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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Islam und Zivilisation

zubringen. Zunächst freilich kommen nun erst alle Kräfte der Zersetzung und
des Unheils zur Geltung. Die Macht des Harems wächst, ebenso die Selbst-
Herrlichkeit und Willkür des Paschas. Die innere Verwaltung verfällt, die
Zivilisation stockt, der Wohlstand nimmt ab. Statt Strenge herrscht Willkür
und Erpressung. Janitscharen und Ulemas sind die eigentlichen Herren des
Staats. Sehr bezeichnend schildert Rankeden Zustand im achtzehnten Jahr¬
hundert: "Denn das war nun gleichsam die bewußte Verfassung des türkischen
Reichs, daß dem Sultan zur Seite ein unabhängiger, thronfähiger Sprosse
des Geschlechts erhalten ward; wenn der regierende Fürst den beiden Körper¬
schaften nicht mehr genügte, ward er vom Throne geworfen und durch seinen
nächsten Verwandten ersetzt. In dieser Monarchie, die als die absoluteste von
allen erschien, war doch die höchste Gewalt nur auf Zeit, mit Borbehalt der
Zurücknahme übertragen. Und auch in der Leitung der Staatsgeschäfte hatten
die Großherren keineswegs freie Hand. Bei der Unterhandlung über den
Frieden von Belgrad (1739) haben die osmanischen Gesandten ihr Festhalten
an den einmal ausgesprochnen Bedingungen damit motiviert, daß es andern
Fürsten eher freistehe, einen Schritt zurückzuthnn, als dem Großherrn, der an
das Dafürhalten seiner Ratsversammlungen geknüpft sei."

Österreich hat nach dem Tode des Prinzen Eugen dessen Orientpolitik
aufgegeben, seine äußere Politik ist in innern deutschen Fragen aufgegangen.
Anstatt seiner ist Rußland seit Peter dem Großen immer wieder angriffsweise
gegen die Türken vorgedrungen. Es war der Lieblingsplan Peters und der
zweiten Katharina, auf den Trümmern der Türkei das griechische Kaiserreich
unter dem Szepter eines russischen Prinzen wieder herzustellen mit der Haupt¬
stadt in Konstantinopel. Im Frieden von Kustschuk-Kainardsche erhielt Ru߬
land Kertsch, Jenikale, Asow und die freie Schiffahrt Angestanden. Von diesem
Frieden datiert der vorwiegende Einfluß Rußlands auf die Pforte.

Seit dem Beginn dieses Jahrhunderts ist die Einführung der europäischen
Zivilisation in der Türkei ernstlich versucht worden; nachdem zwei reform¬
freundliche Sultane dem Fanatismus der Ulemas und der Janitscharen zum
Opfer gefallen waren, ist Mahmud II. der erste entscheidende Schritt gelungen.
Nach achtzehnjähriger stiller Vorbereitung konnte er im Bunde mit den Ulemas
1826 die Janitscharen vernichten und damit die Militärmacht der Staatsgewalt
wieder bedingungslos unterordnen. Den gegenwärtigen Stand der Dinge haben
wir kürzlich in einem andern Aufsatze an dieser Stelle geschildert. Wir begnügen
uns hier mit der Schlußbemerkung, daß die Frage über die Zukunft der Türkei
davon abhängt, ob es gelingt, die Osmanen zur wahren Teilnahme an dem
historischen Leben des Menschengeschlechts und an der europäischen Zivilisation
heranzuziehen. Daß die muhammedanische Religion an sich kein Hindernis



*) Die Osmanen und die spanische Monarchie, Band 35 der Gesamtausgabe, S. 81.
Islam und Zivilisation

zubringen. Zunächst freilich kommen nun erst alle Kräfte der Zersetzung und
des Unheils zur Geltung. Die Macht des Harems wächst, ebenso die Selbst-
Herrlichkeit und Willkür des Paschas. Die innere Verwaltung verfällt, die
Zivilisation stockt, der Wohlstand nimmt ab. Statt Strenge herrscht Willkür
und Erpressung. Janitscharen und Ulemas sind die eigentlichen Herren des
Staats. Sehr bezeichnend schildert Rankeden Zustand im achtzehnten Jahr¬
hundert: „Denn das war nun gleichsam die bewußte Verfassung des türkischen
Reichs, daß dem Sultan zur Seite ein unabhängiger, thronfähiger Sprosse
des Geschlechts erhalten ward; wenn der regierende Fürst den beiden Körper¬
schaften nicht mehr genügte, ward er vom Throne geworfen und durch seinen
nächsten Verwandten ersetzt. In dieser Monarchie, die als die absoluteste von
allen erschien, war doch die höchste Gewalt nur auf Zeit, mit Borbehalt der
Zurücknahme übertragen. Und auch in der Leitung der Staatsgeschäfte hatten
die Großherren keineswegs freie Hand. Bei der Unterhandlung über den
Frieden von Belgrad (1739) haben die osmanischen Gesandten ihr Festhalten
an den einmal ausgesprochnen Bedingungen damit motiviert, daß es andern
Fürsten eher freistehe, einen Schritt zurückzuthnn, als dem Großherrn, der an
das Dafürhalten seiner Ratsversammlungen geknüpft sei."

