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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Poesie und Erziehung

Lehrenden dahin, zurückzusinken in verstandesmäßig-formalistische Behandlung
der lebensvollen antiken Poesie, immer wieder waren es mehr nur Einzelne,
die Begeisterung und Klarheit genug verbanden, daß sie zugleich erfreuen und
bilden konnten. Die Atmosphäre der Schule ist chemisch so geartet, daß darin
nur echtes Gold des Fühlens seinen Klang und Glanz behält, minderwertige
Substanz dagegen falsche Verbindungen eingeht und ihnen erliegt. Aber die
Erkenntnis dieser Gefahr wenigstens ist von Jahrzehnt zu Jahrzehnt allgemeiner
geworden, und viel größer doch wohl die Zahl derer, die über sich selbst wachen,
daß sie nicht im Kleinlichen aufgehn und im Formaten. Es ist so viel gescholten
worden auf das Handwerkertum, das da an Stelle der Kunst geübt werde,
gescholten von draußen her und glücklicherweise noch mehr von innen, aus dem
Kreise der Lehrenden selbst, daß die Gewissen denn doch wacher bleiben und
die Geister beweglicher, abgesehen davon, daß doch auch die wissenschaftliche
Vorbildung die jungen Fachleute über gewisse enge Wege der Vergangenheit
erhebt. Auch giebt wohl die Gefahr, die antike Litteratur ganz und gar aus
den höhern Bildungsanstalten hinausgedrängt zu sehen, doppelten Ernst der
Bemühung ein, ihre Lebenskraft fühlbar bleiben zu lassen.

Wie seltsam erscheint uns jetzt, was in vergangnen Zeiten so allgemein
war: daß fremde Dichtwerke zum Zweck der übenden Nachahmung geboten
wurden, der Beobachtung ihrer bloßen Kunstmittel, ihrer kleinen Linien und
äußern Eigentümlichkeiten, ihrer Wortwahl und Wortverbindungen, um ein
stümperndes und zusammenstöppelndes Versemachen daran zu schließen und
daraus eine ganz trügliche Selbstschätzung zu ziehen und eine unfruchtbare
Genugthuung! wie unzulänglich auch das emsig gepflegte Wissen von all jenen
Einzelnormen und wirklichen oder vermeintlichen Künsten in der Kunst! und
wie wenig schützbar das prunkende Zitieren auswendig gelernter Dichterstellen
als eine bloße Legitimation erhaltner Schulbildung, gcpflogner Beschäftigung
mit dem schwierig fremden Schrifttum, ohne die Gewißheit innerlichen Ver¬
ständnisses und anschaulicher Nachempfindung! wie unbefriedigend erscheint das
uns -- oder sollte es uns erscheinen!

Doch immerhin -- an aller fremdartigen Poesie bleibt die äußere Form
für uns bedeutender als an der nationalen. Wohl gelingt es den empfänglichsten
und geübtesten Geistern auch da, wenigstens gewissen Werken oder Dichtern
gegenüber, so in den Genuß des Innern, d. h. des Innern zugleich mit dem
Äußern, einzudringen, daß sie eine Liebe dafür hegen können wie sür das eigne,
muttersprachliche Gut, ja vielleicht mehr Liebe hegen, weil sie länger um die
Würdigung haben ringen müssen. Aber das ist Ausnahme, deu meisten kann
das nicht beschieden sein, sie täuschen sich, wenn sie es glauben, oder sie sind
eines ganz vollen Empfindens sür Dichtung überhaupt nicht fähig. Im allgemeinen
bleibt uns an der fremden Poesie die Schale fester und dicker, und so gewiß
es seinen Reiz hat, durch sie hindurchzudringen: daß die weichere und saftvollere


Grenzboten I 1899 4!>
Poesie und Erziehung

Lehrenden dahin, zurückzusinken in verstandesmäßig-formalistische Behandlung
der lebensvollen antiken Poesie, immer wieder waren es mehr nur Einzelne,
die Begeisterung und Klarheit genug verbanden, daß sie zugleich erfreuen und
bilden konnten. Die Atmosphäre der Schule ist chemisch so geartet, daß darin
nur echtes Gold des Fühlens seinen Klang und Glanz behält, minderwertige
Substanz dagegen falsche Verbindungen eingeht und ihnen erliegt. Aber die
Erkenntnis dieser Gefahr wenigstens ist von Jahrzehnt zu Jahrzehnt allgemeiner
geworden, und viel größer doch wohl die Zahl derer, die über sich selbst wachen,
daß sie nicht im Kleinlichen aufgehn und im Formaten. Es ist so viel gescholten
worden auf das Handwerkertum, das da an Stelle der Kunst geübt werde,
gescholten von draußen her und glücklicherweise noch mehr von innen, aus dem
Kreise der Lehrenden selbst, daß die Gewissen denn doch wacher bleiben und
die Geister beweglicher, abgesehen davon, daß doch auch die wissenschaftliche
Vorbildung die jungen Fachleute über gewisse enge Wege der Vergangenheit
erhebt. Auch giebt wohl die Gefahr, die antike Litteratur ganz und gar aus
den höhern Bildungsanstalten hinausgedrängt zu sehen, doppelten Ernst der
Bemühung ein, ihre Lebenskraft fühlbar bleiben zu lassen.

