Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Einige Bedenken über die Politik der konservativen Partei

müde wird, ein immer freundlicheres Verhältnis der sozialen Klassen unter sich
anzubahnen und auszugestalten. Die Sünde aber, die zum Verderben sührt,
ist nichts andres als die Überhebung, die L/?^>es der Griechen, die Zuversicht
auf ererbte Stellung und angeborne Vorzüge, das Trotzen auf Rechte, die
formell unantastbar sind, aber materiell doch immer von neuem erworben
werden, ihre Kraft und Berechtigung bewähren müßten.

Alles dies beweist, daß im Brennpunkt der konservativen Politik ideale
Ziele stehn sollten, nicht aber Forderungen, die fast ausschließlich materiellen
Besitz und Gewinn betreffen und sich im starren Festhalten gegenwärtiger Ver¬
hältnisse, gegenwärtiger Machtverteilung erschöpfen. Je mehr Freiheit für Ver¬
sammlungen und Vereine man gewährt, desto mehr Gelegenheit schafft man
einerseits zur Aufklärung und Versöhnung der Arbeitermassen, zur Bekämpfung
falscher Vorstellungen und Vorurteile, und andrerseits zur Abwirtschaftung der
Sozialdemokratie, die von der Agitation, von unhaltbaren Versprechungen,
vom Hinterslichtführen der Massen lebt und sich im vollen Glänze der Öffent¬
lichkeit notwendig zu einer bürgerlichen Partei mausern, sich von ihren unauf¬
richtigen oder unmögliche Ziele verfolgenden Führern lossagen muß. Man
darf die Sozialdemokratie und die von ihr drohenden Gefahren nicht unter¬
schätzen, aber ebenso verkehrt würde es sein, ihr mit blasser Furcht gegenüber
zu stehn, mit einer Furcht, die einerseits dem Feinde nur den Mut stählt und
seine Führer noch lauter ein unberechtigtes, aber nicht eindrucksloses Selbst¬
bewußtsein zur Schau trage" heißt, und die andrerseits zu reinen Unter¬
drückungsmaßregeln verleitet, die jedes Sicherheitsventil verstopfen und eine
Explosion nur fördern können, und die endlich das Vertrauen auf die eigne
Sache und die gewiß doch unumstößliche Überzeugung von der Aussichtslosigkeit
der Sozialdemokratie in eigentümlichem Lichte erscheinen läßt. Zur Bekämpfung
der Sozialdemokratie genügen nicht große Worte, nein, dazu bedarf es unver¬
drossener Kleinarbeit überall, die ohne Schlagworte, aber wirksam und un¬
merklich fortschreitet, "die zu dem Bau der Ewigkeiten zwar Sandkorn nur
für Sandkorn reicht, doch von der großen Schuld der Zeiten Minuten, Tage,
Jahre streicht."

Nur die Furcht vor der Sozialdemokratie stützt das Dreiklassenwahlsystem,
wenigstens ist sie es gewesen, die ihm in den Verhandlungen des Provinzial-
lcmdtags in Kassel für das Gemeindewahlrecht in Hessen-Nassau zum Siege
verholfen hat. Sie allein, scheint es, hindert eine zeitgemäße Wahlrechtsreform
in Preußen. Und doch muß eine solche im Namen der Gerechtigkeit gefordert
werden. Nicht die Besorgnis, der konservative Einfluß könnte sich vorüber¬
gehend mindern, wenn die plutokratische Verschiebung des Dreiklassenwahl¬
systems gemildert oder aufgehoben würde, darf hier entscheiden. Das wäre
eine kurzsichtige Politik. "Gerechtigkeit erhöht ein Volk."

