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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Poesie und Erziehung

Nun fehlt ja aber auch die Gefahr von der entgegengesetzten Seite nicht.
Gedankenlosigkeit gegenüber Worten liegt der Jugend überhaupt nahe. Die
rhythmisch geordneten Worte, der Klang des Reimes und die ganze eigen¬
tümliche Geschlossenheit im Gedicht wird der sinnesfreudigen und gedanken¬
scheuen Jugend gefährlich. Sich vom Wortklingklang und Rhythmus des
Kinderreigens einwiegen zu lassen oder sich selbst endlos darin zu wiegen,
das ist freilich nur einer frühen Stufe eigen; aber eine gewisse Fortsetzung
oder etwas dem Ähnliches findet sich doch auch in dem spätern Behagen nicht
nur am Herunterleiern von Versen, sondern anch an dem vollständig gedanken¬
losen Durchsingen gemeinschaftlicher Lieder, worin wir Deutschen es allerdings
weiter bringen als andre, und worin wir bekanntlich auch noch als Musen¬
söhne oder Männer beim Festmahle viel leisten, obwohl uns zu unsrer Ver¬
stimmung doch nach einigen Versen meist mit den Gedanken auch die Worte
auszugehen pflegen. Diese Unart mag hier harmlos heißen, aber im ganzen
ist die leere Wortfreude das nicht, die Erziehung muß ihr entgegenarbeiten.
Ein Mittel dazu ist es übrigens, wenn sich der in Schulen gepflegte Gesang
seinerseits nicht zu sehr am Technischen genügen läßt, sondern wenn eine
lebendige Betrachtung des Inhalts sich anschließt oder vielmehr vorangeht,
was wohl noch nicht an sehr vielen Orten geschieht, entsprechend der geringen
Schätzung, die unsre allgemeinen Bildungsanstalten eben bis jetzt dem Ge¬
sang (als einer bloß technischen Beschäftigung!) zuteil werden lassen. Im
ganzen aber bleibt es die große Aufgabe, die auch keine Instruktion lösen
kann und kein Lehrplan, die immer insofern ungelöst bleibt, als die einzelne
Persönlichkeit sie immer wieder ihrerseits anfassen und lösen muß: Aufhellung
des Gedankeninhalts und doch Meiden der verstandesmäßigen Zerlegung und
Zerpflückung, Pflege des Gefühls in enger Verbindung mit dem Denken und
des Denkens mit dem Gefühle, Öffnen der Augen für Form und Inhalt.
Nur der beiden: zugleich geöffnete Sinn erfaßt wirklich das Kunstwerk, von
dem man sagen kann, daß es, aus höherer Natur geboren, gleich der Natur
nach Goethes Wort "Kern und Schale mit einemmale" ist. Sich wesentlich
nur dem einen oder andern zu öffnen, dazu neigt immer die große Mehrzahl:
die Unbildung erfrent sich des bloßen Stoffes, die Bildung -- d. h. das,
was man als Bildung und als Gebildete anzutreffen und anzusehen pflegt --
oft viel zu einseitig der künstlerischen Form, und sie glaubt eine recht hoch¬
gehende Bildung namentlich dann zu sein, wenn sie zu vielem Wissen von der
Form vorgedrungen ist und womöglich von der Mache, wenn sie nach tech¬
nischen Kategorien zu urteilen vermag. Daß auch durch unsern höhern
Jugendunterricht diese Strömung fühlbar hindurchgeht, ist kein Wunder. Unser
Thema aber heißt gerade darum "Poesie und Erziehung," damit jeder Ge¬
danke an jenes etwas unechte oder halbechte Ideal ausgeschlossen bleibe. Denn
wenn der Begriff der Erziehung ja freilich nur die schlichteste Tüchtigmachung
für den Bedarf des geordneten Gesellschaftslebens zu enthalten braucht, so


