allgemeinen
Bedingungen" Bestimmungen dahin auf: daß sich die Verpflichtung der Gesell¬
schaft lediglich nach dem Inhalt der Versicherungsurkunde bestimme, und daß sich
der Versicherte diesem gegenüber auf mündliche Abmachungen mit dem Agenten
so wenig berufen könne, wie auf thatsächliche Abweichungen des Agenten von
dem Inhalt der allgemeinen Bedingungen; das heißt mit andern Worten: nicht
der wahre Wille, wie er mündlich oder schriftlich vor dem Vertragsschluß zum
Ausdruck gekommen ist, soll entscheidend sein, sondern der unvollständig zum
Vorteil der Gesellschaft zum Ausdruck gebrachte Wille, und dies selbst dann,
wenn nachträglich zweifellos ein entgegengesetzter Wille bethätigt ist, sodaß der
Versicherte verständigerweise glauben mußte, der Vertrag sei nachträglich ge¬
ändert. Ob auch unter der Geltung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, das wieder¬
holt hervorhebt, daß die Auslegung von Verträgen und die Erfüllung von
Verbindlichkeiten so zu erfolgen habe, wie Treu und Glauben mit Rücksicht
auf die Verkehrssitte es erfordern, derartige Festsetzungen der "allgemeinen
Bedingungen" für giltig werden erachtet werden, kann wirklich zweifelhaft sein;
eben deshalb empfiehlt es sich, die Zulässigkeit dieser "allgemeinen Bedingungen"
schlechthin auszuschließen, um jeder Möglichkeit einer solchen "exorbitanten
Jurisprudenz" entgegenzutreten.

Z. Nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen kann die Person, die einen be¬
stimmten Schuldbetrag anerkennt, die Zahlung nicht deshalb verweigern, weil
der Gläubiger außer diesem unstreitigen Betrag noch einen höhern Betrag ver¬
langt; thut der Schuldner dies dennoch, so gerät er in Zahlungsverzug, sodaß
er den anerkannten Betrag sofort zu verzinsen hat; und klagt der Gläubiger
nun den gesamten Betrag ein, so wird der Schuldner zur sofortigen Zahlung
des von ihm anerkannten, also unstreitigen Betrags durch vollstreckbares Teil¬
urteil verurteilt, sodaß Gegenstand des Rechtsstreits dann nur noch der be-
strittne Teil der Forderung ist, die dem Gläubiger mit Zinsen vom Tage des
Verzugs zugesprochen wird; denn dadurch, daß der Schuldner die Zahlung
rechtswidrig verzögert, darf er keinen Vorteil, der Gläubiger keinen Nachteil
haben. Diese so überaus klaren und selbstverständlichen Rechtssätze wurden
auch gegen die Versicherungsgesellschaften angewandt, und es ist interessant zu
beobachten, daß diese selbst hier die berechtigten Interessen der Versicherten
durch jene klein gedruckten "allgemeinen Bedingungen" zu schmälern unter¬
nahmen. In den letzten findet man nämlich gewöhnlich eine Bestimmung des
Inhalts: "Die Entschädigungssumme ist dem Versicherten binnen Monatsfrist,
nachdem ihr gesamter Betrag und die Zahlungspflicht der Gesellschaft durch
Anerkenntnis beider Teile, Vergleich oder rechtskräftiges Urteil festgestellt ist,
zu zahlen." Der Versicherungslustige findet, selbst wenn er noch so geschüfts-


Zur reichsgesetzlichen Regelung des Versicherungsrechts

Auch hier trat indes bald jener oben hervorgehobne Mißstand ein: Zur
Beseitigung der dem Gesetz und der Billigkeit entsprechenden Folgerungen
nahmen die Gesellschaften in ihre Antragsformulare und in die „allgemeinen
Bedingungen" Bestimmungen dahin auf: daß sich die Verpflichtung der Gesell¬
schaft lediglich nach dem Inhalt der Versicherungsurkunde bestimme, und daß sich
der Versicherte diesem gegenüber auf mündliche Abmachungen mit dem Agenten
so wenig berufen könne, wie auf thatsächliche Abweichungen des Agenten von
dem Inhalt der allgemeinen Bedingungen; das heißt mit andern Worten: nicht
der wahre Wille, wie er mündlich oder schriftlich vor dem Vertragsschluß zum
Ausdruck gekommen ist, soll entscheidend sein, sondern der unvollständig zum
Vorteil der Gesellschaft zum Ausdruck gebrachte Wille, und dies selbst dann,
wenn nachträglich zweifellos ein entgegengesetzter Wille bethätigt ist, sodaß der
Versicherte verständigerweise glauben mußte, der Vertrag sei nachträglich ge¬
ändert. Ob auch unter der Geltung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, das wieder¬
holt hervorhebt, daß die Auslegung von Verträgen und die Erfüllung von
Verbindlichkeiten so zu erfolgen habe, wie Treu und Glauben mit Rücksicht
auf die Verkehrssitte es erfordern, derartige Festsetzungen der „allgemeinen
Bedingungen" für giltig werden erachtet werden, kann wirklich zweifelhaft sein;
eben deshalb empfiehlt es sich, die Zulässigkeit dieser „allgemeinen Bedingungen"
schlechthin auszuschließen, um jeder Möglichkeit einer solchen „exorbitanten
Jurisprudenz" entgegenzutreten.

