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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Reinhold

Die Grundlage seiner Lebensansicht hat Reinhold von Schopenhauer be¬
zogen. Der menschliche Wille ist ein Bruchteil des Weltwillens, und dieser
Weltwille ist nicht allein dumm, wie Schopenhauer und Hartmann wollen,
sondern böse. "Daß der Mensch in seinem Verhalten zu seinen Mitgeschöpfen
selbstsüchtig und böse ist von Jugend auf, steht an der Pforte jeder wahren
Erkenntnis" (S. V). "Der Mensch erscheint der wahren Selbsterkenntnis zwar
als bewundrungswürdiger Idealist im gebräuchlichen Sinne dieses Wortes,
zugleich aber als grausamer Egoist" (S. 24). So unablösbar haftet das Böse
dem Willen an, "daß wir den Willen selbst treffen, wenn wir seinen bösen
Dämon töten" (S. 89). Von einigen besondern Fällen abgesehen, "handelt
der Mensch als wirtschaftlicher Egoist mit einer Unbedenklichkeit und Bestimmt¬
heit, die sein Verfahren eben als einen praktischen Prozeß des Vernunftlebens,
also als notwendig zeigen. Kein Idealismus im gewöhnlichen Sinne des
Wortes, keine Liebe, keine Blutsverwandtschaft, keine Freundschaft und An-
standspflicht -- kurz, nichts auf der Welt wird in solchen Füllen, wo die An¬
eignung und Festhaltung von wirtschaftlichen Gütern als Existenzbedingung
in Betracht kommt und der sinnliche Lebensdrang unmittelbar wirkt, den
edelsten, "selbstlosesten" Menschen abhalten, als Selbstsüchtling sein eignes
Interesse, sein Selbst zu wahren" (S. 138). Daher sind alle Versuche einer
Sozialreform Thorheit. Da die Güter nicht für alle reichen, und da jederzeit
jedermann entschlossen ist. das Wohl des Nächsten seinem eignen Wohl zum
Opfer zu bringen, so muß die Mehrzahl elend sein. Daran läßt sich schlechter¬
dings nichts ändern; die Welt ist, wie sie ist, und bleibt so. In freien Ländern,
wie in England, hat ja das Volk die Gewalt; warum beseitigt es das Elend
nicht? Weil es nicht will. "Jeder hat gerade genug mit sich selbst zu thun;
das Mitleid mit dem Elend der Mitmenschen allein hat noch niemand dahin
gebracht, sein Vermögen mit den Armen zu teilen" (S. 317). Wenn die über
die Unvernunft des sozialen Zustands erstaunte und entrüstete Welt den bösen
Willen der Reichen und der Staatslenker dafür verantwortlich mache, so habe
sie zwar die Schuldigen richtig bezeichnet, aber nicht vollständig genannt, denn
alle Menschen, die Leidenden eingeschlossen, seien gleich böse und in gleichem
Grade schuldig. "Stahlhart ist das Herz, unbarmherzig vor der furchtbaren
Not und unerbittlich dem heißesten Flehen. Sein Besitz scheint ihm nie groß
genug oder gar zu groß. Der Mensch sieht absolut keinen Grund ein, wes¬
halb er etwas aufopfern soll, was er hat, wenn ihm nicht ein Gegenwert ge¬
boten wird; ehe er etwas opfert, ein Gut unentgeltlich abgiebt, zerstört er es
lieber" (S. 405 bis 406). Christentum und Kirche, meint er, griffen das
Problem an der rechten Stelle an, indem sie den sündigen Willen für den
Feind erklärten, der bekämpft werden müsse, aber leider lasse sich der Wille
nicht kreuzigen, und überdies -- sei es sein gutes Recht, sich den Forderungen
des Christentums gegenüber zu behaupten (S. 422).


