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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Poesie und Erziehung

an dem großen Urquell Homer, entnimmt dort Anregung oder Stoff, Bild,
Schilderung, Einzelgegenstand; aber im ganzen steht diese Dichtung zu hoch,
zu sehr geweiht und geheiligt da, man bleibt, das ganze große Volk bleibt ihr
gegenüber empfangend und empfänglich. Formgefühl und Jnhaltsfreude, Bildung
und Begeisterung werden in gleicher Weise daraus gewonnen. Den Begriff des
rechten "Lehrguts" (den unter den Pädagogen Otto Wittmann besonders
hervorhebt), eines Lehrguts, das seinen Wert in sich selber hat, von den
Erwachsenen in ihrer Lehrzeit empfangen und dann bewahrt wurde, um den
nachwachsenden immer wieder überliefert zu werden, diesen Begriff verwirklicht
jene Dichtung in idealer Weise.

Dennoch haben auch dort die Hände nicht unterlassen, das Gut vielfach hin
und her zu wenden, und kleine Geister wie auch größere haben schon zeitig daran
gedeutet, haben hineingedeutet, was ihre Weisheit war. So unmittelbar bleibt
das Empfinden einer lungern Reihe von Generationen nicht, daß nicht die
Reflexion sich zerteilend hineindrängte, die Wirkung sich abschwächte und auch
fremde und feindliche Strömungen ihre Kraft übten. Die großen Lehrer der
Weltweisheit haben nicht immer die großen Dichter gelten lassen, Plato hat nicht
nur für geringere Poeten, sondern auch für Homer schweren Tadel; Heraklit
muß ihm noch weniger freundlich gewesen sein. Und wo doziert und geschult
werden soll, sei das Ziel der Schulung und Bildung ein noch so schönes, da
wird allenthalben leicht geschulmeistert, es werden nicht bloß die Zöglinge
gemeistert, sondern irgendwie anch die Meister, an denen sie sich erheben und
bilden sollen. So wurde auch dort umschrieben und beurteilt, erläutert und
ausgenutzt, und eine alexandrinische Periode folgte der athenischen gewissermaßen
so notwendig oder doch so natürlich wie im Jahreslauf der Natur die Zeit
der Astern und Georginen auf die der Veilchen und Rosen folgt. In eine
Schule rhetorischer Kunst mündet vielfach das ein, was als Hinbildung zum
nachempfinden des Schönen begann. Aber daß solche Bildung eins der großen
Ziele griechischer Jugenderziehung war und lange blieb, das ist doch einer der
schönen und vorbildlichen Züge in dem Lebensbilde des hellenischen Volkes.
Insbesondre auch das nationale Drama mit vollem und feinem Verständnis
ausführen zu sehen, galt als ein Ziel der Erziehung, und das zuweilen zitierte
Wort Aristipps, daß der junge Grieche dahin kommen müsse, auf den Stein-
sitzen des Theaters -- nicht selber ein Stein -- zu sitzen, können auch andre
Zeiten sich zu eigen machen, auf deren hölzernen Schauspielhaussitzen Zuhörer
von Holz nicht weniger unerwünscht sind.

Rom nannte keinen Homer sein eigen, aber es durfte sich den griechischen
Homer zu eigen machen, und wiederum ist das Anschauen und Einprägen edler
griechischer Dichtung ein Stück der höhern Jugenderziehung in der Periode
römischer Humanität. Doch auch die Dichter der eignen Zunge werden zu
demselben Zweck ernstlich und bewußt herbeigezogen: Ennius mit seinen Vater-


Poesie und Erziehung

an dem großen Urquell Homer, entnimmt dort Anregung oder Stoff, Bild,
Schilderung, Einzelgegenstand; aber im ganzen steht diese Dichtung zu hoch,
zu sehr geweiht und geheiligt da, man bleibt, das ganze große Volk bleibt ihr
gegenüber empfangend und empfänglich. Formgefühl und Jnhaltsfreude, Bildung
und Begeisterung werden in gleicher Weise daraus gewonnen. Den Begriff des
rechten „Lehrguts" (den unter den Pädagogen Otto Wittmann besonders
hervorhebt), eines Lehrguts, das seinen Wert in sich selber hat, von den
Erwachsenen in ihrer Lehrzeit empfangen und dann bewahrt wurde, um den
nachwachsenden immer wieder überliefert zu werden, diesen Begriff verwirklicht
jene Dichtung in idealer Weise.