Z. Nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen kann die Person, die einen be¬
stimmten Schuldbetrag anerkennt, die Zahlung nicht deshalb verweigern, weil
der Gläubiger außer diesem unstreitigen Betrag noch einen höhern Betrag ver¬
langt; thut der Schuldner dies dennoch, so gerät er in Zahlungsverzug, sodaß
er den anerkannten Betrag sofort zu verzinsen hat; und klagt der Gläubiger
nun den gesamten Betrag ein, so wird der Schuldner zur sofortigen Zahlung
des von ihm anerkannten, also unstreitigen Betrags durch vollstreckbares Teil¬
urteil verurteilt, sodaß Gegenstand des Rechtsstreits dann nur noch der be-
strittne Teil der Forderung ist, die dem Gläubiger mit Zinsen vom Tage des
Verzugs zugesprochen wird; denn dadurch, daß der Schuldner die Zahlung
rechtswidrig verzögert, darf er keinen Vorteil, der Gläubiger keinen Nachteil
haben. Diese so überaus klaren und selbstverständlichen Rechtssätze wurden
auch gegen die Versicherungsgesellschaften angewandt, und es ist interessant zu
beobachten, daß diese selbst hier die berechtigten Interessen der Versicherten
durch jene klein gedruckten „allgemeinen Bedingungen" zu schmälern unter¬
nahmen. In den letzten findet man nämlich gewöhnlich eine Bestimmung des
Inhalts: „Die Entschädigungssumme ist dem Versicherten binnen Monatsfrist,
nachdem ihr gesamter Betrag und die Zahlungspflicht der Gesellschaft durch
Anerkenntnis beider Teile, Vergleich oder rechtskräftiges Urteil festgestellt ist,
zu zahlen." Der Versicherungslustige findet, selbst wenn er noch so geschüfts-


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[0544] Zur reichsgesetzlichen Regelung des Versicherungsrechts Auch hier trat indes bald jener oben hervorgehobne Mißstand ein: Zur Beseitigung der dem Gesetz und der Billigkeit entsprechenden Folgerungen nahmen die Gesellschaften in ihre Antragsformulare und in die „allgemeinen Bedingungen" Bestimmungen dahin auf: daß sich die Verpflichtung der Gesell¬ schaft lediglich nach dem Inhalt der Versicherungsurkunde bestimme, und daß sich der Versicherte diesem gegenüber auf mündliche Abmachungen mit dem Agenten so wenig berufen könne, wie auf thatsächliche Abweichungen des Agenten von dem Inhalt der allgemeinen Bedingungen; das heißt mit andern Worten: nicht der wahre Wille, wie er mündlich oder schriftlich vor dem Vertragsschluß zum Ausdruck gekommen ist, soll entscheidend sein, sondern der unvollständig zum Vorteil der Gesellschaft zum Ausdruck gebrachte Wille, und dies selbst dann, wenn nachträglich zweifellos ein entgegengesetzter Wille bethätigt ist, sodaß der Versicherte verständigerweise glauben mußte, der Vertrag sei nachträglich ge¬ ändert. Ob auch unter der Geltung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, das wieder¬ holt hervorhebt, daß die Auslegung von Verträgen und die Erfüllung von Verbindlichkeiten so zu erfolgen habe, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern, derartige Festsetzungen der „allgemeinen Bedingungen" für giltig werden erachtet werden, kann wirklich zweifelhaft sein; eben deshalb empfiehlt es sich, die Zulässigkeit dieser „allgemeinen Bedingungen" schlechthin auszuschließen, um jeder Möglichkeit einer solchen „exorbitanten Jurisprudenz" entgegenzutreten. Z. Nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen kann die Person, die einen be¬ stimmten Schuldbetrag anerkennt, die Zahlung nicht deshalb verweigern, weil der Gläubiger außer diesem unstreitigen Betrag noch einen höhern Betrag ver¬ langt; thut der Schuldner dies dennoch, so gerät er in Zahlungsverzug, sodaß er den anerkannten Betrag sofort zu verzinsen hat; und klagt der Gläubiger nun den gesamten Betrag ein, so wird der Schuldner zur sofortigen Zahlung des von ihm anerkannten, also unstreitigen Betrags durch vollstreckbares Teil¬ urteil verurteilt, sodaß Gegenstand des Rechtsstreits dann nur noch der be- strittne Teil der Forderung ist, die dem Gläubiger mit Zinsen vom Tage des Verzugs zugesprochen wird; denn dadurch, daß der Schuldner die Zahlung rechtswidrig verzögert, darf er keinen Vorteil, der Gläubiger keinen Nachteil haben. Diese so überaus klaren und selbstverständlichen Rechtssätze wurden auch gegen die Versicherungsgesellschaften angewandt, und es ist interessant zu beobachten, daß diese selbst hier die berechtigten Interessen der Versicherten durch jene klein gedruckten „allgemeinen Bedingungen" zu schmälern unter¬ nahmen. In den letzten findet man nämlich gewöhnlich eine Bestimmung des Inhalts: „Die Entschädigungssumme ist dem Versicherten binnen Monatsfrist, nachdem ihr gesamter Betrag und die Zahlungspflicht der Gesellschaft durch Anerkenntnis beider Teile, Vergleich oder rechtskräftiges Urteil festgestellt ist, zu zahlen." Der Versicherungslustige findet, selbst wenn er noch so geschüfts-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/544>, abgerufen am 23.07.2024.