Reinhold

Die Grundlage seiner Lebensansicht hat Reinhold von Schopenhauer be¬
zogen. Der menschliche Wille ist ein Bruchteil des Weltwillens, und dieser
Weltwille ist nicht allein dumm, wie Schopenhauer und Hartmann wollen,
sondern böse. „Daß der Mensch in seinem Verhalten zu seinen Mitgeschöpfen
selbstsüchtig und böse ist von Jugend auf, steht an der Pforte jeder wahren
Erkenntnis" (S. V). „Der Mensch erscheint der wahren Selbsterkenntnis zwar
als bewundrungswürdiger Idealist im gebräuchlichen Sinne dieses Wortes,
zugleich aber als grausamer Egoist" (S. 24). So unablösbar haftet das Böse
dem Willen an, „daß wir den Willen selbst treffen, wenn wir seinen bösen
Dämon töten" (S. 89). Von einigen besondern Fällen abgesehen, „handelt
der Mensch als wirtschaftlicher Egoist mit einer Unbedenklichkeit und Bestimmt¬
heit, die sein Verfahren eben als einen praktischen Prozeß des Vernunftlebens,
also als notwendig zeigen. Kein Idealismus im gewöhnlichen Sinne des
Wortes, keine Liebe, keine Blutsverwandtschaft, keine Freundschaft und An-
standspflicht — kurz, nichts auf der Welt wird in solchen Füllen, wo die An¬
eignung und Festhaltung von wirtschaftlichen Gütern als Existenzbedingung
in Betracht kommt und der sinnliche Lebensdrang unmittelbar wirkt, den
edelsten, »selbstlosesten« Menschen abhalten, als Selbstsüchtling sein eignes
Interesse, sein Selbst zu wahren" (S. 138). Daher sind alle Versuche einer
Sozialreform Thorheit. Da die Güter nicht für alle reichen, und da jederzeit
jedermann entschlossen ist. das Wohl des Nächsten seinem eignen Wohl zum
Opfer zu bringen, so muß die Mehrzahl elend sein. Daran läßt sich schlechter¬
dings nichts ändern; die Welt ist, wie sie ist, und bleibt so. In freien Ländern,
wie in England, hat ja das Volk die Gewalt; warum beseitigt es das Elend
nicht? Weil es nicht will. „Jeder hat gerade genug mit sich selbst zu thun;
das Mitleid mit dem Elend der Mitmenschen allein hat noch niemand dahin
gebracht, sein Vermögen mit den Armen zu teilen" (S. 317). Wenn die über
die Unvernunft des sozialen Zustands erstaunte und entrüstete Welt den bösen
Willen der Reichen und der Staatslenker dafür verantwortlich mache, so habe
sie zwar die Schuldigen richtig bezeichnet, aber nicht vollständig genannt, denn
alle Menschen, die Leidenden eingeschlossen, seien gleich böse und in gleichem
Grade schuldig. „Stahlhart ist das Herz, unbarmherzig vor der furchtbaren
Not und unerbittlich dem heißesten Flehen. Sein Besitz scheint ihm nie groß
genug oder gar zu groß. Der Mensch sieht absolut keinen Grund ein, wes¬
halb er etwas aufopfern soll, was er hat, wenn ihm nicht ein Gegenwert ge¬
boten wird; ehe er etwas opfert, ein Gut unentgeltlich abgiebt, zerstört er es
lieber" (S. 405 bis 406). Christentum und Kirche, meint er, griffen das
Problem an der rechten Stelle an, indem sie den sündigen Willen für den
Feind erklärten, der bekämpft werden müsse, aber leider lasse sich der Wille
nicht kreuzigen, und überdies — sei es sein gutes Recht, sich den Forderungen
des Christentums gegenüber zu behaupten (S. 422).


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[0359] Reinhold Die Grundlage seiner Lebensansicht hat Reinhold von Schopenhauer be¬ zogen. Der menschliche Wille ist ein Bruchteil des Weltwillens, und dieser Weltwille ist nicht allein dumm, wie Schopenhauer und Hartmann wollen, sondern böse. „Daß der Mensch in seinem Verhalten zu seinen Mitgeschöpfen selbstsüchtig und böse ist von Jugend auf, steht an der Pforte jeder wahren Erkenntnis" (S. V). „Der Mensch erscheint der wahren Selbsterkenntnis zwar als bewundrungswürdiger Idealist im gebräuchlichen Sinne dieses Wortes, zugleich aber als grausamer Egoist" (S. 24). So unablösbar haftet das Böse dem Willen an, „daß wir den Willen selbst treffen, wenn wir seinen bösen Dämon töten" (S. 89). Von einigen besondern Fällen abgesehen, „handelt der Mensch als wirtschaftlicher Egoist mit einer Unbedenklichkeit und Bestimmt¬ heit, die sein Verfahren eben als einen praktischen Prozeß des Vernunftlebens, also als notwendig zeigen. Kein Idealismus im gewöhnlichen Sinne des Wortes, keine Liebe, keine Blutsverwandtschaft, keine Freundschaft und An- standspflicht — kurz, nichts auf der Welt wird in solchen Füllen, wo die An¬ eignung und Festhaltung von wirtschaftlichen Gütern als Existenzbedingung in Betracht kommt und der sinnliche Lebensdrang unmittelbar wirkt, den edelsten, »selbstlosesten« Menschen abhalten, als Selbstsüchtling sein eignes Interesse, sein Selbst zu wahren" (S. 138). Daher sind alle Versuche einer Sozialreform Thorheit. Da die Güter nicht für alle reichen, und da jederzeit jedermann entschlossen ist. das Wohl des Nächsten seinem eignen Wohl zum Opfer zu bringen, so muß die Mehrzahl elend sein. Daran läßt sich schlechter¬ dings nichts ändern; die Welt ist, wie sie ist, und bleibt so. In freien Ländern, wie in England, hat ja das Volk die Gewalt; warum beseitigt es das Elend nicht? Weil es nicht will. „Jeder hat gerade genug mit sich selbst zu thun; das Mitleid mit dem Elend der Mitmenschen allein hat noch niemand dahin gebracht, sein Vermögen mit den Armen zu teilen" (S. 317). Wenn die über die Unvernunft des sozialen Zustands erstaunte und entrüstete Welt den bösen Willen der Reichen und der Staatslenker dafür verantwortlich mache, so habe sie zwar die Schuldigen richtig bezeichnet, aber nicht vollständig genannt, denn alle Menschen, die Leidenden eingeschlossen, seien gleich böse und in gleichem Grade schuldig. „Stahlhart ist das Herz, unbarmherzig vor der furchtbaren Not und unerbittlich dem heißesten Flehen. Sein Besitz scheint ihm nie groß genug oder gar zu groß. Der Mensch sieht absolut keinen Grund ein, wes¬ halb er etwas aufopfern soll, was er hat, wenn ihm nicht ein Gegenwert ge¬ boten wird; ehe er etwas opfert, ein Gut unentgeltlich abgiebt, zerstört er es lieber" (S. 405 bis 406). Christentum und Kirche, meint er, griffen das Problem an der rechten Stelle an, indem sie den sündigen Willen für den Feind erklärten, der bekämpft werden müsse, aber leider lasse sich der Wille nicht kreuzigen, und überdies — sei es sein gutes Recht, sich den Forderungen des Christentums gegenüber zu behaupten (S. 422).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/359>, abgerufen am 23.07.2024.