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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Linige Bedenken über die Politik der konservativen Partei

Schon vor einigen Jahren rief der Verfasser der geistvollen, immer noch
viel zu wenig gewürdigten Schrift "Reform oder Revolution" ihnen ins Ge¬
wissen. Ein Jahr vor seinem Tode sprach Fürst Bismarck von ihren Fehlern:
von ihrem blinden Nachlaufen hinter einzelnen Führern, von dem Nachbeten
der Meinungen einzelner weniger oft nur dem Anschein uach Unterrichteter in
wichtigen Fragen, von dem ungenügenden Kennen und Erforschen der auf der
Tagesordnung der Politik stehenden Fragen, von ihrer unnötigen Nachgiebig¬
keit gegen manchen Wunsch dieses oder jenes Ministers, ihrem Unklarsein
darüber, was sie denn eigentlich erhalten wollen usw. Und es gelang den
gegenwärtigen Führern der Partei nicht, diese gewichtigen Vorwürfe, die ja
auch in den "Gedanken und Erinnerungen" nicht fehlen, dadurch abzuschwächen,
daß man sie als aus die Vergangenheit gemünzt bezeichnete -- es blieb kein
Zweifel, die heutige konservative Partei, der sich ja auch Fürst Herbert Bis¬
marck nicht hat anschließen wollen, unterlag dem abfälligen Urteil des großen
Staatsmanns, den sie so gern als ihren Gesinnungsgenossen, als ihren Mentor
darstellte. Als die Neuwahlen zum Abgeordnetenhause betrieben wurden,
erfolgte eine neue ernste Warnung, indem eine Anzahl bedeutender Müuuer
von unanfechtbarer konservativer Gesinnung ihre mahnende Stimme erhoben,
um einer unbedingten konservativen Mehrheit den Weg versperren zu helfen,
konservative Männer, die die besten Gedanken des Fürsten Bismarck, seine
großen sozialreformerischen Pläne in Übereinstimmung mit den bürgerlichen
konservativen Kreisen zu vertreten nie aufgehört hatten, die die berühmte
Novemberbotschaft Kaiser Wilhelms I. und die Februarerlasse des regierenden
Kaisers nicht in den Hintergrund gedrängt sehen wollen.

Wer eine große konservative Partei in der Volksvertretung für notwendig
hält, kann nur mit Besorgnis auf die Verhältnisse im preußischen Landtage
sehen. Ist nicht zu befürchten, daß die konservative Fraktion die innere
Wiedergeburt ablehnt, weil sie in alter Zahl aus dem Wahlkampf hervor¬
gegangen ist? Wenn sie aber alle wohlgemeinten Ratschläge in den Wind
schlüge, muß sie dann nicht nach abermals fünf Jahren vor gänzlichem innerm
Verfall stehn?

Die Leistungen und Erfolge der konservativen Fraktion im preußischen
Abgeordnetenhause, wo sie im Gegensatz zum Reichstage kraft ihrer großen
Mitgliederzahl imstande zu sein schien, bald mit dieser, bald mit jener andern
Fraktion eine Mehrheit zu bilden und ihre Pläne durchzusetzen, sind denn
doch in der lctztvergangnen fünfjährigen Legislaturperiode herzlich unbedentend
gewesen. Ihre Kraft hat sich, man ist versucht zu sagen, erschöpft in un¬
fruchtbaren Erörterungen und Anregungen wegen der Notlage der Landwirtschaft:
fast nirgends hat die Staatsregierung den Resolutionen (auf Einführung der
staatlichen Getreidepreisfestsetzung, der Schließung der Reichsgrenzen gegen aus¬
ländische Vieheiufuhr u. dergl.) Folge gegeben; nirgends hat die Staatsregierung


Linige Bedenken über die Politik der konservativen Partei

Schon vor einigen Jahren rief der Verfasser der geistvollen, immer noch
viel zu wenig gewürdigten Schrift „Reform oder Revolution" ihnen ins Ge¬
wissen. Ein Jahr vor seinem Tode sprach Fürst Bismarck von ihren Fehlern:
von ihrem blinden Nachlaufen hinter einzelnen Führern, von dem Nachbeten
der Meinungen einzelner weniger oft nur dem Anschein uach Unterrichteter in
wichtigen Fragen, von dem ungenügenden Kennen und Erforschen der auf der
Tagesordnung der Politik stehenden Fragen, von ihrer unnötigen Nachgiebig¬
keit gegen manchen Wunsch dieses oder jenes Ministers, ihrem Unklarsein
darüber, was sie denn eigentlich erhalten wollen usw. Und es gelang den
gegenwärtigen Führern der Partei nicht, diese gewichtigen Vorwürfe, die ja
auch in den „Gedanken und Erinnerungen" nicht fehlen, dadurch abzuschwächen,
daß man sie als aus die Vergangenheit gemünzt bezeichnete — es blieb kein
Zweifel, die heutige konservative Partei, der sich ja auch Fürst Herbert Bis¬
marck nicht hat anschließen wollen, unterlag dem abfälligen Urteil des großen
Staatsmanns, den sie so gern als ihren Gesinnungsgenossen, als ihren Mentor
darstellte. Als die Neuwahlen zum Abgeordnetenhause betrieben wurden,
erfolgte eine neue ernste Warnung, indem eine Anzahl bedeutender Müuuer
von unanfechtbarer konservativer Gesinnung ihre mahnende Stimme erhoben,
um einer unbedingten konservativen Mehrheit den Weg versperren zu helfen,
konservative Männer, die die besten Gedanken des Fürsten Bismarck, seine
großen sozialreformerischen Pläne in Übereinstimmung mit den bürgerlichen
konservativen Kreisen zu vertreten nie aufgehört hatten, die die berühmte
Novemberbotschaft Kaiser Wilhelms I. und die Februarerlasse des regierenden
Kaisers nicht in den Hintergrund gedrängt sehen wollen.

