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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Islam und Zivilisation

großen Bibliothek von Bagdad. Hier vollzog sich die Verbindung zwischen
syrisch-christlicher Gelehrsamkeit, persischer Phantasie und arabischer Beobach¬
tungsschärfe, hier flössen die Einkünfte aller Provinzen zusammen. Aber nur
unter den ersten Abbassiden, die sich auf die Gemäßigten aller Parteien stützten,
scheint eine geordnete und gute Finanzverwaltung bestanden zu haben; bald
entwickelte sich das Regierungssystem zu einem großartigen Raubbau. Die
Einnahmen auch der reichsten Provinzen konnten auf die Dauer dem Übermut
der aus berberischen und türkischen Söldnern bestehenden Soldateska, der Ge¬
wissenlosigkeit und Raubsucht der Beamten und der Verschwendung des Hofes
nicht genügen. Da die Herrscher die fremden Söldnerscharcn zwar nicht ent¬
behren, ihnen aber auch nicht völlig vertrauen konnten, so suchte der dritte
Nachfolger Mamuns, Mutawakkil -- um 850 --, in der orthodoxen Geistlich¬
keit und in den von dieser geleiteten Volksmassen seine Stütze und ging völlig
zur Orthodoxie über. Die bis dahin herrschende freisinnige Richtung ward
endgiltig verlasse", und der in der dialektischen Schule der Rationalisten auf¬
gewachsene Dogmatiker Al-Aschari ist es gewesen, der, wie A. Müller sagt,
das "scholastische Netz um die muhammedanischen Völker geknüpft hat, das bis
zum heutigen Tage jede selbständige Regung des Geistes hindert." Die Knebe¬
lung des geistigen Lebens eines Volkes hat aber bisher immer nur verderbliche
Folgen gehabt. Nur die islamitische Geistlichkeit hatte zunächst den Gewinn.
Die seldschukischen Soldtruppen wurden trotzdem bald zu Prätorianern und
Herren; Palast- und Militärrevolutionen folgten sich schnell aufeinander, und
seit der Mitte des zehnten Jahrhunderts ist der Kauf nur noch ein Schatten-
Herrscher in den Händen des obersten Truppenbefehlshabers.

Zu diesem Zeitpunkt bestanden drei Kalifen neben einander. Der einzige
den Abbassiden entkvmmne Abkömmling der Omaijaden war 755 nach Spanien
gekommen und dort der Begründer einer neuen Dynastie geworden, die 929
den Kalifentitel annahm und die maurisch-spanische Große herbeiführte. Unter
den gequälten und ausgeraubten Unterthanen der Abbassiden hatte zu Beginn
des zehnten Jahrhunderts die atheistische und anarchistische Verbindung der
Jsmaeliten Verbreitung gefunden. Ein Jsmaelit, Namens Obeidallcch, kam
nach Tunis; indem er sich für einen Abkömmling von Ali (dem dritten Kalifen)
und Fatme, der Tochter des Propheten, ausgab, gelang es ihm im Jahre 910,
die Herrschaft an sich zu reißen und sich zum rechtmäßigen Kalifen zu erklären.
Von ihm stammt die sabinische Dynastie der Fatimiden, die noch im zehnten
Jahrhundert Ägypten und auch Syrien eroberte. Zwei Jahrhunderte herrschten
die Fatimiden im ganzen segensreich; die spätern Herrscher zeigten sich als
schwache Persönlichkeiten und kamen bei ihrer feindseligen Stellung zu den
Abbassiden ins Gedränge zwischen ihren Vezieren, den Kreuzfahrern und den
von Nordsyrien her vordringenden türkischen und kurdischen Emiren. Der letzte
mußte die Leitung des Staates dem kurdischen Heerführer Schirkuh als Vezier


Islam und Zivilisation

großen Bibliothek von Bagdad. Hier vollzog sich die Verbindung zwischen
syrisch-christlicher Gelehrsamkeit, persischer Phantasie und arabischer Beobach¬
tungsschärfe, hier flössen die Einkünfte aller Provinzen zusammen. Aber nur
unter den ersten Abbassiden, die sich auf die Gemäßigten aller Parteien stützten,
scheint eine geordnete und gute Finanzverwaltung bestanden zu haben; bald
entwickelte sich das Regierungssystem zu einem großartigen Raubbau. Die
Einnahmen auch der reichsten Provinzen konnten auf die Dauer dem Übermut
der aus berberischen und türkischen Söldnern bestehenden Soldateska, der Ge¬
wissenlosigkeit und Raubsucht der Beamten und der Verschwendung des Hofes
nicht genügen. Da die Herrscher die fremden Söldnerscharcn zwar nicht ent¬
behren, ihnen aber auch nicht völlig vertrauen konnten, so suchte der dritte
Nachfolger Mamuns, Mutawakkil — um 850 —, in der orthodoxen Geistlich¬
keit und in den von dieser geleiteten Volksmassen seine Stütze und ging völlig
zur Orthodoxie über. Die bis dahin herrschende freisinnige Richtung ward
endgiltig verlasse», und der in der dialektischen Schule der Rationalisten auf¬
gewachsene Dogmatiker Al-Aschari ist es gewesen, der, wie A. Müller sagt,
das „scholastische Netz um die muhammedanischen Völker geknüpft hat, das bis
zum heutigen Tage jede selbständige Regung des Geistes hindert." Die Knebe¬
lung des geistigen Lebens eines Volkes hat aber bisher immer nur verderbliche
Folgen gehabt. Nur die islamitische Geistlichkeit hatte zunächst den Gewinn.
Die seldschukischen Soldtruppen wurden trotzdem bald zu Prätorianern und
Herren; Palast- und Militärrevolutionen folgten sich schnell aufeinander, und
seit der Mitte des zehnten Jahrhunderts ist der Kauf nur noch ein Schatten-
Herrscher in den Händen des obersten Truppenbefehlshabers.

