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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Gobineaus Geschichtskonstruktion

Die Auswanderung der Weißen aus ihrer Urheimat, die um das Jahr
5000 v. Chr. beginnt, ist verursacht worden durch den Druck der gelben
Menschen, die sich, aus ihrer Heimat, Amerika, kommend, über Ostasien aus¬
breiteten und dieses in solchen Massen ausfüllten, daß sie sich trotz ihrer Un-
tüchtigkeit durch bloße Überzahl behaupteten. Durch Mischung mit Schwarzen
bildeten sie im Südosten die malaiische Rasse. Ihre Kultur haben die gelben
Menschen von Kschatrias empfangen, die, unzufrieden mit dem Brahmanismus,
ihr indisches Vaterland verließen und aus Opposition gegen das brahmanische
Kastenwesen in China eine Demokratie verbunden mit einem patriarchalischen
Kaisertum begründeten. Die Charakteristik dieser chinesischen Kultur (S. 322
bis 341) gehört zu den besten Partien des zweiten Bandes und hat in mehr
als einer Beziehung aktuellen Wert; wir geben daher einen Auszug daraus^
möglichst mit den Worten des Verfassers oder vielmehr seines Übersetzers.
Gewiß verlieh das arische Element den Chinesen nicht seine Biegsamkeit, seine
edle Kraft, seinen Hang zur Freiheit, doch befestigte es ihre angeborne Liebe
zur Regel, zur Ordnung, ihren Widerwillen gegen die Ausschweifungen der
Phantasie. Wenn sich ein Herrscher Assyriens zu unerhörter Grausamkeit ver¬
stieg, so litt dadurch freilich das Volk; aber wie erhitzten sich die Köpfe vor
den Bildern seiner Unthaten! Wie gut begriff der semit die leidenschaftlichen
Übertreibungen der Fürstenallmacht, und wie vergrößerte seine verderbte Wild¬
heit in seinen Augen noch deren gigantisches Bild! Ein sanfter und ruhiger
Fürst lief bei ihnen Gefahr, ein Gegenstand der Verachtung zu werden. Nicht
so faßten die Chinesen die Dinge auf. Als höchst prosaischen Geistern war
ihnen alles Übermaß ein Greuel, das öffentliche Gefühl empörte sich dagegen,
und der Monarch, der sich dessen schuldig machte, verlor seinen Nimbus und
vernichtete die Achtung vor seiner Autorität. Man nahm als Grundsatz für
ewige Zeiten an, es müßten, wenn sich der Staat im Normalzustande befinden
solle, vor allem reichliche Lebensmittel vorhanden seien, und jeder sich mit
Nahrung, Kleidung und Wohnung versorgen können; Ackerbau und Industrie
müßten daher unablässig gefördert werden; dazu aber sei eine festgegründete
tiefe Ruhe nötig; daher bedürfe es peinlicher Vorsichtsmaßregeln gegen alles,
was die Bevölkerung aufregen oder die Ordnung stören könnte. Hätte die
schwarze Rasse irgend welchen Einfluß ausgeübt, so würde keine dieser Ord¬
nungen lange vorgehalten haben. Die gelben Völker dagegen begriffen die
Nützlichkeit der Staatsordnung und schützten lebhaft das materielle Glück,
worin man sie begraben wollte. In China war also in Beziehung auf die
Organisation für den materiellen Nutzen der Höhepunkt erreicht, und wenn
wir die Verschiedenheit der Rassen in Anschlag bringen, die ein verschiednes
Verfahren notwendig macht, so kann man, scheint mir, zugeben, daß in dieser
Beziehung das himmlische Reich Resultate erzielt hat, die weit vollkommner
und namentlich weit dauernder sind, als wir sie in den Ländern des modernen


