Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Poesie und Erziehung

Frucht des heimischen Gartens uns lieber sei, ist das Natürliche, ist das Recht
der Natur.

Wie schon gesagt: es hat geraume Zeit gewährt, bis unsre gute und große
nationale Dichtung in den Schulen ihre Stätte und Pflege fand. Waren sie
doch so lange Zeit spröde geblieben, der deutschen Sprache Einlaß zu gewähren!
Waltete in ihnen doch so sehr die Besorgnis, sie möchten ihre Zöglinge nicht
streng genug arbeiten lehren, sie nicht ernstlich genug Schulen, auch nicht genug
über das Einheimische hinaus und hinweg führen, möchten mit dem Gelehrtcn-
charakter ihren eigentlichen Adel preisgeben! Und dazu kam freilich auch die
im ganzen geringe Fähigkeit, sich von der Überlieferung frei zu machen, mit
eignen Augen das Schöne zu sehen und es mit dem eignen Herzen zu finden. In
den Unterricht der höhern Schule also ist die deutsche Litteratur erst im Laufe
dieses Jahrhunderts allmählich eingedrungen, und es ist nicht viele Jahrzehnte
her, daß die Schüler zwar von dem Entwicklungsgang unsrer Litteratur nach
Leitfäden, Lehrbüchern und Tabellen Kenntnis erhielten, mit Zahlen, Namen und
Schlagwörtern, aber die großen Dramen unsrer Klassiker (der wirklichen großen
Klassiker, nicht der wieder aus einer gewissen gelehrten Sprödigkeit gegen sie
ausgespielten mittelhochdeutschen Dichter) doch nur zufällig sür sich zu Hause
lasen oder auch, weil mit zu reichlicher lateinischer Lernfracht belastet, ungelesen
ließen.

Jetzt ist es anders. Schiller hat nun seit Jahrzehnten in unsern Bildungs¬
anstalten eine so sichre Stellung, wie Homer sie nur je haben konnte; von
Goethe liest jeder einzelne Schüler mehr Dramen als von Sophokles; die
Lateiner alle werden den Unsrigen gegenüber doch nur noch als Dichter einer
subalternen Stufe empfunden; was an hoher Gedankenlyrik wie an guter
volkstümlicher Dichtung, an Liedern und Balladen, an frischer Jugendpoesie
wie auch an gesund Lehrhaftem, was an Epos und Drama in all den einander
folgenden Klaffen (aus dem Autor selbst oder durch sorgsam zusammengestellte
Lesebücher) geboten und zum Teil angeeignet wird, es ist -- freilich immer
nur eine ganz mäßige Auswahl aus dem Gesamtschatz, aber doch eine schöne,
reiche, wirkliche Blutenlese, und mehr als das: es ist Anschauung unsrer
Dichtung selbst in einer Reihe ihre besten Erzeugnisse. Wer will noch klagen?

Geklagt wird dennoch. Von den einen, daß man ihnen die Zeit nicht
gönne, die sie sich wünschen, um in viel größerer Breite und Vollständigkeit
die nationale Dichtung zu behandeln, die vor allen andern den Vorrang haben
müsse in deutschen Schulen und, um ihre ganze Wirkung zu thun, eindringliche
Behandlung fordre. Aber das ist doch vielleicht nur ein Wunsch von der Art,
wie sie nie und nirgend verstummen werden: nie haben die eifrigen Fachlehrer
Lehrstunden genug, um ihrem Fach ganz Genüge zu thun, ebenso wenig wie
die rührigen Kaufleute je die Zeiten für ganz gut erklären und ihren Gewinn
für ganz befriedigend, oder die ehrgeizigen Beamten je an Auszeichnungen genug
erhalten: ebenso, aber in ehrenvollerer Gesinnung. Doch von andrer Seite


Poesie und Erziehung

Frucht des heimischen Gartens uns lieber sei, ist das Natürliche, ist das Recht
der Natur.

