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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Gobineaus Geschichtskonstruktioii

Europa sehen, seit sich die Regierungen besonders auf diesen Zweig der Politik
verlegt haben. Jedenfalls läßt sich das römische Reich nicht damit ver¬
gleichen. Indes muß man auch gestehn, es ist ein Schauspiel ohne Schönheit
und ohne Würde. Wenn diese gelbe Menge friedlich und unterwürfig ist, so
ist sie es unter der Bedingung, daß ihr in alle Ewigkeit die Gefühle, die nicht
eben den allerniedrigsten Interessen der leiblichen Wohlfahrt gelten, versagt
bleiben. Ihre Religion ist ein Abriß von Übungen und Maximen, die durch¬
aus an das erinnern, was die Genfer Moralisten") und ihre Erziehungsbücher
gern als das uso plus ultra des Guten empfehlen: die Sparsamkeit, die Zurück¬
haltung, die Klugheit, die Kunst zu gewinnen und nie zu verlieren. Die
chinesische Höflichkeit ist nur eine Anwendung dieser Grundsätze. Sie ist, um
mich eines englischen Wortes zu bedienen, ein beständiger o-me, der zum
Daseinsgrund keineswegs, wie die Courtoisie unsers Mittelalters, das Wohl¬
wollen des freien Mannes gegen seinesgleichen, die würdevolle Ehrerbietung
gegen die Höhergestellten, die liebevolle Herablassung zu den Niedern hat.
Die chinesische Regierung zeigt sich als große Freundin der Aufklärung; nur
muß man wissen, was sie und die öffentliche Meinung darunter versteht.
Unter den mehr als 300 Millionen Seelen des Reichs der Mitte giebt es sehr
wenige, die nicht für die gewöhnlichen Bedürfnisse des Lebens ausreichend
lesen und schreiben können. Die Fürsorge der Machthaber geht noch weiter.
Sie wollen, daß jeder Unterthan das Gesetz kenne; die Gesetzbücher werden
jedermann zugänglich gemacht, und außerdem werden an jedem Neumond in
öffentlichen Vorlesungen den Unterthanen die Hauptvorschriften eingeprägt.
So ist denn das chinesische Volk ganz gewiß fortgeschrittner als wir Europäer,
was man in manchen Kreisen fortgeschritten nennt. Strenges Gesetz aber ist,
daß nur das Nützliche, und daß nichts Neues gelernt werde. Der Anspruch
eines Studierenden, etwas Neues wissen zu wollen, würde zur Folge haben,
daß er vom Examen zurückgewiesen, und daß ihm, wenn er hartnäckig dabei
bliebe, ein Hochverratsprozeß gemacht würde. Die Liebe zum Mittelmäßigen
ist zum Prinzip erhoben. Das Volk, spricht ein Minister, "ist geeint auf der
goldnen Mittelstraße; diese innezuhalten werden die Menschen durch Züchti¬
gungen gelehrt." Es giebt keinen Studenten, der sich nicht hütete, mehr Geist
zu haben, als sich gehört. Eine Philosophie ist dort nicht möglich, wo die
Gesetze das ganze Leben bis auf die kleinsten Einzelheiten im voraus geregelt
haben, und wo alle materiellen Interessen zusammenwirken, das Denken zu
ersticken. Ihre ganze Litteratur ssoweit sie nicht in leerem Wortkram besteht^
ist Nützlichkeitslitteratur; unter anderm schätzen sie die Statistik. Monumentale
Bauwerke haben sie nicht; sie sind zu gute Rechner, um auf die Errichtung
eines Gebäudes mehr Kapitalien zu verwenden, als nötig ist. Gobineau



*) Mit den Genfer Moralisten sind ohne Zweifel die Kalvinisten gemeint.
Gobineaus Geschichtskonstruktioii

Europa sehen, seit sich die Regierungen besonders auf diesen Zweig der Politik
verlegt haben. Jedenfalls läßt sich das römische Reich nicht damit ver¬
gleichen. Indes muß man auch gestehn, es ist ein Schauspiel ohne Schönheit
und ohne Würde. Wenn diese gelbe Menge friedlich und unterwürfig ist, so
ist sie es unter der Bedingung, daß ihr in alle Ewigkeit die Gefühle, die nicht
eben den allerniedrigsten Interessen der leiblichen Wohlfahrt gelten, versagt
bleiben. Ihre Religion ist ein Abriß von Übungen und Maximen, die durch¬
aus an das erinnern, was die Genfer Moralisten") und ihre Erziehungsbücher
gern als das uso plus ultra des Guten empfehlen: die Sparsamkeit, die Zurück¬
haltung, die Klugheit, die Kunst zu gewinnen und nie zu verlieren. Die
chinesische Höflichkeit ist nur eine Anwendung dieser Grundsätze. Sie ist, um
mich eines englischen Wortes zu bedienen, ein beständiger o-me, der zum
Daseinsgrund keineswegs, wie die Courtoisie unsers Mittelalters, das Wohl¬
wollen des freien Mannes gegen seinesgleichen, die würdevolle Ehrerbietung
gegen die Höhergestellten, die liebevolle Herablassung zu den Niedern hat.
Die chinesische Regierung zeigt sich als große Freundin der Aufklärung; nur
muß man wissen, was sie und die öffentliche Meinung darunter versteht.
Unter den mehr als 300 Millionen Seelen des Reichs der Mitte giebt es sehr
wenige, die nicht für die gewöhnlichen Bedürfnisse des Lebens ausreichend
lesen und schreiben können. Die Fürsorge der Machthaber geht noch weiter.
Sie wollen, daß jeder Unterthan das Gesetz kenne; die Gesetzbücher werden
jedermann zugänglich gemacht, und außerdem werden an jedem Neumond in
öffentlichen Vorlesungen den Unterthanen die Hauptvorschriften eingeprägt.
So ist denn das chinesische Volk ganz gewiß fortgeschrittner als wir Europäer,
was man in manchen Kreisen fortgeschritten nennt. Strenges Gesetz aber ist,
daß nur das Nützliche, und daß nichts Neues gelernt werde. Der Anspruch
eines Studierenden, etwas Neues wissen zu wollen, würde zur Folge haben,
daß er vom Examen zurückgewiesen, und daß ihm, wenn er hartnäckig dabei
bliebe, ein Hochverratsprozeß gemacht würde. Die Liebe zum Mittelmäßigen
ist zum Prinzip erhoben. Das Volk, spricht ein Minister, „ist geeint auf der
goldnen Mittelstraße; diese innezuhalten werden die Menschen durch Züchti¬
gungen gelehrt." Es giebt keinen Studenten, der sich nicht hütete, mehr Geist
zu haben, als sich gehört. Eine Philosophie ist dort nicht möglich, wo die
Gesetze das ganze Leben bis auf die kleinsten Einzelheiten im voraus geregelt
haben, und wo alle materiellen Interessen zusammenwirken, das Denken zu
ersticken. Ihre ganze Litteratur ssoweit sie nicht in leerem Wortkram besteht^
ist Nützlichkeitslitteratur; unter anderm schätzen sie die Statistik. Monumentale
Bauwerke haben sie nicht; sie sind zu gute Rechner, um auf die Errichtung
eines Gebäudes mehr Kapitalien zu verwenden, als nötig ist. Gobineau



