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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Einige Bedenken über die Politik der konservativen Partei

empfohlen waren. Den Grundsatz des Allgemeinen Landrechts, daß allen in
genügender Weise für den Staatsdienst Vorbereiteten alle Ämter gleich zu¬
gänglich sein sollten, wollte man leichten Herzens fallen lassen; man trug kein
Bedenken, eine gesetzliche Bestimmung vorzuschlagen, die der Willkür Thür
und Thor zu öffnen und zu einer Bevorzugung nicht nur der Geburth- und
Geldaristokratie, sondern zu einer völligen Abschließung ganzer Volkskreise zu
führen geeignet war, die nur zu leicht zur Proletarisierung zahlreicher tüchtiger
Kräfte, zur Schulung von Unzufriedenheit und noch schlimmeren hätte aus¬
schlagen können. Und doch ist es gerade die Stärke des deutschen Beamten¬
tums, daß es sich, aus allen Schichten der Bevölkerung ergänzend, ohne
ausschließliche Verbindung mit einzelnen Berufskreisen des Nährstands allezeit
als unabhängig, als Vollstrecker ausgleichender Gerechtigkeit, als Hort des
über allen Partei- und Wirtschaftsinteressen waltenden Staatsgedankens be¬
währt hat.

Reaktionär im vollsten Sinne erschien die Stellung der konservativen
Fraktion zu den in erster Reihe auf ihr Betreiben zu stände gekommenen
neuen Gcmeindeverfassungsgesetzen für Hessen-Nassau: keine Spur von dem Be¬
streben, berechtigte Eigentümlichkeiten der Provinz zu Pflegen und zu schützen,
das sich die konservative Vereinigung der Provinz Hannover zur Hauptaufgabe
gesetzt hat. Den konservativen Abgeordneten aus dem Regierungsbezirk Kassel,
allerdings mit einer rühmlichen Ausnahme, erschien die mustergiltige Gemeinde¬
ordnung für Kurhessen von 1834, freilich das Kind einer politisch bewegten
Zeit, aber nächstverwandt mit der Steinschen preußischen Städteordnung, als
ein radikales, zumal den Großgrundbesitz nicht befriedigendes Gesetz; galt doch
nach ihr gleiches direktes Gemeindewahlrecht für alle Ortsbürger, ob Gro߬
grundbesitzer oder kleine Bauern -- nur die Wählbarkeit war insofern weise
beschränkt, als ein beträchtlicher Teil der Gemeindevcrtreter (Vürgerausschuß)
aus den Höchstbesteuerten und die Mehrheit aus den Hausbesitzern genommen
werden mußte; führte man aber "das elendeste aller Wahlsysteme," das Drei¬
klassenwahlrecht ein, so gebot der Großgrundbesitzer auf dem Lande leicht über
ein Drittel der Stimmen, während er nach dem hessischen System nur als
Höchstbesteuerter in Frage kam und bestenfalls in der Gemeindevertretung nur
eine von vielen Stimmen hatte. Mit diesen Erwägungen war das Schicksal
des Gemeindewahlrechts entschieden, verlor die letzte hessische Eigentümlichkeit
für die Konservativen ihre Berechtigung.

An einen Widerspruch wurde umsoweniger gedacht, als ein Fraktions¬
genosse das Gesetz ausgearbeitet hatte, ein Umstand, der die sonst gerühmte
grundsätzliche Würdigung von Gesetzvorlagen ohne Haß und Gunst, ohne
Rücksicht auf die Persönlichkeit ihres Urhebers in ein seltsames Licht rückte.
Freilich, wenn von konservativer Seite offiziell immer betont wird, bei Be¬
urteilung der Regierungsvorlagen lasse man persönliche Rücksicht beiseite, so


Einige Bedenken über die Politik der konservativen Partei

empfohlen waren. Den Grundsatz des Allgemeinen Landrechts, daß allen in
genügender Weise für den Staatsdienst Vorbereiteten alle Ämter gleich zu¬
gänglich sein sollten, wollte man leichten Herzens fallen lassen; man trug kein
Bedenken, eine gesetzliche Bestimmung vorzuschlagen, die der Willkür Thür
und Thor zu öffnen und zu einer Bevorzugung nicht nur der Geburth- und
Geldaristokratie, sondern zu einer völligen Abschließung ganzer Volkskreise zu
führen geeignet war, die nur zu leicht zur Proletarisierung zahlreicher tüchtiger
Kräfte, zur Schulung von Unzufriedenheit und noch schlimmeren hätte aus¬
schlagen können. Und doch ist es gerade die Stärke des deutschen Beamten¬
tums, daß es sich, aus allen Schichten der Bevölkerung ergänzend, ohne
ausschließliche Verbindung mit einzelnen Berufskreisen des Nährstands allezeit
als unabhängig, als Vollstrecker ausgleichender Gerechtigkeit, als Hort des
über allen Partei- und Wirtschaftsinteressen waltenden Staatsgedankens be¬
währt hat.