Wie schon gesagt: es hat geraume Zeit gewährt, bis unsre gute und große
nationale Dichtung in den Schulen ihre Stätte und Pflege fand. Waren sie
doch so lange Zeit spröde geblieben, der deutschen Sprache Einlaß zu gewähren!
Waltete in ihnen doch so sehr die Besorgnis, sie möchten ihre Zöglinge nicht
streng genug arbeiten lehren, sie nicht ernstlich genug Schulen, auch nicht genug
über das Einheimische hinaus und hinweg führen, möchten mit dem Gelehrtcn-
charakter ihren eigentlichen Adel preisgeben! Und dazu kam freilich auch die
im ganzen geringe Fähigkeit, sich von der Überlieferung frei zu machen, mit
eignen Augen das Schöne zu sehen und es mit dem eignen Herzen zu finden. In
den Unterricht der höhern Schule also ist die deutsche Litteratur erst im Laufe
dieses Jahrhunderts allmählich eingedrungen, und es ist nicht viele Jahrzehnte
her, daß die Schüler zwar von dem Entwicklungsgang unsrer Litteratur nach
Leitfäden, Lehrbüchern und Tabellen Kenntnis erhielten, mit Zahlen, Namen und
Schlagwörtern, aber die großen Dramen unsrer Klassiker (der wirklichen großen
Klassiker, nicht der wieder aus einer gewissen gelehrten Sprödigkeit gegen sie
ausgespielten mittelhochdeutschen Dichter) doch nur zufällig sür sich zu Hause
lasen oder auch, weil mit zu reichlicher lateinischer Lernfracht belastet, ungelesen
ließen.

Jetzt ist es anders. Schiller hat nun seit Jahrzehnten in unsern Bildungs¬
anstalten eine so sichre Stellung, wie Homer sie nur je haben konnte; von
Goethe liest jeder einzelne Schüler mehr Dramen als von Sophokles; die
Lateiner alle werden den Unsrigen gegenüber doch nur noch als Dichter einer
subalternen Stufe empfunden; was an hoher Gedankenlyrik wie an guter
volkstümlicher Dichtung, an Liedern und Balladen, an frischer Jugendpoesie
wie auch an gesund Lehrhaftem, was an Epos und Drama in all den einander
folgenden Klaffen (aus dem Autor selbst oder durch sorgsam zusammengestellte
Lesebücher) geboten und zum Teil angeeignet wird, es ist — freilich immer
nur eine ganz mäßige Auswahl aus dem Gesamtschatz, aber doch eine schöne,
reiche, wirkliche Blutenlese, und mehr als das: es ist Anschauung unsrer
Dichtung selbst in einer Reihe ihre besten Erzeugnisse. Wer will noch klagen?

Geklagt wird dennoch. Von den einen, daß man ihnen die Zeit nicht
gönne, die sie sich wünschen, um in viel größerer Breite und Vollständigkeit
die nationale Dichtung zu behandeln, die vor allen andern den Vorrang haben
müsse in deutschen Schulen und, um ihre ganze Wirkung zu thun, eindringliche
Behandlung fordre. Aber das ist doch vielleicht nur ein Wunsch von der Art,
wie sie nie und nirgend verstummen werden: nie haben die eifrigen Fachlehrer
Lehrstunden genug, um ihrem Fach ganz Genüge zu thun, ebenso wenig wie
die rührigen Kaufleute je die Zeiten für ganz gut erklären und ihren Gewinn
für ganz befriedigend, oder die ehrgeizigen Beamten je an Auszeichnungen genug
erhalten: ebenso, aber in ehrenvollerer Gesinnung. Doch von andrer Seite