Poesie und Erziehung

Nun fehlt ja aber auch die Gefahr von der entgegengesetzten Seite nicht.
Gedankenlosigkeit gegenüber Worten liegt der Jugend überhaupt nahe. Die
rhythmisch geordneten Worte, der Klang des Reimes und die ganze eigen¬
tümliche Geschlossenheit im Gedicht wird der sinnesfreudigen und gedanken¬
scheuen Jugend gefährlich. Sich vom Wortklingklang und Rhythmus des
Kinderreigens einwiegen zu lassen oder sich selbst endlos darin zu wiegen,
das ist freilich nur einer frühen Stufe eigen; aber eine gewisse Fortsetzung
oder etwas dem Ähnliches findet sich doch auch in dem spätern Behagen nicht
nur am Herunterleiern von Versen, sondern anch an dem vollständig gedanken¬
losen Durchsingen gemeinschaftlicher Lieder, worin wir Deutschen es allerdings
weiter bringen als andre, und worin wir bekanntlich auch noch als Musen¬
söhne oder Männer beim Festmahle viel leisten, obwohl uns zu unsrer Ver¬
stimmung doch nach einigen Versen meist mit den Gedanken auch die Worte
auszugehen pflegen. Diese Unart mag hier harmlos heißen, aber im ganzen
ist die leere Wortfreude das nicht, die Erziehung muß ihr entgegenarbeiten.
Ein Mittel dazu ist es übrigens, wenn sich der in Schulen gepflegte Gesang
seinerseits nicht zu sehr am Technischen genügen läßt, sondern wenn eine
lebendige Betrachtung des Inhalts sich anschließt oder vielmehr vorangeht,
was wohl noch nicht an sehr vielen Orten geschieht, entsprechend der geringen
Schätzung, die unsre allgemeinen Bildungsanstalten eben bis jetzt dem Ge¬
sang (als einer bloß technischen Beschäftigung!) zuteil werden lassen. Im
ganzen aber bleibt es die große Aufgabe, die auch keine Instruktion lösen
kann und kein Lehrplan, die immer insofern ungelöst bleibt, als die einzelne
Persönlichkeit sie immer wieder ihrerseits anfassen und lösen muß: Aufhellung
des Gedankeninhalts und doch Meiden der verstandesmäßigen Zerlegung und
Zerpflückung, Pflege des Gefühls in enger Verbindung mit dem Denken und
des Denkens mit dem Gefühle, Öffnen der Augen für Form und Inhalt.
Nur der beiden: zugleich geöffnete Sinn erfaßt wirklich das Kunstwerk, von
dem man sagen kann, daß es, aus höherer Natur geboren, gleich der Natur
nach Goethes Wort „Kern und Schale mit einemmale" ist. Sich wesentlich
nur dem einen oder andern zu öffnen, dazu neigt immer die große Mehrzahl:
die Unbildung erfrent sich des bloßen Stoffes, die Bildung — d. h. das,
was man als Bildung und als Gebildete anzutreffen und anzusehen pflegt —
oft viel zu einseitig der künstlerischen Form, und sie glaubt eine recht hoch¬
gehende Bildung namentlich dann zu sein, wenn sie zu vielem Wissen von der
Form vorgedrungen ist und womöglich von der Mache, wenn sie nach tech¬
nischen Kategorien zu urteilen vermag. Daß auch durch unsern höhern
Jugendunterricht diese Strömung fühlbar hindurchgeht, ist kein Wunder. Unser
Thema aber heißt gerade darum „Poesie und Erziehung," damit jeder Ge¬
danke an jenes etwas unechte oder halbechte Ideal ausgeschlossen bleibe. Denn
wenn der Begriff der Erziehung ja freilich nur die schlichteste Tüchtigmachung
für den Bedarf des geordneten Gesellschaftslebens zu enthalten braucht, so


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[0397] Poesie und Erziehung Nun fehlt ja aber auch die Gefahr von der entgegengesetzten Seite nicht. Gedankenlosigkeit gegenüber Worten liegt der Jugend überhaupt nahe. Die rhythmisch geordneten Worte, der Klang des Reimes und die ganze eigen¬ tümliche Geschlossenheit im Gedicht wird der sinnesfreudigen und gedanken¬ scheuen Jugend gefährlich. Sich vom Wortklingklang und Rhythmus des Kinderreigens einwiegen zu lassen oder sich selbst endlos darin zu wiegen, das ist freilich nur einer frühen Stufe eigen; aber eine gewisse Fortsetzung oder etwas dem Ähnliches findet sich doch auch in dem spätern Behagen nicht nur am Herunterleiern von Versen, sondern anch an dem vollständig gedanken¬ losen Durchsingen gemeinschaftlicher Lieder, worin wir Deutschen es allerdings weiter bringen als andre, und worin wir bekanntlich auch noch als Musen¬ söhne oder Männer beim Festmahle viel leisten, obwohl uns zu unsrer Ver¬ stimmung doch nach einigen Versen meist mit den Gedanken auch die Worte auszugehen pflegen. Diese Unart mag hier harmlos heißen, aber im ganzen ist die leere Wortfreude das nicht, die Erziehung muß ihr entgegenarbeiten. Ein Mittel dazu ist es übrigens, wenn sich der in Schulen gepflegte Gesang seinerseits nicht zu sehr am Technischen genügen läßt, sondern wenn eine lebendige Betrachtung des Inhalts sich anschließt oder vielmehr vorangeht, was wohl noch nicht an sehr vielen Orten geschieht, entsprechend der geringen Schätzung, die unsre allgemeinen Bildungsanstalten eben bis jetzt dem Ge¬ sang (als einer bloß technischen Beschäftigung!) zuteil werden lassen. Im ganzen aber bleibt es die große Aufgabe, die auch keine Instruktion lösen kann und kein Lehrplan, die immer insofern ungelöst bleibt, als die einzelne Persönlichkeit sie immer wieder ihrerseits anfassen und lösen muß: Aufhellung des Gedankeninhalts und doch Meiden der verstandesmäßigen Zerlegung und Zerpflückung, Pflege des Gefühls in enger Verbindung mit dem Denken und des Denkens mit dem Gefühle, Öffnen der Augen für Form und Inhalt. Nur der beiden: zugleich geöffnete Sinn erfaßt wirklich das Kunstwerk, von dem man sagen kann, daß es, aus höherer Natur geboren, gleich der Natur nach Goethes Wort „Kern und Schale mit einemmale" ist. Sich wesentlich nur dem einen oder andern zu öffnen, dazu neigt immer die große Mehrzahl: die Unbildung erfrent sich des bloßen Stoffes, die Bildung — d. h. das, was man als Bildung und als Gebildete anzutreffen und anzusehen pflegt — oft viel zu einseitig der künstlerischen Form, und sie glaubt eine recht hoch¬ gehende Bildung namentlich dann zu sein, wenn sie zu vielem Wissen von der Form vorgedrungen ist und womöglich von der Mache, wenn sie nach tech¬ nischen Kategorien zu urteilen vermag. Daß auch durch unsern höhern Jugendunterricht diese Strömung fühlbar hindurchgeht, ist kein Wunder. Unser Thema aber heißt gerade darum „Poesie und Erziehung," damit jeder Ge¬ danke an jenes etwas unechte oder halbechte Ideal ausgeschlossen bleibe. Denn wenn der Begriff der Erziehung ja freilich nur die schlichteste Tüchtigmachung für den Bedarf des geordneten Gesellschaftslebens zu enthalten braucht, so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/397>, abgerufen am 23.07.2024.