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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Reinhold

dem Staatsgesetze von der Obrigkeit zusammengebracht und zusammengehalten
werden, so ist ihre Organisation anders als durch die Verwendung zugkräftiger
Schlagwörter und durch die Erregung von Leidenschaften nicht möglich. In
der That hat es denn auch noch nie eine erfolgreiche politische Partei gegeben,
der nicht von den Gegnern Demagogie vorgeworfen worden wäre. Mit Recht,
sofern sie in der That demagogisch verfährt; mit Unrecht, sofern es eben ein
Vorwurf sein soll; auf Demagogie verzichten, heißt auf die Teilnahme am
öffentlichen Leben verzichten und sich auf den Standpunkt des theoretischen
Beobachters zurückziehn, der, wenn er über politische Dinge schreibt und spricht,
nur der Wissenschaft wegen oder zum Zeitvertreib und nicht zu einem prak¬
tischen Zwecke schreibt und spricht. Ausdrücke wie "empörend" und "gehässig",
die Sie Seite 474 bis 475 von einigen Wendungen Fr. Albert Langes ge¬
brauchen, haben in dem Munde eines grundsätzlichen "Struggleforlifeurs" gar
keinen Sinn und sind noch dazu im vorliegenden Falle illoyal, denn im Grunde
genommen sagt Lange mit seinen Ihnen so mißfälligen Ausführungen nichts
andres, als was Sie selbst 393 ff. und sonst öfter sagen, daß in England der
Sozialismus ungefährlich sei, weil sich dort die Arbeiter unbeschränkter Rede-
und Organisationsfreiheit erfreuen, daß er dagegen in Deutschland revolutionär
sei und gefährlich werden könne, weil diese Freiheit fehle."

So ungefähr würde in dem unwahrscheinlichen Falle, daß ein "Genosse"
Reinholds Buch läse, dieser Genosse sprechen. Dem habe ich nur noch weniges
beizufügen. Reinhold wirft den "Kathedersozialisten." namentlich aber Adolf
Wagner vor, daß sie Illusionen genährt und unerfüllbare Hoffnungen erregt
hätten. Bei wem denn? Bei den Arbeitern nicht; denn denen werden von
ihren Führern die "bürgerlichen" Ökonomen als unfähige Schwachköpfe, Fasel¬
hänse und Wirrköpfe dargestellt. Wenn sie aber bei Beamten, bei Geistlichen,
bei wohlwollenden Unternehmern die Hoffnung erregt haben, daß sich zur
Besserung der Lage der Lohnarbeiter, zur Ausgleichung der Gegensätze und
zur Herbeiführung einer gesundem Einkommenverteilung etwas thun lasse, so
verdienen sie hohes Lob. Hegt man eine übertriebne Vorstellung von dem
Erreichbaren, schadet das gar nichts. Reinhold weiß nicht, was er thut, wenn
er über die Geringfügigkeit des bisher, z. V. in der Bekämpfung der
Wohnungsnot, wirklich Erreichten spottet. Daß Illusionen notwendig sind,
übertriebne Erwartungen auf großartige Erfolge, wie sie der sanguinische
Optimismus erzeugt, wenn überhaupt etwas geschehen und auch nur ein
weniges erreicht werden soll, das wird denn doch schon seit langem von
allen Lebenserfahrnen anerkannt. Wohl treibt still auf geretteten Kahn in
den Hafen der Greis, aber hätte er als Jüngling nicht tausend Hoffnungs¬
masten aufzustecken gehabt, so würde er überhaupt nicht hinausgefahren sein.
Daß die Beschränkung auf das Erreichbare den Erfolg sichere, gilt nur vom
einzelnen Falle in der praktischen Politik; von einem Gesetzentwurf, einem


Grenzboten I 1899 46
Reinhold

dem Staatsgesetze von der Obrigkeit zusammengebracht und zusammengehalten
werden, so ist ihre Organisation anders als durch die Verwendung zugkräftiger
Schlagwörter und durch die Erregung von Leidenschaften nicht möglich. In
der That hat es denn auch noch nie eine erfolgreiche politische Partei gegeben,
der nicht von den Gegnern Demagogie vorgeworfen worden wäre. Mit Recht,
sofern sie in der That demagogisch verfährt; mit Unrecht, sofern es eben ein
Vorwurf sein soll; auf Demagogie verzichten, heißt auf die Teilnahme am
öffentlichen Leben verzichten und sich auf den Standpunkt des theoretischen
Beobachters zurückziehn, der, wenn er über politische Dinge schreibt und spricht,
nur der Wissenschaft wegen oder zum Zeitvertreib und nicht zu einem prak¬
tischen Zwecke schreibt und spricht. Ausdrücke wie »empörend« und »gehässig«,
die Sie Seite 474 bis 475 von einigen Wendungen Fr. Albert Langes ge¬
brauchen, haben in dem Munde eines grundsätzlichen »Struggleforlifeurs« gar
keinen Sinn und sind noch dazu im vorliegenden Falle illoyal, denn im Grunde
genommen sagt Lange mit seinen Ihnen so mißfälligen Ausführungen nichts
andres, als was Sie selbst 393 ff. und sonst öfter sagen, daß in England der
Sozialismus ungefährlich sei, weil sich dort die Arbeiter unbeschränkter Rede-
und Organisationsfreiheit erfreuen, daß er dagegen in Deutschland revolutionär
sei und gefährlich werden könne, weil diese Freiheit fehle."

