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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Gobineaus Geschichtskonstruktion

die das Menschengeschlecht nicht mit Wildheit beginnen läßt. Die Menschen
der Bibel, insbesondre die Noachiden, sind nämlich allesamt Weiße; die
schwarzen und die gelben Menschen stehn außerhalb des Gesichtskreises der
biblischen Überlieferung, nur Neste von einer schwarzen Urbevölkerung, die
nicht zum Noachidenstcimme gehört, werden hie und da erwähnt. Die Hannen
waren jener erste Weiße Stamm, der in die Euphratebne hinabstieg. Sie unter¬
jochten deren schwarze Bevölkerung, von der sie als Götter angebetet wurden,
und richteten eine Herrschaft auf, die bei der Beschaffenheit des zu bändigenden
Gestndels nicht anders als despotisch ausfallen konnte. Allmählich vermischten
sie sich mit den Schwarzen, und da diese die Mehrheit waren, so verschwand
die weiße Farbe allmählich ganz, und die Bewohner des Euphratgebiets wurden
allmählich schwarz. Diese Mulattenbevölkerung erzeugte nun eine Kultur, deren
Gemisch von wüster Phantasie und ordnenden Verstände, von scheußlichem
Götzendienst und nützlichen Künsten, von sinnlicher Pracht und auf der Unter¬
würfigkeit der Massen beruhender stolzer Würde auf die spätern Weißen An¬
kömmlinge einen überwältigenden Eindruck machte. Dieser zweite Einwandrer¬
strom bestand aus den Semiten,*) von denen sich ein Teil über Armenien nach
Kleinasien ergoß. "Die Lycier, die Lyder, die Karier gehören dieser Völker¬
familie an. Ihre Kolonisten bemächtigten sich Kretas, von wo sie später zurück¬
kamen und unter dem Namen Philister die Cykladen, Thera, Melos, Cythera
und Thracien besetzten. Sie breiteten sich im gesamten Umkreise der Propontis,
in Troas, längs des griechischen Küstenlandes aus und gelangten nach Malta,
den liparischen Inseln und Sizilien." Die Semiten unterjochten die un¬
kriegerisch gewordnen Hannen und nahmen deren Kultur an, die ihnen so
stark imponierte. Dem phönizischen Zweige der Hannen dienten die semitischen
Karier, Pisidier, Cilicier, Philister als Söldner. Die Semiten regenerierten
die Mulattenbevölkerung einigermaßen und gingen nicht so vollständig wie die
Hannen im schwarzen Blute unter. Es stimmt nicht recht zur Grundansicht
Gobineaus, daß er die demokratische Bewegung der phönizischen Handelsstädte,
deren sich die "hamitischen" Aristokraten durch Aussendung von Kolonisten zu
erwehren suchte, auf semitische Einwanderung zurückführt. Schließlich mußte
die Aristokratie das Feld räumen und sich eine neue Heimat gründen; in
Karthago hat nach Gobineau das echte Hamitentum fortgelebt. Eine dritte
Welle der weißen Völkerflut brach um 1800 v. Chr. in das Thal des Tigris
ein. Sie bestand in den Mediern, die man als die letzten der Semiten oder
als die ersten auf dem Schauplatze der Geschichte erscheinenden Arier bezeichnen
kann. Sie unterjochten vorübergehend Assyrien, waren aber wegen ihrer ge¬
ringen Zahl nicht stark genug, die Herrschaft zu behaupten. Doch hat diese



Jedermann weiß, daß heute die Geschichte Babuloniens in den Lehrbüchern, deren Ver¬
fasser doch wohl aus den besten Quellen geschöpft haben, ganz anders erzählt wird.
Gobineaus Geschichtskonstruktion

die das Menschengeschlecht nicht mit Wildheit beginnen läßt. Die Menschen
der Bibel, insbesondre die Noachiden, sind nämlich allesamt Weiße; die
schwarzen und die gelben Menschen stehn außerhalb des Gesichtskreises der
biblischen Überlieferung, nur Neste von einer schwarzen Urbevölkerung, die
nicht zum Noachidenstcimme gehört, werden hie und da erwähnt. Die Hannen
waren jener erste Weiße Stamm, der in die Euphratebne hinabstieg. Sie unter¬
jochten deren schwarze Bevölkerung, von der sie als Götter angebetet wurden,
und richteten eine Herrschaft auf, die bei der Beschaffenheit des zu bändigenden
Gestndels nicht anders als despotisch ausfallen konnte. Allmählich vermischten
sie sich mit den Schwarzen, und da diese die Mehrheit waren, so verschwand
die weiße Farbe allmählich ganz, und die Bewohner des Euphratgebiets wurden
allmählich schwarz. Diese Mulattenbevölkerung erzeugte nun eine Kultur, deren
Gemisch von wüster Phantasie und ordnenden Verstände, von scheußlichem
Götzendienst und nützlichen Künsten, von sinnlicher Pracht und auf der Unter¬
würfigkeit der Massen beruhender stolzer Würde auf die spätern Weißen An¬
kömmlinge einen überwältigenden Eindruck machte. Dieser zweite Einwandrer¬
strom bestand aus den Semiten,*) von denen sich ein Teil über Armenien nach
Kleinasien ergoß. „Die Lycier, die Lyder, die Karier gehören dieser Völker¬
familie an. Ihre Kolonisten bemächtigten sich Kretas, von wo sie später zurück¬
kamen und unter dem Namen Philister die Cykladen, Thera, Melos, Cythera
und Thracien besetzten. Sie breiteten sich im gesamten Umkreise der Propontis,
in Troas, längs des griechischen Küstenlandes aus und gelangten nach Malta,
den liparischen Inseln und Sizilien." Die Semiten unterjochten die un¬
kriegerisch gewordnen Hannen und nahmen deren Kultur an, die ihnen so
stark imponierte. Dem phönizischen Zweige der Hannen dienten die semitischen
Karier, Pisidier, Cilicier, Philister als Söldner. Die Semiten regenerierten
die Mulattenbevölkerung einigermaßen und gingen nicht so vollständig wie die
Hannen im schwarzen Blute unter. Es stimmt nicht recht zur Grundansicht
Gobineaus, daß er die demokratische Bewegung der phönizischen Handelsstädte,
deren sich die „hamitischen" Aristokraten durch Aussendung von Kolonisten zu
erwehren suchte, auf semitische Einwanderung zurückführt. Schließlich mußte
die Aristokratie das Feld räumen und sich eine neue Heimat gründen; in
Karthago hat nach Gobineau das echte Hamitentum fortgelebt. Eine dritte
Welle der weißen Völkerflut brach um 1800 v. Chr. in das Thal des Tigris
ein. Sie bestand in den Mediern, die man als die letzten der Semiten oder
als die ersten auf dem Schauplatze der Geschichte erscheinenden Arier bezeichnen
kann. Sie unterjochten vorübergehend Assyrien, waren aber wegen ihrer ge¬
ringen Zahl nicht stark genug, die Herrschaft zu behaupten. Doch hat diese



