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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Reinhold

zugleich auch die Lösung oder Deutung geben. Daß die soziale Frage unlös¬
bar ist, was zu beweisen die Hauptabsicht Reinholds zu sein scheint, das sage
ich auch, aber ich sage zugleich, daß das kein Unglück ist, und daß, so tragisch
das Leben sonst auch sein mag, darin seine Tragik nicht liegt. Die Grund¬
fragen des Lebens dürfen niemals gelöst werden, weil in der Arbeit an ihrer
Lösung der Inhalt des Menschenlebens besteht. Weit entfernt davon, aus der
Unlösbarkeit zu folgern, daß die Lösungsversuche Thorheit seien, folgere ich
daraus, daß man nicht ablassen dürfe, zu arbeiten und zu versuchen. Die
Arbeiten und Kämpfe um Freiheit und Glück sind in demselben Sinne ver¬
gebens, wie das Atmen und das Essen vergebliche Verrichtungen sind, sofern
man doch immer wieder aufs neue frische Luft braucht und immer wieder
hungert; in jener "vergeblichen" Arbeit verläuft der geistige Lebensprozeß der
Völker, wie in dieser der leibliche der Individuen.

Daß in einem dicken Buche immer auch gute und brauchbare Gedanken
vorkommen, versteht sich von selbst, und bei Reinhold findet man deren nicht
wenig. Höchst beachtenswert ist z. B., was er im neunten Kapitel über das
Geschlechtsleben sagt -- er gelangt zur Empfehlung des Neumalthusianismus
und lobt sehr die klugen und, wie er behauptet, höchst sittlichen Franzosen --,
sowie die um verschiednen Stellen entwickelte Ansicht, daß die Sozialdemokratie
in dem Grade ungefährlich sei, als man sie frei gewähren läßt, und daß sie
erst durch Repressiv" wenigstens den Schein der Gefährlichkeit annehme. Und
da erlaube ich mir denn, ihm einen Vorschlag zu machen. Er legt so großes
Gewicht auf die praktische Wirkung. Sein Buch wird keine haben, weil es
wenig Leser finden wird, aber er kann mit leichter Mühe eine schlagende Wir¬
kung erzielen. Er braucht bloß die zwei Abschnitte: über das Geschlechtsleben
und über die falsche Behandlung der Sozialdemokratie, zu einer kurzen Denk¬
schrift zu verarbeiten und dieser die Form eines offnen Briefes an die Minister
des Innern und der Justiz zu geben; die beiden Minister mögen ihm bei¬
stimmen oder nicht, in jedem Fall wird eine deutlich wahrnehmbare praktische
Wirkung herauskommen.




Grenzbaten I 18S9
Reinhold

zugleich auch die Lösung oder Deutung geben. Daß die soziale Frage unlös¬
bar ist, was zu beweisen die Hauptabsicht Reinholds zu sein scheint, das sage
ich auch, aber ich sage zugleich, daß das kein Unglück ist, und daß, so tragisch
das Leben sonst auch sein mag, darin seine Tragik nicht liegt. Die Grund¬
fragen des Lebens dürfen niemals gelöst werden, weil in der Arbeit an ihrer
Lösung der Inhalt des Menschenlebens besteht. Weit entfernt davon, aus der
Unlösbarkeit zu folgern, daß die Lösungsversuche Thorheit seien, folgere ich
daraus, daß man nicht ablassen dürfe, zu arbeiten und zu versuchen. Die
Arbeiten und Kämpfe um Freiheit und Glück sind in demselben Sinne ver¬
gebens, wie das Atmen und das Essen vergebliche Verrichtungen sind, sofern
man doch immer wieder aufs neue frische Luft braucht und immer wieder
hungert; in jener „vergeblichen" Arbeit verläuft der geistige Lebensprozeß der
Völker, wie in dieser der leibliche der Individuen.