Konservative Politik sollte sich Schlagworte fernhalten. Aber die Konser-


Einige Bedenken über die Politik der konservativen Partei

müde wird, ein immer freundlicheres Verhältnis der sozialen Klassen unter sich
anzubahnen und auszugestalten. Die Sünde aber, die zum Verderben sührt,
ist nichts andres als die Überhebung, die L/?^>es der Griechen, die Zuversicht
auf ererbte Stellung und angeborne Vorzüge, das Trotzen auf Rechte, die
formell unantastbar sind, aber materiell doch immer von neuem erworben
werden, ihre Kraft und Berechtigung bewähren müßten.

Alles dies beweist, daß im Brennpunkt der konservativen Politik ideale
Ziele stehn sollten, nicht aber Forderungen, die fast ausschließlich materiellen
Besitz und Gewinn betreffen und sich im starren Festhalten gegenwärtiger Ver¬
hältnisse, gegenwärtiger Machtverteilung erschöpfen. Je mehr Freiheit für Ver¬
sammlungen und Vereine man gewährt, desto mehr Gelegenheit schafft man
einerseits zur Aufklärung und Versöhnung der Arbeitermassen, zur Bekämpfung
falscher Vorstellungen und Vorurteile, und andrerseits zur Abwirtschaftung der
Sozialdemokratie, die von der Agitation, von unhaltbaren Versprechungen,
vom Hinterslichtführen der Massen lebt und sich im vollen Glänze der Öffent¬
lichkeit notwendig zu einer bürgerlichen Partei mausern, sich von ihren unauf¬
richtigen oder unmögliche Ziele verfolgenden Führern lossagen muß. Man
darf die Sozialdemokratie und die von ihr drohenden Gefahren nicht unter¬
schätzen, aber ebenso verkehrt würde es sein, ihr mit blasser Furcht gegenüber
zu stehn, mit einer Furcht, die einerseits dem Feinde nur den Mut stählt und
seine Führer noch lauter ein unberechtigtes, aber nicht eindrucksloses Selbst¬
bewußtsein zur Schau trage» heißt, und die andrerseits zu reinen Unter¬
drückungsmaßregeln verleitet, die jedes Sicherheitsventil verstopfen und eine
Explosion nur fördern können, und die endlich das Vertrauen auf die eigne
Sache und die gewiß doch unumstößliche Überzeugung von der Aussichtslosigkeit
der Sozialdemokratie in eigentümlichem Lichte erscheinen läßt. Zur Bekämpfung
der Sozialdemokratie genügen nicht große Worte, nein, dazu bedarf es unver¬
drossener Kleinarbeit überall, die ohne Schlagworte, aber wirksam und un¬
merklich fortschreitet, „die zu dem Bau der Ewigkeiten zwar Sandkorn nur
für Sandkorn reicht, doch von der großen Schuld der Zeiten Minuten, Tage,
Jahre streicht."

Nur die Furcht vor der Sozialdemokratie stützt das Dreiklassenwahlsystem,
wenigstens ist sie es gewesen, die ihm in den Verhandlungen des Provinzial-
lcmdtags in Kassel für das Gemeindewahlrecht in Hessen-Nassau zum Siege
verholfen hat. Sie allein, scheint es, hindert eine zeitgemäße Wahlrechtsreform
in Preußen. Und doch muß eine solche im Namen der Gerechtigkeit gefordert
werden. Nicht die Besorgnis, der konservative Einfluß könnte sich vorüber¬
gehend mindern, wenn die plutokratische Verschiebung des Dreiklassenwahl¬
systems gemildert oder aufgehoben würde, darf hier entscheiden. Das wäre
eine kurzsichtige Politik. „Gerechtigkeit erhöht ein Volk."