Wie seltsam erscheint uns jetzt, was in vergangnen Zeiten so allgemein
war: daß fremde Dichtwerke zum Zweck der übenden Nachahmung geboten
wurden, der Beobachtung ihrer bloßen Kunstmittel, ihrer kleinen Linien und
äußern Eigentümlichkeiten, ihrer Wortwahl und Wortverbindungen, um ein
stümperndes und zusammenstöppelndes Versemachen daran zu schließen und
daraus eine ganz trügliche Selbstschätzung zu ziehen und eine unfruchtbare
Genugthuung! wie unzulänglich auch das emsig gepflegte Wissen von all jenen
Einzelnormen und wirklichen oder vermeintlichen Künsten in der Kunst! und
wie wenig schützbar das prunkende Zitieren auswendig gelernter Dichterstellen
als eine bloße Legitimation erhaltner Schulbildung, gcpflogner Beschäftigung
mit dem schwierig fremden Schrifttum, ohne die Gewißheit innerlichen Ver¬
ständnisses und anschaulicher Nachempfindung! wie unbefriedigend erscheint das
uns — oder sollte es uns erscheinen!

Doch immerhin — an aller fremdartigen Poesie bleibt die äußere Form
für uns bedeutender als an der nationalen. Wohl gelingt es den empfänglichsten
und geübtesten Geistern auch da, wenigstens gewissen Werken oder Dichtern
gegenüber, so in den Genuß des Innern, d. h. des Innern zugleich mit dem
Äußern, einzudringen, daß sie eine Liebe dafür hegen können wie sür das eigne,
muttersprachliche Gut, ja vielleicht mehr Liebe hegen, weil sie länger um die
Würdigung haben ringen müssen. Aber das ist Ausnahme, deu meisten kann
das nicht beschieden sein, sie täuschen sich, wenn sie es glauben, oder sie sind
eines ganz vollen Empfindens sür Dichtung überhaupt nicht fähig. Im allgemeinen
bleibt uns an der fremden Poesie die Schale fester und dicker, und so gewiß
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[0393] Poesie und Erziehung Lehrenden dahin, zurückzusinken in verstandesmäßig-formalistische Behandlung der lebensvollen antiken Poesie, immer wieder waren es mehr nur Einzelne, die Begeisterung und Klarheit genug verbanden, daß sie zugleich erfreuen und bilden konnten. Die Atmosphäre der Schule ist chemisch so geartet, daß darin nur echtes Gold des Fühlens seinen Klang und Glanz behält, minderwertige Substanz dagegen falsche Verbindungen eingeht und ihnen erliegt. Aber die Erkenntnis dieser Gefahr wenigstens ist von Jahrzehnt zu Jahrzehnt allgemeiner geworden, und viel größer doch wohl die Zahl derer, die über sich selbst wachen, daß sie nicht im Kleinlichen aufgehn und im Formaten. Es ist so viel gescholten worden auf das Handwerkertum, das da an Stelle der Kunst geübt werde, gescholten von draußen her und glücklicherweise noch mehr von innen, aus dem Kreise der Lehrenden selbst, daß die Gewissen denn doch wacher bleiben und die Geister beweglicher, abgesehen davon, daß doch auch die wissenschaftliche Vorbildung die jungen Fachleute über gewisse enge Wege der Vergangenheit erhebt. Auch giebt wohl die Gefahr, die antike Litteratur ganz und gar aus den höhern Bildungsanstalten hinausgedrängt zu sehen, doppelten Ernst der Bemühung ein, ihre Lebenskraft fühlbar bleiben zu lassen. Wie seltsam erscheint uns jetzt, was in vergangnen Zeiten so allgemein war: daß fremde Dichtwerke zum Zweck der übenden Nachahmung geboten wurden, der Beobachtung ihrer bloßen Kunstmittel, ihrer kleinen Linien und äußern Eigentümlichkeiten, ihrer Wortwahl und Wortverbindungen, um ein stümperndes und zusammenstöppelndes Versemachen daran zu schließen und daraus eine ganz trügliche Selbstschätzung zu ziehen und eine unfruchtbare Genugthuung! wie unzulänglich auch das emsig gepflegte Wissen von all jenen Einzelnormen und wirklichen oder vermeintlichen Künsten in der Kunst! und wie wenig schützbar das prunkende Zitieren auswendig gelernter Dichterstellen als eine bloße Legitimation erhaltner Schulbildung, gcpflogner Beschäftigung mit dem schwierig fremden Schrifttum, ohne die Gewißheit innerlichen Ver¬ ständnisses und anschaulicher Nachempfindung! wie unbefriedigend erscheint das uns — oder sollte es uns erscheinen! Doch immerhin — an aller fremdartigen Poesie bleibt die äußere Form für uns bedeutender als an der nationalen. Wohl gelingt es den empfänglichsten und geübtesten Geistern auch da, wenigstens gewissen Werken oder Dichtern gegenüber, so in den Genuß des Innern, d. h. des Innern zugleich mit dem Äußern, einzudringen, daß sie eine Liebe dafür hegen können wie sür das eigne, muttersprachliche Gut, ja vielleicht mehr Liebe hegen, weil sie länger um die Würdigung haben ringen müssen. Aber das ist Ausnahme, deu meisten kann das nicht beschieden sein, sie täuschen sich, wenn sie es glauben, oder sie sind eines ganz vollen Empfindens sür Dichtung überhaupt nicht fähig. Im allgemeinen bleibt uns an der fremden Poesie die Schale fester und dicker, und so gewiß es seinen Reiz hat, durch sie hindurchzudringen: daß die weichere und saftvollere Grenzboten I 1899 4!>

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/393>, abgerufen am 23.07.2024.