So ungefähr würde in dem unwahrscheinlichen Falle, daß ein „Genosse"
Reinholds Buch läse, dieser Genosse sprechen. Dem habe ich nur noch weniges
beizufügen. Reinhold wirft den „Kathedersozialisten." namentlich aber Adolf
Wagner vor, daß sie Illusionen genährt und unerfüllbare Hoffnungen erregt
hätten. Bei wem denn? Bei den Arbeitern nicht; denn denen werden von
ihren Führern die „bürgerlichen" Ökonomen als unfähige Schwachköpfe, Fasel¬
hänse und Wirrköpfe dargestellt. Wenn sie aber bei Beamten, bei Geistlichen,
bei wohlwollenden Unternehmern die Hoffnung erregt haben, daß sich zur
Besserung der Lage der Lohnarbeiter, zur Ausgleichung der Gegensätze und
zur Herbeiführung einer gesundem Einkommenverteilung etwas thun lasse, so
verdienen sie hohes Lob. Hegt man eine übertriebne Vorstellung von dem
Erreichbaren, schadet das gar nichts. Reinhold weiß nicht, was er thut, wenn
er über die Geringfügigkeit des bisher, z. V. in der Bekämpfung der
Wohnungsnot, wirklich Erreichten spottet. Daß Illusionen notwendig sind,
übertriebne Erwartungen auf großartige Erfolge, wie sie der sanguinische
Optimismus erzeugt, wenn überhaupt etwas geschehen und auch nur ein
weniges erreicht werden soll, das wird denn doch schon seit langem von
allen Lebenserfahrnen anerkannt. Wohl treibt still auf geretteten Kahn in
den Hafen der Greis, aber hätte er als Jüngling nicht tausend Hoffnungs¬
masten aufzustecken gehabt, so würde er überhaupt nicht hinausgefahren sein.
Daß die Beschränkung auf das Erreichbare den Erfolg sichere, gilt nur vom
einzelnen Falle in der praktischen Politik; von einem Gesetzentwurf, einem


Grenzboten I 1899 46
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[0369] Reinhold dem Staatsgesetze von der Obrigkeit zusammengebracht und zusammengehalten werden, so ist ihre Organisation anders als durch die Verwendung zugkräftiger Schlagwörter und durch die Erregung von Leidenschaften nicht möglich. In der That hat es denn auch noch nie eine erfolgreiche politische Partei gegeben, der nicht von den Gegnern Demagogie vorgeworfen worden wäre. Mit Recht, sofern sie in der That demagogisch verfährt; mit Unrecht, sofern es eben ein Vorwurf sein soll; auf Demagogie verzichten, heißt auf die Teilnahme am öffentlichen Leben verzichten und sich auf den Standpunkt des theoretischen Beobachters zurückziehn, der, wenn er über politische Dinge schreibt und spricht, nur der Wissenschaft wegen oder zum Zeitvertreib und nicht zu einem prak¬ tischen Zwecke schreibt und spricht. Ausdrücke wie »empörend« und »gehässig«, die Sie Seite 474 bis 475 von einigen Wendungen Fr. Albert Langes ge¬ brauchen, haben in dem Munde eines grundsätzlichen »Struggleforlifeurs« gar keinen Sinn und sind noch dazu im vorliegenden Falle illoyal, denn im Grunde genommen sagt Lange mit seinen Ihnen so mißfälligen Ausführungen nichts andres, als was Sie selbst 393 ff. und sonst öfter sagen, daß in England der Sozialismus ungefährlich sei, weil sich dort die Arbeiter unbeschränkter Rede- und Organisationsfreiheit erfreuen, daß er dagegen in Deutschland revolutionär sei und gefährlich werden könne, weil diese Freiheit fehle." So ungefähr würde in dem unwahrscheinlichen Falle, daß ein „Genosse" Reinholds Buch läse, dieser Genosse sprechen. Dem habe ich nur noch weniges beizufügen. Reinhold wirft den „Kathedersozialisten." namentlich aber Adolf Wagner vor, daß sie Illusionen genährt und unerfüllbare Hoffnungen erregt hätten. Bei wem denn? Bei den Arbeitern nicht; denn denen werden von ihren Führern die „bürgerlichen" Ökonomen als unfähige Schwachköpfe, Fasel¬ hänse und Wirrköpfe dargestellt. Wenn sie aber bei Beamten, bei Geistlichen, bei wohlwollenden Unternehmern die Hoffnung erregt haben, daß sich zur Besserung der Lage der Lohnarbeiter, zur Ausgleichung der Gegensätze und zur Herbeiführung einer gesundem Einkommenverteilung etwas thun lasse, so verdienen sie hohes Lob. Hegt man eine übertriebne Vorstellung von dem Erreichbaren, schadet das gar nichts. Reinhold weiß nicht, was er thut, wenn er über die Geringfügigkeit des bisher, z. V. in der Bekämpfung der Wohnungsnot, wirklich Erreichten spottet. Daß Illusionen notwendig sind, übertriebne Erwartungen auf großartige Erfolge, wie sie der sanguinische Optimismus erzeugt, wenn überhaupt etwas geschehen und auch nur ein weniges erreicht werden soll, das wird denn doch schon seit langem von allen Lebenserfahrnen anerkannt. Wohl treibt still auf geretteten Kahn in den Hafen der Greis, aber hätte er als Jüngling nicht tausend Hoffnungs¬ masten aufzustecken gehabt, so würde er überhaupt nicht hinausgefahren sein. Daß die Beschränkung auf das Erreichbare den Erfolg sichere, gilt nur vom einzelnen Falle in der praktischen Politik; von einem Gesetzentwurf, einem Grenzboten I 1899 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/369>, abgerufen am 23.07.2024.