Konservative Politik sollte sich Schlagworte fernhalten. Aber die Konser-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0482" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230168"/>
          <fw type="header" place="top"> Einige Bedenken über die Politik der konservativen Partei</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1970" prev="#ID_1969"> müde wird, ein immer freundlicheres Verhältnis der sozialen Klassen unter sich<lb/>
anzubahnen und auszugestalten. Die Sünde aber, die zum Verderben sührt,<lb/>
ist nichts andres als die Überhebung, die L/?^&gt;es der Griechen, die Zuversicht<lb/>
auf ererbte Stellung und angeborne Vorzüge, das Trotzen auf Rechte, die<lb/>
formell unantastbar sind, aber materiell doch immer von neuem erworben<lb/>
werden, ihre Kraft und Berechtigung bewähren müßten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1971"> Alles dies beweist, daß im Brennpunkt der konservativen Politik ideale<lb/>
Ziele stehn sollten, nicht aber Forderungen, die fast ausschließlich materiellen<lb/>
Besitz und Gewinn betreffen und sich im starren Festhalten gegenwärtiger Ver¬<lb/>
hältnisse, gegenwärtiger Machtverteilung erschöpfen. Je mehr Freiheit für Ver¬<lb/>
sammlungen und Vereine man gewährt, desto mehr Gelegenheit schafft man<lb/>
einerseits zur Aufklärung und Versöhnung der Arbeitermassen, zur Bekämpfung<lb/>
falscher Vorstellungen und Vorurteile, und andrerseits zur Abwirtschaftung der<lb/>
Sozialdemokratie, die von der Agitation, von unhaltbaren Versprechungen,<lb/>
vom Hinterslichtführen der Massen lebt und sich im vollen Glänze der Öffent¬<lb/>
lichkeit notwendig zu einer bürgerlichen Partei mausern, sich von ihren unauf¬<lb/>
richtigen oder unmögliche Ziele verfolgenden Führern lossagen muß. Man<lb/>
darf die Sozialdemokratie und die von ihr drohenden Gefahren nicht unter¬<lb/>
schätzen, aber ebenso verkehrt würde es sein, ihr mit blasser Furcht gegenüber<lb/>
zu stehn, mit einer Furcht, die einerseits dem Feinde nur den Mut stählt und<lb/>
seine Führer noch lauter ein unberechtigtes, aber nicht eindrucksloses Selbst¬<lb/>
bewußtsein zur Schau trage» heißt, und die andrerseits zu reinen Unter¬<lb/>
drückungsmaßregeln verleitet, die jedes Sicherheitsventil verstopfen und eine<lb/>
Explosion nur fördern können, und die endlich das Vertrauen auf die eigne<lb/>
Sache und die gewiß doch unumstößliche Überzeugung von der Aussichtslosigkeit<lb/>
der Sozialdemokratie in eigentümlichem Lichte erscheinen läßt. Zur Bekämpfung<lb/>
der Sozialdemokratie genügen nicht große Worte, nein, dazu bedarf es unver¬<lb/>
drossener Kleinarbeit überall, die ohne Schlagworte, aber wirksam und un¬<lb/>
merklich fortschreitet, &#x201E;die zu dem Bau der Ewigkeiten zwar Sandkorn nur<lb/>
für Sandkorn reicht, doch von der großen Schuld der Zeiten Minuten, Tage,<lb/>
Jahre streicht."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1972"> Nur die Furcht vor der Sozialdemokratie stützt das Dreiklassenwahlsystem,<lb/>
wenigstens ist sie es gewesen, die ihm in den Verhandlungen des Provinzial-<lb/>
lcmdtags in Kassel für das Gemeindewahlrecht in Hessen-Nassau zum Siege<lb/>
verholfen hat. Sie allein, scheint es, hindert eine zeitgemäße Wahlrechtsreform<lb/>
in Preußen. Und doch muß eine solche im Namen der Gerechtigkeit gefordert<lb/>
werden. Nicht die Besorgnis, der konservative Einfluß könnte sich vorüber¬<lb/>
gehend mindern, wenn die plutokratische Verschiebung des Dreiklassenwahl¬<lb/>
systems gemildert oder aufgehoben würde, darf hier entscheiden. Das wäre<lb/>
