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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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so manchen Genossen, der gerade so dachte wie er; heute freilich, bei ruhiger Über¬
legung, mögen es nur noch wenige sein, die ihm ohne Einschränkung zustimmen.
Einen wollen wir wenigstens nennen, dessen Urteil Schlenther in seinem Buche
verewigt hat. Er erzählt: "Als das schlecht und aus schlechtem Papier ge¬
druckte Büchlein (mit dem neuen Drama "Vor Sonnenaufgang") erschienen
war, sandte der Verleger ein Exemplar sofort auch an den damals siebzig¬
jährigen Dichter Theodor Fontane, der zwei Jahre vorher durch seinen lebens¬
wahren Meisterroman "Irrungen Wirrungen" bei Schöngeistern und Philistern
so manches drollige Ärgernis erregt hatte. In seiner höflich graziösen Art
antwortete der alte Herr alsbald mit einem Dankschreiben an den Verleger.
Aber dieser Brief war mehr als eine bloße Artigkeit. Theodor Fontane be¬
glückwünschte den Verleger, ein so bedeutendes Werk edlere zu haben. Er
nannte dieses Werk "die Erfüllung Ibsens," und er, der vieljährige zahmste
Kritiker des zahmsten Hoftheaters, sprach ganz naiv den verwegnen Wunsch
aus, dieses Drama aufgeführt zu sehen. Er erklärte sich bereit, es der "Freien
Bühne," die eben damals ins Leben trat, dringlich anzuempfehlen. Dieser
Brief des alten vornehmen, genialen Dichters machte auf Gerhard Hauptmann
und alle, die ihm nahe standen, einen tief ergreifenden Eindruck." Offenbar
soll er das auf alle Leser des Schlentherschen Buches auch. Aber auf manchen,
der die Entwicklung, die Fontanes Erzählknnst seitdem genommen hat, ebenfalls
in mancher Hinsicht für eine Verirrung und Wirrung hält, namentlich auf
alle Nüchternen wird er diesen Eindruck nicht machen.

Die fanatischen Freunde aber, vor allem Dr. Otto Brahm, damals der
Vorsitzende der Gesellschaft "Freie Bühne," jetzt der Direktor des Deutschen
Theaters, die beiden Harls u. a. gingen dafür durchs Feuer. Die Aufführung
erfolgte, und die wüsten Szenen, die sich dabei abspielten, sind noch in aller
Gedächtnis. Die Roheiten des Stücks hatten eine Roheit unter den Zuschauer"
entfesselt, wie sie wohl noch nie in einem Theater vorgekommen war. "An
den Protesten der Gegner, gesteht Schlenther, erwärmte und erhitzte sich der
Beifall derer, die in diesem neuen Werke Jugend, Kraft, Mut und eine große
dichterische Gabe begrüßten. Diese Freunde tobten schließlich ebenso wild wie
die Gegenpartei. Und nach den Aktschlüssen auf der Bühne mußte der junge
Dichter dem tollsten Hexensabbath Stand halten."

Im Jahre 1890 folgte "Das Friedensfest," Szenen aus einem verrotteten,
verkommnen Familienleben, in dem alle einzelnen Glieder gegen einander wüten
und die Möglichkeit eines Ausgleichs, einer Versöhnung immer wieder zu
Schanden machen. Schlenther bezeichnet diesen Zustand als Schicksal, als
Faktum, gegen das ihr Wille nicht ankomme, statt von einer verwahrlosten
Gesellschaft zu reden, die die sittlichen Mächte zu ihrer Rettung nicht benutzt.
"Immer wieder, so sagt er, legt sich mit schwerem, unsichtbarem Druck eine
Geisterhand auf diese langenden Seelen, und im Handumdrehen ist alles wieder


so manchen Genossen, der gerade so dachte wie er; heute freilich, bei ruhiger Über¬
legung, mögen es nur noch wenige sein, die ihm ohne Einschränkung zustimmen.
Einen wollen wir wenigstens nennen, dessen Urteil Schlenther in seinem Buche
verewigt hat. Er erzählt: „Als das schlecht und aus schlechtem Papier ge¬
druckte Büchlein (mit dem neuen Drama »Vor Sonnenaufgang«) erschienen
war, sandte der Verleger ein Exemplar sofort auch an den damals siebzig¬
jährigen Dichter Theodor Fontane, der zwei Jahre vorher durch seinen lebens¬
wahren Meisterroman »Irrungen Wirrungen« bei Schöngeistern und Philistern
so manches drollige Ärgernis erregt hatte. In seiner höflich graziösen Art
antwortete der alte Herr alsbald mit einem Dankschreiben an den Verleger.
Aber dieser Brief war mehr als eine bloße Artigkeit. Theodor Fontane be¬
glückwünschte den Verleger, ein so bedeutendes Werk edlere zu haben. Er
nannte dieses Werk »die Erfüllung Ibsens,« und er, der vieljährige zahmste
Kritiker des zahmsten Hoftheaters, sprach ganz naiv den verwegnen Wunsch
aus, dieses Drama aufgeführt zu sehen. Er erklärte sich bereit, es der „Freien
Bühne," die eben damals ins Leben trat, dringlich anzuempfehlen. Dieser
Brief des alten vornehmen, genialen Dichters machte auf Gerhard Hauptmann
und alle, die ihm nahe standen, einen tief ergreifenden Eindruck." Offenbar
soll er das auf alle Leser des Schlentherschen Buches auch. Aber auf manchen,
der die Entwicklung, die Fontanes Erzählknnst seitdem genommen hat, ebenfalls
in mancher Hinsicht für eine Verirrung und Wirrung hält, namentlich auf
alle Nüchternen wird er diesen Eindruck nicht machen.

Die fanatischen Freunde aber, vor allem Dr. Otto Brahm, damals der
Vorsitzende der Gesellschaft „Freie Bühne," jetzt der Direktor des Deutschen
Theaters, die beiden Harls u. a. gingen dafür durchs Feuer. Die Aufführung
erfolgte, und die wüsten Szenen, die sich dabei abspielten, sind noch in aller
Gedächtnis. Die Roheiten des Stücks hatten eine Roheit unter den Zuschauer«
entfesselt, wie sie wohl noch nie in einem Theater vorgekommen war. „An
den Protesten der Gegner, gesteht Schlenther, erwärmte und erhitzte sich der
Beifall derer, die in diesem neuen Werke Jugend, Kraft, Mut und eine große
dichterische Gabe begrüßten. Diese Freunde tobten schließlich ebenso wild wie
die Gegenpartei. Und nach den Aktschlüssen auf der Bühne mußte der junge
Dichter dem tollsten Hexensabbath Stand halten."

Im Jahre 1890 folgte „Das Friedensfest," Szenen aus einem verrotteten,
verkommnen Familienleben, in dem alle einzelnen Glieder gegen einander wüten
und die Möglichkeit eines Ausgleichs, einer Versöhnung immer wieder zu
Schanden machen. Schlenther bezeichnet diesen Zustand als Schicksal, als
Faktum, gegen das ihr Wille nicht ankomme, statt von einer verwahrlosten
Gesellschaft zu reden, die die sittlichen Mächte zu ihrer Rettung nicht benutzt.
„Immer wieder, so sagt er, legt sich mit schwerem, unsichtbarem Druck eine
Geisterhand auf diese langenden Seelen, und im Handumdrehen ist alles wieder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/45>, abgerufen am 23.07.2024.