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0394" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230080"/>
          <fw type="header" place="top"> Poesie und Erziehung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1583" prev="#ID_1582"> Frucht des heimischen Gartens uns lieber sei, ist das Natürliche, ist das Recht<lb/>
der Natur.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1584"> Wie schon gesagt: es hat geraume Zeit gewährt, bis unsre gute und große<lb/>
nationale Dichtung in den Schulen ihre Stätte und Pflege fand. Waren sie<lb/>
doch so lange Zeit spröde geblieben, der deutschen Sprache Einlaß zu gewähren!<lb/>
Waltete in ihnen doch so sehr die Besorgnis, sie möchten ihre Zöglinge nicht<lb/>
streng genug arbeiten lehren, sie nicht ernstlich genug Schulen, auch nicht genug<lb/>
über das Einheimische hinaus und hinweg führen, möchten mit dem Gelehrtcn-<lb/>
charakter ihren eigentlichen Adel preisgeben! Und dazu kam freilich auch die<lb/>
im ganzen geringe Fähigkeit, sich von der Überlieferung frei zu machen, mit<lb/>
eignen Augen das Schöne zu sehen und es mit dem eignen Herzen zu finden. In<lb/>
den Unterricht der höhern Schule also ist die deutsche Litteratur erst im Laufe<lb/>
dieses Jahrhunderts allmählich eingedrungen, und es ist nicht viele Jahrzehnte<lb/>
her, daß die Schüler zwar von dem Entwicklungsgang unsrer Litteratur nach<lb/>
Leitfäden, Lehrbüchern und Tabellen Kenntnis erhielten, mit Zahlen, Namen und<lb/>
Schlagwörtern, aber die großen Dramen unsrer Klassiker (der wirklichen großen<lb/>
Klassiker, nicht der wieder aus einer gewissen gelehrten Sprödigkeit gegen sie<lb/>
ausgespielten mittelhochdeutschen Dichter) doch nur zufällig sür sich zu Hause<lb/>
lasen oder auch, weil mit zu reichlicher lateinischer Lernfracht belastet, ungelesen<lb/>
ließen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1585"> Jetzt ist es anders. Schiller hat nun seit Jahrzehnten in unsern Bildungs¬<lb/>
anstalten eine so sichre Stellung, wie Homer sie nur je haben konnte; von<lb/>
Goethe liest jeder einzelne Schüler mehr Dramen als von Sophokles; die<lb/>
Lateiner alle werden den Unsrigen gegenüber doch nur noch als Dichter einer<lb/>
subalternen Stufe empfunden; was an hoher Gedankenlyrik wie an guter<lb/>
volkstümlicher Dichtung, an Liedern und Balladen, an frischer Jugendpoesie<lb/>
wie auch an gesund Lehrhaftem, was an Epos und Drama in all den einander<lb/>
folgenden Klaffen (aus dem Autor selbst oder durch sorgsam zusammengestellte<lb/>
Lesebücher) geboten und zum Teil angeeignet wird, es ist &#x2014; freilich immer<lb/>
nur eine ganz mäßige Auswahl aus dem Gesamtschatz, aber doch eine schöne,<lb/>
reiche, wirkliche Blutenlese, und mehr als das: es ist Anschauung unsrer<lb/>
Dichtung selbst in einer Reihe ihre besten Erzeugnisse. Wer will noch klagen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1586" next="#ID_1587"> Geklagt wird dennoch. Von den einen, daß man ihnen die Zeit nicht<lb/>
gönne, die sie sich wünschen, um in viel größerer Breite und Vollständigkeit<lb/>
die nationale Dichtung zu behandeln, die vor allen andern den Vorrang haben<lb/>
müsse in deutschen Schulen und, um ihre ganze Wirkung zu thun, eindringliche<lb/>
Behandlung fordre. Aber das ist doch vielleicht nur ein Wunsch von der Art,<lb/>
wie sie nie und nirgend verstummen werden: nie haben die eifrigen Fachlehrer<lb/>
Lehrstunden genug, um ihrem Fach ganz Genüge zu thun, ebenso wenig wie<lb/>