eine kurzsichtige Politik.  &#x201E;Gerechtigkeit erhöht ein Volk."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1973" next="#ID_1974"> Konservative Politik sollte sich Schlagworte fernhalten. Aber die Konser-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0482] Einige Bedenken über die Politik der konservativen Partei müde wird, ein immer freundlicheres Verhältnis der sozialen Klassen unter sich anzubahnen und auszugestalten. Die Sünde aber, die zum Verderben sührt, ist nichts andres als die Überhebung, die L/?^>es der Griechen, die Zuversicht auf ererbte Stellung und angeborne Vorzüge, das Trotzen auf Rechte, die formell unantastbar sind, aber materiell doch immer von neuem erworben werden, ihre Kraft und Berechtigung bewähren müßten. Alles dies beweist, daß im Brennpunkt der konservativen Politik ideale Ziele stehn sollten, nicht aber Forderungen, die fast ausschließlich materiellen Besitz und Gewinn betreffen und sich im starren Festhalten gegenwärtiger Ver¬ hältnisse, gegenwärtiger Machtverteilung erschöpfen. Je mehr Freiheit für Ver¬ sammlungen und Vereine man gewährt, desto mehr Gelegenheit schafft man einerseits zur Aufklärung und Versöhnung der Arbeitermassen, zur Bekämpfung falscher Vorstellungen und Vorurteile, und andrerseits zur Abwirtschaftung der Sozialdemokratie, die von der Agitation, von unhaltbaren Versprechungen, vom Hinterslichtführen der Massen lebt und sich im vollen Glänze der Öffent¬ lichkeit notwendig zu einer bürgerlichen Partei mausern, sich von ihren unauf¬ richtigen oder unmögliche Ziele verfolgenden Führern lossagen muß. Man darf die Sozialdemokratie und die von ihr drohenden Gefahren nicht unter¬ schätzen, aber ebenso verkehrt würde es sein, ihr mit blasser Furcht gegenüber zu stehn, mit einer Furcht, die einerseits dem Feinde nur den Mut stählt und seine Führer noch lauter ein unberechtigtes, aber nicht eindrucksloses Selbst¬ bewußtsein zur Schau trage» heißt, und die andrerseits zu reinen Unter¬ drückungsmaßregeln verleitet, die jedes Sicherheitsventil verstopfen und eine Explosion nur fördern können, und die endlich das Vertrauen auf die eigne Sache und die gewiß doch unumstößliche Überzeugung von der Aussichtslosigkeit der Sozialdemokratie in eigentümlichem Lichte erscheinen läßt. Zur Bekämpfung der Sozialdemokratie genügen nicht große Worte, nein, dazu bedarf es unver¬ drossener Kleinarbeit überall, die ohne Schlagworte, aber wirksam und un¬ merklich fortschreitet, „die zu dem Bau der Ewigkeiten zwar Sandkorn nur für Sandkorn reicht, doch von der großen Schuld der Zeiten Minuten, Tage, Jahre streicht." Nur die Furcht vor der Sozialdemokratie stützt das Dreiklassenwahlsystem, wenigstens ist sie es gewesen, die ihm in den Verhandlungen des Provinzial- lcmdtags in Kassel für das Gemeindewahlrecht in Hessen-Nassau zum Siege verholfen hat. Sie allein, scheint es, hindert eine zeitgemäße Wahlrechtsreform in Preußen. Und doch muß eine solche im Namen der Gerechtigkeit gefordert werden. Nicht die Besorgnis, der konservative Einfluß könnte sich vorüber¬ gehend mindern, wenn die plutokratische Verschiebung des Dreiklassenwahl¬ systems gemildert oder aufgehoben würde, darf hier entscheiden. Das wäre eine kurzsichtige Politik. „Gerechtigkeit erhöht ein Volk." Konservative Politik sollte sich Schlagworte fernhalten. Aber die Konser-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/482
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/482>, abgerufen am 23.07.2024.