Wer eine große konservative Partei in der Volksvertretung für notwendig
hält, kann nur mit Besorgnis auf die Verhältnisse im preußischen Landtage
sehen. Ist nicht zu befürchten, daß die konservative Fraktion die innere
Wiedergeburt ablehnt, weil sie in alter Zahl aus dem Wahlkampf hervor¬
gegangen ist? Wenn sie aber alle wohlgemeinten Ratschläge in den Wind
schlüge, muß sie dann nicht nach abermals fünf Jahren vor gänzlichem innerm
Verfall stehn?

Die Leistungen und Erfolge der konservativen Fraktion im preußischen
Abgeordnetenhause, wo sie im Gegensatz zum Reichstage kraft ihrer großen
Mitgliederzahl imstande zu sein schien, bald mit dieser, bald mit jener andern
Fraktion eine Mehrheit zu bilden und ihre Pläne durchzusetzen, sind denn
doch in der lctztvergangnen fünfjährigen Legislaturperiode herzlich unbedentend
gewesen. Ihre Kraft hat sich, man ist versucht zu sagen, erschöpft in un¬
fruchtbaren Erörterungen und Anregungen wegen der Notlage der Landwirtschaft:
fast nirgends hat die Staatsregierung den Resolutionen (auf Einführung der
staatlichen Getreidepreisfestsetzung, der Schließung der Reichsgrenzen gegen aus¬
ländische Vieheiufuhr u. dergl.) Folge gegeben; nirgends hat die Staatsregierung


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[0476] Linige Bedenken über die Politik der konservativen Partei Schon vor einigen Jahren rief der Verfasser der geistvollen, immer noch viel zu wenig gewürdigten Schrift „Reform oder Revolution" ihnen ins Ge¬ wissen. Ein Jahr vor seinem Tode sprach Fürst Bismarck von ihren Fehlern: von ihrem blinden Nachlaufen hinter einzelnen Führern, von dem Nachbeten der Meinungen einzelner weniger oft nur dem Anschein uach Unterrichteter in wichtigen Fragen, von dem ungenügenden Kennen und Erforschen der auf der Tagesordnung der Politik stehenden Fragen, von ihrer unnötigen Nachgiebig¬ keit gegen manchen Wunsch dieses oder jenes Ministers, ihrem Unklarsein darüber, was sie denn eigentlich erhalten wollen usw. Und es gelang den gegenwärtigen Führern der Partei nicht, diese gewichtigen Vorwürfe, die ja auch in den „Gedanken und Erinnerungen" nicht fehlen, dadurch abzuschwächen, daß man sie als aus die Vergangenheit gemünzt bezeichnete — es blieb kein Zweifel, die heutige konservative Partei, der sich ja auch Fürst Herbert Bis¬ marck nicht hat anschließen wollen, unterlag dem abfälligen Urteil des großen Staatsmanns, den sie so gern als ihren Gesinnungsgenossen, als ihren Mentor darstellte. Als die Neuwahlen zum Abgeordnetenhause betrieben wurden, erfolgte eine neue ernste Warnung, indem eine Anzahl bedeutender Müuuer von unanfechtbarer konservativer Gesinnung ihre mahnende Stimme erhoben, um einer unbedingten konservativen Mehrheit den Weg versperren zu helfen, konservative Männer, die die besten Gedanken des Fürsten Bismarck, seine großen sozialreformerischen Pläne in Übereinstimmung mit den bürgerlichen konservativen Kreisen zu vertreten nie aufgehört hatten, die die berühmte Novemberbotschaft Kaiser Wilhelms I. und die Februarerlasse des regierenden Kaisers nicht in den Hintergrund gedrängt sehen wollen. Wer eine große konservative Partei in der Volksvertretung für notwendig hält, kann nur mit Besorgnis auf die Verhältnisse im preußischen Landtage sehen. Ist nicht zu befürchten, daß die konservative Fraktion die innere Wiedergeburt ablehnt, weil sie in alter Zahl aus dem Wahlkampf hervor¬ gegangen ist? Wenn sie aber alle wohlgemeinten Ratschläge in den Wind schlüge, muß sie dann nicht nach abermals fünf Jahren vor gänzlichem innerm Verfall stehn? Die Leistungen und Erfolge der konservativen Fraktion im preußischen Abgeordnetenhause, wo sie im Gegensatz zum Reichstage kraft ihrer großen Mitgliederzahl imstande zu sein schien, bald mit dieser, bald mit jener andern Fraktion eine Mehrheit zu bilden und ihre Pläne durchzusetzen, sind denn doch in der lctztvergangnen fünfjährigen Legislaturperiode herzlich unbedentend gewesen. Ihre Kraft hat sich, man ist versucht zu sagen, erschöpft in un¬ fruchtbaren Erörterungen und Anregungen wegen der Notlage der Landwirtschaft: fast nirgends hat die Staatsregierung den Resolutionen (auf Einführung der staatlichen Getreidepreisfestsetzung, der Schließung der Reichsgrenzen gegen aus¬ ländische Vieheiufuhr u. dergl.) Folge gegeben; nirgends hat die Staatsregierung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/476>, abgerufen am 26.08.2024.