*) Mit den Genfer Moralisten sind ohne Zweifel die Kalvinisten gemeint.
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[0536] Gobineaus Geschichtskonstruktioii Europa sehen, seit sich die Regierungen besonders auf diesen Zweig der Politik verlegt haben. Jedenfalls läßt sich das römische Reich nicht damit ver¬ gleichen. Indes muß man auch gestehn, es ist ein Schauspiel ohne Schönheit und ohne Würde. Wenn diese gelbe Menge friedlich und unterwürfig ist, so ist sie es unter der Bedingung, daß ihr in alle Ewigkeit die Gefühle, die nicht eben den allerniedrigsten Interessen der leiblichen Wohlfahrt gelten, versagt bleiben. Ihre Religion ist ein Abriß von Übungen und Maximen, die durch¬ aus an das erinnern, was die Genfer Moralisten") und ihre Erziehungsbücher gern als das uso plus ultra des Guten empfehlen: die Sparsamkeit, die Zurück¬ haltung, die Klugheit, die Kunst zu gewinnen und nie zu verlieren. Die chinesische Höflichkeit ist nur eine Anwendung dieser Grundsätze. Sie ist, um mich eines englischen Wortes zu bedienen, ein beständiger o-me, der zum Daseinsgrund keineswegs, wie die Courtoisie unsers Mittelalters, das Wohl¬ wollen des freien Mannes gegen seinesgleichen, die würdevolle Ehrerbietung gegen die Höhergestellten, die liebevolle Herablassung zu den Niedern hat. Die chinesische Regierung zeigt sich als große Freundin der Aufklärung; nur muß man wissen, was sie und die öffentliche Meinung darunter versteht. Unter den mehr als 300 Millionen Seelen des Reichs der Mitte giebt es sehr wenige, die nicht für die gewöhnlichen Bedürfnisse des Lebens ausreichend lesen und schreiben können. Die Fürsorge der Machthaber geht noch weiter. Sie wollen, daß jeder Unterthan das Gesetz kenne; die Gesetzbücher werden jedermann zugänglich gemacht, und außerdem werden an jedem Neumond in öffentlichen Vorlesungen den Unterthanen die Hauptvorschriften eingeprägt. So ist denn das chinesische Volk ganz gewiß fortgeschrittner als wir Europäer, was man in manchen Kreisen fortgeschritten nennt. Strenges Gesetz aber ist, daß nur das Nützliche, und daß nichts Neues gelernt werde. Der Anspruch eines Studierenden, etwas Neues wissen zu wollen, würde zur Folge haben, daß er vom Examen zurückgewiesen, und daß ihm, wenn er hartnäckig dabei bliebe, ein Hochverratsprozeß gemacht würde. Die Liebe zum Mittelmäßigen ist zum Prinzip erhoben. Das Volk, spricht ein Minister, „ist geeint auf der goldnen Mittelstraße; diese innezuhalten werden die Menschen durch Züchti¬ gungen gelehrt." Es giebt keinen Studenten, der sich nicht hütete, mehr Geist zu haben, als sich gehört. Eine Philosophie ist dort nicht möglich, wo die Gesetze das ganze Leben bis auf die kleinsten Einzelheiten im voraus geregelt haben, und wo alle materiellen Interessen zusammenwirken, das Denken zu ersticken. Ihre ganze Litteratur ssoweit sie nicht in leerem Wortkram besteht^ ist Nützlichkeitslitteratur; unter anderm schätzen sie die Statistik. Monumentale Bauwerke haben sie nicht; sie sind zu gute Rechner, um auf die Errichtung eines Gebäudes mehr Kapitalien zu verwenden, als nötig ist. Gobineau *) Mit den Genfer Moralisten sind ohne Zweifel die Kalvinisten gemeint.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/536>, abgerufen am 23.07.2024.