Reaktionär im vollsten Sinne erschien die Stellung der konservativen
Fraktion zu den in erster Reihe auf ihr Betreiben zu stände gekommenen
neuen Gcmeindeverfassungsgesetzen für Hessen-Nassau: keine Spur von dem Be¬
streben, berechtigte Eigentümlichkeiten der Provinz zu Pflegen und zu schützen,
das sich die konservative Vereinigung der Provinz Hannover zur Hauptaufgabe
gesetzt hat. Den konservativen Abgeordneten aus dem Regierungsbezirk Kassel,
allerdings mit einer rühmlichen Ausnahme, erschien die mustergiltige Gemeinde¬
ordnung für Kurhessen von 1834, freilich das Kind einer politisch bewegten
Zeit, aber nächstverwandt mit der Steinschen preußischen Städteordnung, als
ein radikales, zumal den Großgrundbesitz nicht befriedigendes Gesetz; galt doch
nach ihr gleiches direktes Gemeindewahlrecht für alle Ortsbürger, ob Gro߬
grundbesitzer oder kleine Bauern — nur die Wählbarkeit war insofern weise
beschränkt, als ein beträchtlicher Teil der Gemeindevcrtreter (Vürgerausschuß)
aus den Höchstbesteuerten und die Mehrheit aus den Hausbesitzern genommen
werden mußte; führte man aber „das elendeste aller Wahlsysteme," das Drei¬
klassenwahlrecht ein, so gebot der Großgrundbesitzer auf dem Lande leicht über
ein Drittel der Stimmen, während er nach dem hessischen System nur als
Höchstbesteuerter in Frage kam und bestenfalls in der Gemeindevertretung nur
eine von vielen Stimmen hatte. Mit diesen Erwägungen war das Schicksal
des Gemeindewahlrechts entschieden, verlor die letzte hessische Eigentümlichkeit
für die Konservativen ihre Berechtigung.

An einen Widerspruch wurde umsoweniger gedacht, als ein Fraktions¬
genosse das Gesetz ausgearbeitet hatte, ein Umstand, der die sonst gerühmte
grundsätzliche Würdigung von Gesetzvorlagen ohne Haß und Gunst, ohne
Rücksicht auf die Persönlichkeit ihres Urhebers in ein seltsames Licht rückte.
Freilich, wenn von konservativer Seite offiziell immer betont wird, bei Be¬
urteilung der Regierungsvorlagen lasse man persönliche Rücksicht beiseite, so


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[0479] Einige Bedenken über die Politik der konservativen Partei empfohlen waren. Den Grundsatz des Allgemeinen Landrechts, daß allen in genügender Weise für den Staatsdienst Vorbereiteten alle Ämter gleich zu¬ gänglich sein sollten, wollte man leichten Herzens fallen lassen; man trug kein Bedenken, eine gesetzliche Bestimmung vorzuschlagen, die der Willkür Thür und Thor zu öffnen und zu einer Bevorzugung nicht nur der Geburth- und Geldaristokratie, sondern zu einer völligen Abschließung ganzer Volkskreise zu führen geeignet war, die nur zu leicht zur Proletarisierung zahlreicher tüchtiger Kräfte, zur Schulung von Unzufriedenheit und noch schlimmeren hätte aus¬ schlagen können. Und doch ist es gerade die Stärke des deutschen Beamten¬ tums, daß es sich, aus allen Schichten der Bevölkerung ergänzend, ohne ausschließliche Verbindung mit einzelnen Berufskreisen des Nährstands allezeit als unabhängig, als Vollstrecker ausgleichender Gerechtigkeit, als Hort des über allen Partei- und Wirtschaftsinteressen waltenden Staatsgedankens be¬ währt hat. Reaktionär im vollsten Sinne erschien die Stellung der konservativen Fraktion zu den in erster Reihe auf ihr Betreiben zu stände gekommenen neuen Gcmeindeverfassungsgesetzen für Hessen-Nassau: keine Spur von dem Be¬ streben, berechtigte Eigentümlichkeiten der Provinz zu Pflegen und zu schützen, das sich die konservative Vereinigung der Provinz Hannover zur Hauptaufgabe gesetzt hat. Den konservativen Abgeordneten aus dem Regierungsbezirk Kassel, allerdings mit einer rühmlichen Ausnahme, erschien die mustergiltige Gemeinde¬ ordnung für Kurhessen von 1834, freilich das Kind einer politisch bewegten Zeit, aber nächstverwandt mit der Steinschen preußischen Städteordnung, als ein radikales, zumal den Großgrundbesitz nicht befriedigendes Gesetz; galt doch nach ihr gleiches direktes Gemeindewahlrecht für alle Ortsbürger, ob Gro߬ grundbesitzer oder kleine Bauern — nur die Wählbarkeit war insofern weise beschränkt, als ein beträchtlicher Teil der Gemeindevcrtreter (Vürgerausschuß) aus den Höchstbesteuerten und die Mehrheit aus den Hausbesitzern genommen werden mußte; führte man aber „das elendeste aller Wahlsysteme," das Drei¬ klassenwahlrecht ein, so gebot der Großgrundbesitzer auf dem Lande leicht über ein Drittel der Stimmen, während er nach dem hessischen System nur als Höchstbesteuerter in Frage kam und bestenfalls in der Gemeindevertretung nur eine von vielen Stimmen hatte. Mit diesen Erwägungen war das Schicksal des Gemeindewahlrechts entschieden, verlor die letzte hessische Eigentümlichkeit für die Konservativen ihre Berechtigung. An einen Widerspruch wurde umsoweniger gedacht, als ein Fraktions¬ genosse das Gesetz ausgearbeitet hatte, ein Umstand, der die sonst gerühmte grundsätzliche Würdigung von Gesetzvorlagen ohne Haß und Gunst, ohne Rücksicht auf die Persönlichkeit ihres Urhebers in ein seltsames Licht rückte. Freilich, wenn von konservativer Seite offiziell immer betont wird, bei Be¬ urteilung der Regierungsvorlagen lasse man persönliche Rücksicht beiseite, so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/479>, abgerufen am 23.07.2024.