die rührigen Kaufleute je die Zeiten für ganz gut erklären und ihren Gewinn<lb/>
für ganz befriedigend, oder die ehrgeizigen Beamten je an Auszeichnungen genug<lb/>
erhalten: ebenso, aber in ehrenvollerer Gesinnung.  Doch von andrer Seite</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0394] Poesie und Erziehung Frucht des heimischen Gartens uns lieber sei, ist das Natürliche, ist das Recht der Natur. Wie schon gesagt: es hat geraume Zeit gewährt, bis unsre gute und große nationale Dichtung in den Schulen ihre Stätte und Pflege fand. Waren sie doch so lange Zeit spröde geblieben, der deutschen Sprache Einlaß zu gewähren! Waltete in ihnen doch so sehr die Besorgnis, sie möchten ihre Zöglinge nicht streng genug arbeiten lehren, sie nicht ernstlich genug Schulen, auch nicht genug über das Einheimische hinaus und hinweg führen, möchten mit dem Gelehrtcn- charakter ihren eigentlichen Adel preisgeben! Und dazu kam freilich auch die im ganzen geringe Fähigkeit, sich von der Überlieferung frei zu machen, mit eignen Augen das Schöne zu sehen und es mit dem eignen Herzen zu finden. In den Unterricht der höhern Schule also ist die deutsche Litteratur erst im Laufe dieses Jahrhunderts allmählich eingedrungen, und es ist nicht viele Jahrzehnte her, daß die Schüler zwar von dem Entwicklungsgang unsrer Litteratur nach Leitfäden, Lehrbüchern und Tabellen Kenntnis erhielten, mit Zahlen, Namen und Schlagwörtern, aber die großen Dramen unsrer Klassiker (der wirklichen großen Klassiker, nicht der wieder aus einer gewissen gelehrten Sprödigkeit gegen sie ausgespielten mittelhochdeutschen Dichter) doch nur zufällig sür sich zu Hause lasen oder auch, weil mit zu reichlicher lateinischer Lernfracht belastet, ungelesen ließen. Jetzt ist es anders. Schiller hat nun seit Jahrzehnten in unsern Bildungs¬ anstalten eine so sichre Stellung, wie Homer sie nur je haben konnte; von Goethe liest jeder einzelne Schüler mehr Dramen als von Sophokles; die Lateiner alle werden den Unsrigen gegenüber doch nur noch als Dichter einer subalternen Stufe empfunden; was an hoher Gedankenlyrik wie an guter volkstümlicher Dichtung, an Liedern und Balladen, an frischer Jugendpoesie wie auch an gesund Lehrhaftem, was an Epos und Drama in all den einander folgenden Klaffen (aus dem Autor selbst oder durch sorgsam zusammengestellte Lesebücher) geboten und zum Teil angeeignet wird, es ist — freilich immer nur eine ganz mäßige Auswahl aus dem Gesamtschatz, aber doch eine schöne, reiche, wirkliche Blutenlese, und mehr als das: es ist Anschauung unsrer Dichtung selbst in einer Reihe ihre besten Erzeugnisse. Wer will noch klagen? Geklagt wird dennoch. Von den einen, daß man ihnen die Zeit nicht gönne, die sie sich wünschen, um in viel größerer Breite und Vollständigkeit die nationale Dichtung zu behandeln, die vor allen andern den Vorrang haben müsse in deutschen Schulen und, um ihre ganze Wirkung zu thun, eindringliche Behandlung fordre. Aber das ist doch vielleicht nur ein Wunsch von der Art, wie sie nie und nirgend verstummen werden: nie haben die eifrigen Fachlehrer Lehrstunden genug, um ihrem Fach ganz Genüge zu thun, ebenso wenig wie die rührigen Kaufleute je die Zeiten für ganz gut erklären und ihren Gewinn für ganz befriedigend, oder die ehrgeizigen Beamten je an Auszeichnungen genug erhalten: ebenso, aber in ehrenvollerer Gesinnung. Doch von andrer Seite

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/394
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/394>, abgerufen am 23.07.2024.