Gobineaus Geschichtskonstruktion

Die Auswanderung der Weißen aus ihrer Urheimat, die um das Jahr
5000 v. Chr. beginnt, ist verursacht worden durch den Druck der gelben
Menschen, die sich, aus ihrer Heimat, Amerika, kommend, über Ostasien aus¬
breiteten und dieses in solchen Massen ausfüllten, daß sie sich trotz ihrer Un-
tüchtigkeit durch bloße Überzahl behaupteten. Durch Mischung mit Schwarzen
bildeten sie im Südosten die malaiische Rasse. Ihre Kultur haben die gelben
Menschen von Kschatrias empfangen, die, unzufrieden mit dem Brahmanismus,
ihr indisches Vaterland verließen und aus Opposition gegen das brahmanische
Kastenwesen in China eine Demokratie verbunden mit einem patriarchalischen
Kaisertum begründeten. Die Charakteristik dieser chinesischen Kultur (S. 322
bis 341) gehört zu den besten Partien des zweiten Bandes und hat in mehr
als einer Beziehung aktuellen Wert; wir geben daher einen Auszug daraus^
möglichst mit den Worten des Verfassers oder vielmehr seines Übersetzers.
Gewiß verlieh das arische Element den Chinesen nicht seine Biegsamkeit, seine
edle Kraft, seinen Hang zur Freiheit, doch befestigte es ihre angeborne Liebe
zur Regel, zur Ordnung, ihren Widerwillen gegen die Ausschweifungen der
Phantasie. Wenn sich ein Herrscher Assyriens zu unerhörter Grausamkeit ver¬
stieg, so litt dadurch freilich das Volk; aber wie erhitzten sich die Köpfe vor
den Bildern seiner Unthaten! Wie gut begriff der semit die leidenschaftlichen
Übertreibungen der Fürstenallmacht, und wie vergrößerte seine verderbte Wild¬
heit in seinen Augen noch deren gigantisches Bild! Ein sanfter und ruhiger
Fürst lief bei ihnen Gefahr, ein Gegenstand der Verachtung zu werden. Nicht
so faßten die Chinesen die Dinge auf. Als höchst prosaischen Geistern war
ihnen alles Übermaß ein Greuel, das öffentliche Gefühl empörte sich dagegen,
und der Monarch, der sich dessen schuldig machte, verlor seinen Nimbus und
vernichtete die Achtung vor seiner Autorität. Man nahm als Grundsatz für
ewige Zeiten an, es müßten, wenn sich der Staat im Normalzustande befinden
solle, vor allem reichliche Lebensmittel vorhanden seien, und jeder sich mit
Nahrung, Kleidung und Wohnung versorgen können; Ackerbau und Industrie
müßten daher unablässig gefördert werden; dazu aber sei eine festgegründete
tiefe Ruhe nötig; daher bedürfe es peinlicher Vorsichtsmaßregeln gegen alles,
was die Bevölkerung aufregen oder die Ordnung stören könnte. Hätte die
schwarze Rasse irgend welchen Einfluß ausgeübt, so würde keine dieser Ord¬
nungen lange vorgehalten haben. Die gelben Völker dagegen begriffen die
Nützlichkeit der Staatsordnung und schützten lebhaft das materielle Glück,
worin man sie begraben wollte. In China war also in Beziehung auf die
Organisation für den materiellen Nutzen der Höhepunkt erreicht, und wenn
wir die Verschiedenheit der Rassen in Anschlag bringen, die ein verschiednes
Verfahren notwendig macht, so kann man, scheint mir, zugeben, daß in dieser
Beziehung das himmlische Reich Resultate erzielt hat, die weit vollkommner
und namentlich weit dauernder sind, als wir sie in den Ländern des modernen


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[0535] Gobineaus Geschichtskonstruktion Die Auswanderung der Weißen aus ihrer Urheimat, die um das Jahr 5000 v. Chr. beginnt, ist verursacht worden durch den Druck der gelben Menschen, die sich, aus ihrer Heimat, Amerika, kommend, über Ostasien aus¬ breiteten und dieses in solchen Massen ausfüllten, daß sie sich trotz ihrer Un- tüchtigkeit durch bloße Überzahl behaupteten. Durch Mischung mit Schwarzen bildeten sie im Südosten die malaiische Rasse. Ihre Kultur haben die gelben Menschen von Kschatrias empfangen, die, unzufrieden mit dem Brahmanismus, ihr indisches Vaterland verließen und aus Opposition gegen das brahmanische Kastenwesen in China eine Demokratie verbunden mit einem patriarchalischen Kaisertum begründeten. Die Charakteristik dieser chinesischen Kultur (S. 322 bis 341) gehört zu den besten Partien des zweiten Bandes und hat in mehr als einer Beziehung aktuellen Wert; wir geben daher einen Auszug daraus^ möglichst mit den Worten des Verfassers oder vielmehr seines Übersetzers. Gewiß verlieh das arische Element den Chinesen nicht seine Biegsamkeit, seine edle Kraft, seinen Hang zur Freiheit, doch befestigte es ihre angeborne Liebe zur Regel, zur Ordnung, ihren Widerwillen gegen die Ausschweifungen der Phantasie. Wenn sich ein Herrscher Assyriens zu unerhörter Grausamkeit ver¬ stieg, so litt dadurch freilich das Volk; aber wie erhitzten sich die Köpfe vor den Bildern seiner Unthaten! Wie gut begriff der semit die leidenschaftlichen Übertreibungen der Fürstenallmacht, und wie vergrößerte seine verderbte Wild¬ heit in seinen Augen noch deren gigantisches Bild! Ein sanfter und ruhiger Fürst lief bei ihnen Gefahr, ein Gegenstand der Verachtung zu werden. Nicht so faßten die Chinesen die Dinge auf. Als höchst prosaischen Geistern war ihnen alles Übermaß ein Greuel, das öffentliche Gefühl empörte sich dagegen, und der Monarch, der sich dessen schuldig machte, verlor seinen Nimbus und vernichtete die Achtung vor seiner Autorität. Man nahm als Grundsatz für ewige Zeiten an, es müßten, wenn sich der Staat im Normalzustande befinden solle, vor allem reichliche Lebensmittel vorhanden seien, und jeder sich mit Nahrung, Kleidung und Wohnung versorgen können; Ackerbau und Industrie müßten daher unablässig gefördert werden; dazu aber sei eine festgegründete tiefe Ruhe nötig; daher bedürfe es peinlicher Vorsichtsmaßregeln gegen alles, was die Bevölkerung aufregen oder die Ordnung stören könnte. Hätte die schwarze Rasse irgend welchen Einfluß ausgeübt, so würde keine dieser Ord¬ nungen lange vorgehalten haben. Die gelben Völker dagegen begriffen die Nützlichkeit der Staatsordnung und schützten lebhaft das materielle Glück, worin man sie begraben wollte. In China war also in Beziehung auf die Organisation für den materiellen Nutzen der Höhepunkt erreicht, und wenn wir die Verschiedenheit der Rassen in Anschlag bringen, die ein verschiednes Verfahren notwendig macht, so kann man, scheint mir, zugeben, daß in dieser Beziehung das himmlische Reich Resultate erzielt hat, die weit vollkommner und namentlich weit dauernder sind, als wir sie in den Ländern des modernen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/535>, abgerufen am 23.07.2024.