Jedermann weiß, daß heute die Geschichte Babuloniens in den Lehrbüchern, deren Ver¬
fasser doch wohl aus den besten Quellen geschöpft haben, ganz anders erzählt wird.
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[0533] Gobineaus Geschichtskonstruktion die das Menschengeschlecht nicht mit Wildheit beginnen läßt. Die Menschen der Bibel, insbesondre die Noachiden, sind nämlich allesamt Weiße; die schwarzen und die gelben Menschen stehn außerhalb des Gesichtskreises der biblischen Überlieferung, nur Neste von einer schwarzen Urbevölkerung, die nicht zum Noachidenstcimme gehört, werden hie und da erwähnt. Die Hannen waren jener erste Weiße Stamm, der in die Euphratebne hinabstieg. Sie unter¬ jochten deren schwarze Bevölkerung, von der sie als Götter angebetet wurden, und richteten eine Herrschaft auf, die bei der Beschaffenheit des zu bändigenden Gestndels nicht anders als despotisch ausfallen konnte. Allmählich vermischten sie sich mit den Schwarzen, und da diese die Mehrheit waren, so verschwand die weiße Farbe allmählich ganz, und die Bewohner des Euphratgebiets wurden allmählich schwarz. Diese Mulattenbevölkerung erzeugte nun eine Kultur, deren Gemisch von wüster Phantasie und ordnenden Verstände, von scheußlichem Götzendienst und nützlichen Künsten, von sinnlicher Pracht und auf der Unter¬ würfigkeit der Massen beruhender stolzer Würde auf die spätern Weißen An¬ kömmlinge einen überwältigenden Eindruck machte. Dieser zweite Einwandrer¬ strom bestand aus den Semiten,*) von denen sich ein Teil über Armenien nach Kleinasien ergoß. „Die Lycier, die Lyder, die Karier gehören dieser Völker¬ familie an. Ihre Kolonisten bemächtigten sich Kretas, von wo sie später zurück¬ kamen und unter dem Namen Philister die Cykladen, Thera, Melos, Cythera und Thracien besetzten. Sie breiteten sich im gesamten Umkreise der Propontis, in Troas, längs des griechischen Küstenlandes aus und gelangten nach Malta, den liparischen Inseln und Sizilien." Die Semiten unterjochten die un¬ kriegerisch gewordnen Hannen und nahmen deren Kultur an, die ihnen so stark imponierte. Dem phönizischen Zweige der Hannen dienten die semitischen Karier, Pisidier, Cilicier, Philister als Söldner. Die Semiten regenerierten die Mulattenbevölkerung einigermaßen und gingen nicht so vollständig wie die Hannen im schwarzen Blute unter. Es stimmt nicht recht zur Grundansicht Gobineaus, daß er die demokratische Bewegung der phönizischen Handelsstädte, deren sich die „hamitischen" Aristokraten durch Aussendung von Kolonisten zu erwehren suchte, auf semitische Einwanderung zurückführt. Schließlich mußte die Aristokratie das Feld räumen und sich eine neue Heimat gründen; in Karthago hat nach Gobineau das echte Hamitentum fortgelebt. Eine dritte Welle der weißen Völkerflut brach um 1800 v. Chr. in das Thal des Tigris ein. Sie bestand in den Mediern, die man als die letzten der Semiten oder als die ersten auf dem Schauplatze der Geschichte erscheinenden Arier bezeichnen kann. Sie unterjochten vorübergehend Assyrien, waren aber wegen ihrer ge¬ ringen Zahl nicht stark genug, die Herrschaft zu behaupten. Doch hat diese Jedermann weiß, daß heute die Geschichte Babuloniens in den Lehrbüchern, deren Ver¬ fasser doch wohl aus den besten Quellen geschöpft haben, ganz anders erzählt wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/533>, abgerufen am 23.07.2024.