Österreich hat nach dem Tode des Prinzen Eugen dessen Orientpolitik
aufgegeben, seine äußere Politik ist in innern deutschen Fragen aufgegangen.
Anstatt seiner ist Rußland seit Peter dem Großen immer wieder angriffsweise
gegen die Türken vorgedrungen. Es war der Lieblingsplan Peters und der
zweiten Katharina, auf den Trümmern der Türkei das griechische Kaiserreich
unter dem Szepter eines russischen Prinzen wieder herzustellen mit der Haupt¬
stadt in Konstantinopel. Im Frieden von Kustschuk-Kainardsche erhielt Ru߬
land Kertsch, Jenikale, Asow und die freie Schiffahrt Angestanden. Von diesem
Frieden datiert der vorwiegende Einfluß Rußlands auf die Pforte.

Seit dem Beginn dieses Jahrhunderts ist die Einführung der europäischen
Zivilisation in der Türkei ernstlich versucht worden; nachdem zwei reform¬
freundliche Sultane dem Fanatismus der Ulemas und der Janitscharen zum
Opfer gefallen waren, ist Mahmud II. der erste entscheidende Schritt gelungen.
Nach achtzehnjähriger stiller Vorbereitung konnte er im Bunde mit den Ulemas
1826 die Janitscharen vernichten und damit die Militärmacht der Staatsgewalt
wieder bedingungslos unterordnen. Den gegenwärtigen Stand der Dinge haben
wir kürzlich in einem andern Aufsatze an dieser Stelle geschildert. Wir begnügen
uns hier mit der Schlußbemerkung, daß die Frage über die Zukunft der Türkei
davon abhängt, ob es gelingt, die Osmanen zur wahren Teilnahme an dem
historischen Leben des Menschengeschlechts und an der europäischen Zivilisation
heranzuziehen. Daß die muhammedanische Religion an sich kein Hindernis



*) Die Osmanen und die spanische Monarchie, Band 35 der Gesamtausgabe, S. 81.
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[0387] Islam und Zivilisation zubringen. Zunächst freilich kommen nun erst alle Kräfte der Zersetzung und des Unheils zur Geltung. Die Macht des Harems wächst, ebenso die Selbst- Herrlichkeit und Willkür des Paschas. Die innere Verwaltung verfällt, die Zivilisation stockt, der Wohlstand nimmt ab. Statt Strenge herrscht Willkür und Erpressung. Janitscharen und Ulemas sind die eigentlichen Herren des Staats. Sehr bezeichnend schildert Rankeden Zustand im achtzehnten Jahr¬ hundert: „Denn das war nun gleichsam die bewußte Verfassung des türkischen Reichs, daß dem Sultan zur Seite ein unabhängiger, thronfähiger Sprosse des Geschlechts erhalten ward; wenn der regierende Fürst den beiden Körper¬ schaften nicht mehr genügte, ward er vom Throne geworfen und durch seinen nächsten Verwandten ersetzt. In dieser Monarchie, die als die absoluteste von allen erschien, war doch die höchste Gewalt nur auf Zeit, mit Borbehalt der Zurücknahme übertragen. Und auch in der Leitung der Staatsgeschäfte hatten die Großherren keineswegs freie Hand. Bei der Unterhandlung über den Frieden von Belgrad (1739) haben die osmanischen Gesandten ihr Festhalten an den einmal ausgesprochnen Bedingungen damit motiviert, daß es andern Fürsten eher freistehe, einen Schritt zurückzuthnn, als dem Großherrn, der an das Dafürhalten seiner Ratsversammlungen geknüpft sei." Österreich hat nach dem Tode des Prinzen Eugen dessen Orientpolitik aufgegeben, seine äußere Politik ist in innern deutschen Fragen aufgegangen. Anstatt seiner ist Rußland seit Peter dem Großen immer wieder angriffsweise gegen die Türken vorgedrungen. Es war der Lieblingsplan Peters und der zweiten Katharina, auf den Trümmern der Türkei das griechische Kaiserreich unter dem Szepter eines russischen Prinzen wieder herzustellen mit der Haupt¬ stadt in Konstantinopel. Im Frieden von Kustschuk-Kainardsche erhielt Ru߬ land Kertsch, Jenikale, Asow und die freie Schiffahrt Angestanden. Von diesem Frieden datiert der vorwiegende Einfluß Rußlands auf die Pforte. Seit dem Beginn dieses Jahrhunderts ist die Einführung der europäischen Zivilisation in der Türkei ernstlich versucht worden; nachdem zwei reform¬ freundliche Sultane dem Fanatismus der Ulemas und der Janitscharen zum Opfer gefallen waren, ist Mahmud II. der erste entscheidende Schritt gelungen. Nach achtzehnjähriger stiller Vorbereitung konnte er im Bunde mit den Ulemas 1826 die Janitscharen vernichten und damit die Militärmacht der Staatsgewalt wieder bedingungslos unterordnen. Den gegenwärtigen Stand der Dinge haben wir kürzlich in einem andern Aufsatze an dieser Stelle geschildert. Wir begnügen uns hier mit der Schlußbemerkung, daß die Frage über die Zukunft der Türkei davon abhängt, ob es gelingt, die Osmanen zur wahren Teilnahme an dem historischen Leben des Menschengeschlechts und an der europäischen Zivilisation heranzuziehen. Daß die muhammedanische Religion an sich kein Hindernis *) Die Osmanen und die spanische Monarchie, Band 35 der Gesamtausgabe, S. 81.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/387>, abgerufen am 23.07.2024.