Daß in einem dicken Buche immer auch gute und brauchbare Gedanken
vorkommen, versteht sich von selbst, und bei Reinhold findet man deren nicht
wenig. Höchst beachtenswert ist z. B., was er im neunten Kapitel über das
Geschlechtsleben sagt — er gelangt zur Empfehlung des Neumalthusianismus
und lobt sehr die klugen und, wie er behauptet, höchst sittlichen Franzosen —,
sowie die um verschiednen Stellen entwickelte Ansicht, daß die Sozialdemokratie
in dem Grade ungefährlich sei, als man sie frei gewähren läßt, und daß sie
erst durch Repressiv» wenigstens den Schein der Gefährlichkeit annehme. Und
da erlaube ich mir denn, ihm einen Vorschlag zu machen. Er legt so großes
Gewicht auf die praktische Wirkung. Sein Buch wird keine haben, weil es
wenig Leser finden wird, aber er kann mit leichter Mühe eine schlagende Wir¬
kung erzielen. Er braucht bloß die zwei Abschnitte: über das Geschlechtsleben
und über die falsche Behandlung der Sozialdemokratie, zu einer kurzen Denk¬
schrift zu verarbeiten und dieser die Form eines offnen Briefes an die Minister
des Innern und der Justiz zu geben; die beiden Minister mögen ihm bei¬
stimmen oder nicht, in jedem Fall wird eine deutlich wahrnehmbare praktische
Wirkung herauskommen.




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[0441] Reinhold zugleich auch die Lösung oder Deutung geben. Daß die soziale Frage unlös¬ bar ist, was zu beweisen die Hauptabsicht Reinholds zu sein scheint, das sage ich auch, aber ich sage zugleich, daß das kein Unglück ist, und daß, so tragisch das Leben sonst auch sein mag, darin seine Tragik nicht liegt. Die Grund¬ fragen des Lebens dürfen niemals gelöst werden, weil in der Arbeit an ihrer Lösung der Inhalt des Menschenlebens besteht. Weit entfernt davon, aus der Unlösbarkeit zu folgern, daß die Lösungsversuche Thorheit seien, folgere ich daraus, daß man nicht ablassen dürfe, zu arbeiten und zu versuchen. Die Arbeiten und Kämpfe um Freiheit und Glück sind in demselben Sinne ver¬ gebens, wie das Atmen und das Essen vergebliche Verrichtungen sind, sofern man doch immer wieder aufs neue frische Luft braucht und immer wieder hungert; in jener „vergeblichen" Arbeit verläuft der geistige Lebensprozeß der Völker, wie in dieser der leibliche der Individuen. Daß in einem dicken Buche immer auch gute und brauchbare Gedanken vorkommen, versteht sich von selbst, und bei Reinhold findet man deren nicht wenig. Höchst beachtenswert ist z. B., was er im neunten Kapitel über das Geschlechtsleben sagt — er gelangt zur Empfehlung des Neumalthusianismus und lobt sehr die klugen und, wie er behauptet, höchst sittlichen Franzosen —, sowie die um verschiednen Stellen entwickelte Ansicht, daß die Sozialdemokratie in dem Grade ungefährlich sei, als man sie frei gewähren läßt, und daß sie erst durch Repressiv» wenigstens den Schein der Gefährlichkeit annehme. Und da erlaube ich mir denn, ihm einen Vorschlag zu machen. Er legt so großes Gewicht auf die praktische Wirkung. Sein Buch wird keine haben, weil es wenig Leser finden wird, aber er kann mit leichter Mühe eine schlagende Wir¬ kung erzielen. Er braucht bloß die zwei Abschnitte: über das Geschlechtsleben und über die falsche Behandlung der Sozialdemokratie, zu einer kurzen Denk¬ schrift zu verarbeiten und dieser die Form eines offnen Briefes an die Minister des Innern und der Justiz zu geben; die beiden Minister mögen ihm bei¬ stimmen oder nicht, in jedem Fall wird eine deutlich wahrnehmbare praktische Wirkung herauskommen. Grenzbaten I 18S9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/441>, abgerufen am 23.07.2024.