Zu diesem Zeitpunkt bestanden drei Kalifen neben einander. Der einzige
den Abbassiden entkvmmne Abkömmling der Omaijaden war 755 nach Spanien
gekommen und dort der Begründer einer neuen Dynastie geworden, die 929
den Kalifentitel annahm und die maurisch-spanische Große herbeiführte. Unter
den gequälten und ausgeraubten Unterthanen der Abbassiden hatte zu Beginn
des zehnten Jahrhunderts die atheistische und anarchistische Verbindung der
Jsmaeliten Verbreitung gefunden. Ein Jsmaelit, Namens Obeidallcch, kam
nach Tunis; indem er sich für einen Abkömmling von Ali (dem dritten Kalifen)
und Fatme, der Tochter des Propheten, ausgab, gelang es ihm im Jahre 910,
die Herrschaft an sich zu reißen und sich zum rechtmäßigen Kalifen zu erklären.
Von ihm stammt die sabinische Dynastie der Fatimiden, die noch im zehnten
Jahrhundert Ägypten und auch Syrien eroberte. Zwei Jahrhunderte herrschten
die Fatimiden im ganzen segensreich; die spätern Herrscher zeigten sich als
schwache Persönlichkeiten und kamen bei ihrer feindseligen Stellung zu den
Abbassiden ins Gedränge zwischen ihren Vezieren, den Kreuzfahrern und den
von Nordsyrien her vordringenden türkischen und kurdischen Emiren. Der letzte
mußte die Leitung des Staates dem kurdischen Heerführer Schirkuh als Vezier


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[0381] Islam und Zivilisation großen Bibliothek von Bagdad. Hier vollzog sich die Verbindung zwischen syrisch-christlicher Gelehrsamkeit, persischer Phantasie und arabischer Beobach¬ tungsschärfe, hier flössen die Einkünfte aller Provinzen zusammen. Aber nur unter den ersten Abbassiden, die sich auf die Gemäßigten aller Parteien stützten, scheint eine geordnete und gute Finanzverwaltung bestanden zu haben; bald entwickelte sich das Regierungssystem zu einem großartigen Raubbau. Die Einnahmen auch der reichsten Provinzen konnten auf die Dauer dem Übermut der aus berberischen und türkischen Söldnern bestehenden Soldateska, der Ge¬ wissenlosigkeit und Raubsucht der Beamten und der Verschwendung des Hofes nicht genügen. Da die Herrscher die fremden Söldnerscharcn zwar nicht ent¬ behren, ihnen aber auch nicht völlig vertrauen konnten, so suchte der dritte Nachfolger Mamuns, Mutawakkil — um 850 —, in der orthodoxen Geistlich¬ keit und in den von dieser geleiteten Volksmassen seine Stütze und ging völlig zur Orthodoxie über. Die bis dahin herrschende freisinnige Richtung ward endgiltig verlasse», und der in der dialektischen Schule der Rationalisten auf¬ gewachsene Dogmatiker Al-Aschari ist es gewesen, der, wie A. Müller sagt, das „scholastische Netz um die muhammedanischen Völker geknüpft hat, das bis zum heutigen Tage jede selbständige Regung des Geistes hindert." Die Knebe¬ lung des geistigen Lebens eines Volkes hat aber bisher immer nur verderbliche Folgen gehabt. Nur die islamitische Geistlichkeit hatte zunächst den Gewinn. Die seldschukischen Soldtruppen wurden trotzdem bald zu Prätorianern und Herren; Palast- und Militärrevolutionen folgten sich schnell aufeinander, und seit der Mitte des zehnten Jahrhunderts ist der Kauf nur noch ein Schatten- Herrscher in den Händen des obersten Truppenbefehlshabers. Zu diesem Zeitpunkt bestanden drei Kalifen neben einander. Der einzige den Abbassiden entkvmmne Abkömmling der Omaijaden war 755 nach Spanien gekommen und dort der Begründer einer neuen Dynastie geworden, die 929 den Kalifentitel annahm und die maurisch-spanische Große herbeiführte. Unter den gequälten und ausgeraubten Unterthanen der Abbassiden hatte zu Beginn des zehnten Jahrhunderts die atheistische und anarchistische Verbindung der Jsmaeliten Verbreitung gefunden. Ein Jsmaelit, Namens Obeidallcch, kam nach Tunis; indem er sich für einen Abkömmling von Ali (dem dritten Kalifen) und Fatme, der Tochter des Propheten, ausgab, gelang es ihm im Jahre 910, die Herrschaft an sich zu reißen und sich zum rechtmäßigen Kalifen zu erklären. Von ihm stammt die sabinische Dynastie der Fatimiden, die noch im zehnten Jahrhundert Ägypten und auch Syrien eroberte. Zwei Jahrhunderte herrschten die Fatimiden im ganzen segensreich; die spätern Herrscher zeigten sich als schwache Persönlichkeiten und kamen bei ihrer feindseligen Stellung zu den Abbassiden ins Gedränge zwischen ihren Vezieren, den Kreuzfahrern und den von Nordsyrien her vordringenden türkischen und kurdischen Emiren. Der letzte mußte die Leitung des Staates dem kurdischen Heerführer Schirkuh als Vezier

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/381>, abgerufen am 03.07.2024.