Dennoch haben auch dort die Hände nicht unterlassen, das Gut vielfach hin
und her zu wenden, und kleine Geister wie auch größere haben schon zeitig daran
gedeutet, haben hineingedeutet, was ihre Weisheit war. So unmittelbar bleibt
das Empfinden einer lungern Reihe von Generationen nicht, daß nicht die
Reflexion sich zerteilend hineindrängte, die Wirkung sich abschwächte und auch
fremde und feindliche Strömungen ihre Kraft übten. Die großen Lehrer der
Weltweisheit haben nicht immer die großen Dichter gelten lassen, Plato hat nicht
nur für geringere Poeten, sondern auch für Homer schweren Tadel; Heraklit
muß ihm noch weniger freundlich gewesen sein. Und wo doziert und geschult
werden soll, sei das Ziel der Schulung und Bildung ein noch so schönes, da
wird allenthalben leicht geschulmeistert, es werden nicht bloß die Zöglinge
gemeistert, sondern irgendwie anch die Meister, an denen sie sich erheben und
bilden sollen. So wurde auch dort umschrieben und beurteilt, erläutert und
ausgenutzt, und eine alexandrinische Periode folgte der athenischen gewissermaßen
so notwendig oder doch so natürlich wie im Jahreslauf der Natur die Zeit
der Astern und Georginen auf die der Veilchen und Rosen folgt. In eine
Schule rhetorischer Kunst mündet vielfach das ein, was als Hinbildung zum
nachempfinden des Schönen begann. Aber daß solche Bildung eins der großen
Ziele griechischer Jugenderziehung war und lange blieb, das ist doch einer der
schönen und vorbildlichen Züge in dem Lebensbilde des hellenischen Volkes.
Insbesondre auch das nationale Drama mit vollem und feinem Verständnis
ausführen zu sehen, galt als ein Ziel der Erziehung, und das zuweilen zitierte
Wort Aristipps, daß der junge Grieche dahin kommen müsse, auf den Stein-
sitzen des Theaters — nicht selber ein Stein — zu sitzen, können auch andre
Zeiten sich zu eigen machen, auf deren hölzernen Schauspielhaussitzen Zuhörer
von Holz nicht weniger unerwünscht sind.

Rom nannte keinen Homer sein eigen, aber es durfte sich den griechischen
Homer zu eigen machen, und wiederum ist das Anschauen und Einprägen edler
griechischer Dichtung ein Stück der höhern Jugenderziehung in der Periode
römischer Humanität. Doch auch die Dichter der eignen Zunge werden zu
demselben Zweck ernstlich und bewußt herbeigezogen: Ennius mit seinen Vater-


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[0390] Poesie und Erziehung an dem großen Urquell Homer, entnimmt dort Anregung oder Stoff, Bild, Schilderung, Einzelgegenstand; aber im ganzen steht diese Dichtung zu hoch, zu sehr geweiht und geheiligt da, man bleibt, das ganze große Volk bleibt ihr gegenüber empfangend und empfänglich. Formgefühl und Jnhaltsfreude, Bildung und Begeisterung werden in gleicher Weise daraus gewonnen. Den Begriff des rechten „Lehrguts" (den unter den Pädagogen Otto Wittmann besonders hervorhebt), eines Lehrguts, das seinen Wert in sich selber hat, von den Erwachsenen in ihrer Lehrzeit empfangen und dann bewahrt wurde, um den nachwachsenden immer wieder überliefert zu werden, diesen Begriff verwirklicht jene Dichtung in idealer Weise. Dennoch haben auch dort die Hände nicht unterlassen, das Gut vielfach hin und her zu wenden, und kleine Geister wie auch größere haben schon zeitig daran gedeutet, haben hineingedeutet, was ihre Weisheit war. So unmittelbar bleibt das Empfinden einer lungern Reihe von Generationen nicht, daß nicht die Reflexion sich zerteilend hineindrängte, die Wirkung sich abschwächte und auch fremde und feindliche Strömungen ihre Kraft übten. Die großen Lehrer der Weltweisheit haben nicht immer die großen Dichter gelten lassen, Plato hat nicht nur für geringere Poeten, sondern auch für Homer schweren Tadel; Heraklit muß ihm noch weniger freundlich gewesen sein. Und wo doziert und geschult werden soll, sei das Ziel der Schulung und Bildung ein noch so schönes, da wird allenthalben leicht geschulmeistert, es werden nicht bloß die Zöglinge gemeistert, sondern irgendwie anch die Meister, an denen sie sich erheben und bilden sollen. So wurde auch dort umschrieben und beurteilt, erläutert und ausgenutzt, und eine alexandrinische Periode folgte der athenischen gewissermaßen so notwendig oder doch so natürlich wie im Jahreslauf der Natur die Zeit der Astern und Georginen auf die der Veilchen und Rosen folgt. In eine Schule rhetorischer Kunst mündet vielfach das ein, was als Hinbildung zum nachempfinden des Schönen begann. Aber daß solche Bildung eins der großen Ziele griechischer Jugenderziehung war und lange blieb, das ist doch einer der schönen und vorbildlichen Züge in dem Lebensbilde des hellenischen Volkes. Insbesondre auch das nationale Drama mit vollem und feinem Verständnis ausführen zu sehen, galt als ein Ziel der Erziehung, und das zuweilen zitierte Wort Aristipps, daß der junge Grieche dahin kommen müsse, auf den Stein- sitzen des Theaters — nicht selber ein Stein — zu sitzen, können auch andre Zeiten sich zu eigen machen, auf deren hölzernen Schauspielhaussitzen Zuhörer von Holz nicht weniger unerwünscht sind. Rom nannte keinen Homer sein eigen, aber es durfte sich den griechischen Homer zu eigen machen, und wiederum ist das Anschauen und Einprägen edler griechischer Dichtung ein Stück der höhern Jugenderziehung in der Periode römischer Humanität. Doch auch die Dichter der eignen Zunge werden zu demselben Zweck ernstlich und bewußt herbeigezogen: Ennius mit seinen Vater-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/390>, abgerufen am 23.07.2024.