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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Der goldne Lngel

Wenn der sich das Leben hätte nehmen wollen, meinte der erste, dann hätte
ers schon lange thun können.

Aber wer hätte ihn denn sonst auf die Leiter und an den Balken gebracht?
Achselzucken; bedeutsame Blicke nach dem Grashoffscheu Hofe, wo gerade der Herr
Gendarm eintrat. Sagen durfte man ja nichts. Die Sache ist auch nie aufgeklärt
worden. Aber der Gottliebshvf, der so lange ein totes Stück in der Gemeinde
gewesen war, kam nun in Verruf. Die Grashoffs wurden von jedermann ge¬
mieden. Später haben sie den Hof verkauft und sind weggezogen. Kein Mensch
weiß, wohin.

Gottlieb, der mit so vieler Liebe für sein Begräbnis gesorgt hatte, und der
es gar nicht großartig genug hatte kriegen können, wurde als Selbstmörder in aller
Stille beigescharrt. Kein Mensch geleitete den Sarg, keiner sprach ein Wort. Nur
die Träger schauten nach beendigtem Begräbnis in ihre Hüte, was das Vaterunser
vorstellen sollte. Auch seinen Lebensbaum würde er nicht aufs Grab bekommen haben,
wenn nicht die alte Rose an ihrem Krückstocke zum Herrn Pastor geschlichen wäre
und ihn darauf aufmerksam gemacht hätte, der Lebensbaum im Pfarrgarten gehöre
Gottlieb und sei für sein Grab bestimmt. So wurde denn der Lebensbaum mit
einiger Mühe ausgegraben und auf Gottliebs Grab gepflanzt. Aber angegangen
ist er nicht. Er war schon viel zu alt.




9er goldne Engel
Luise Glaß Erzählung von
(Fortsetzung)

er alte Städel schlief an diesem Svnnabendmorgen lange und gut;
nicht der leiseste Zweifel beunruhigte ihn. Das War alles wohl
berechnet und wohl ausgeführt: sein Ballon würde die Luft durch¬
kreuzen, so sicher wie die Schiffe das Meer.

Hatte er die Probe abgelegt, dann wollte ihn Städel an einen
verständigen Unternehmer verkaufen und mit dem Gelde das Neue
fördern, das sich in der letzten Zeit, wo die Arbeit am Luftschiff immer mehr
aus seinen Händen in die der Arbeiter geglitten war, in seinem Kopf eingenistet
hatte: das Flügelpaar, das dem einzelnen Erdenkind Heimatsrecht zwischen den
Wolken geben würde.

Dreimal schon war Karl in das Schlafzimmer gekommen und hatte sich nicht
entschließen können, des Vaters Kinderschlaf zu stören. Endlich mußte ers doch thun.
Herr Frisch brachte schon zum zweitenmal die Meldung, es seien Fremde in der
Apotheke.

Karl wußte, wer die Fremden waren: ein Offizier von der Luftschifferabteilung,
ein Erfinder, der schon ein paarmal um das Modell gehandelt hatte, und der
Redakteur einer technischen Zeitung -- die drei Einzigen, die man zur Probefahrt
eingeladen hatte.


Der goldne Lngel

Wenn der sich das Leben hätte nehmen wollen, meinte der erste, dann hätte
ers schon lange thun können.

Aber wer hätte ihn denn sonst auf die Leiter und an den Balken gebracht?
Achselzucken; bedeutsame Blicke nach dem Grashoffscheu Hofe, wo gerade der Herr
Gendarm eintrat. Sagen durfte man ja nichts. Die Sache ist auch nie aufgeklärt
worden. Aber der Gottliebshvf, der so lange ein totes Stück in der Gemeinde
gewesen war, kam nun in Verruf. Die Grashoffs wurden von jedermann ge¬
mieden. Später haben sie den Hof verkauft und sind weggezogen. Kein Mensch
weiß, wohin.

Gottlieb, der mit so vieler Liebe für sein Begräbnis gesorgt hatte, und der
es gar nicht großartig genug hatte kriegen können, wurde als Selbstmörder in aller
Stille beigescharrt. Kein Mensch geleitete den Sarg, keiner sprach ein Wort. Nur
die Träger schauten nach beendigtem Begräbnis in ihre Hüte, was das Vaterunser
vorstellen sollte. Auch seinen Lebensbaum würde er nicht aufs Grab bekommen haben,
wenn nicht die alte Rose an ihrem Krückstocke zum Herrn Pastor geschlichen wäre
und ihn darauf aufmerksam gemacht hätte, der Lebensbaum im Pfarrgarten gehöre
Gottlieb und sei für sein Grab bestimmt. So wurde denn der Lebensbaum mit
einiger Mühe ausgegraben und auf Gottliebs Grab gepflanzt. Aber angegangen
ist er nicht. Er war schon viel zu alt.




9er goldne Engel
Luise Glaß Erzählung von
(Fortsetzung)

er alte Städel schlief an diesem Svnnabendmorgen lange und gut;
nicht der leiseste Zweifel beunruhigte ihn. Das War alles wohl
berechnet und wohl ausgeführt: sein Ballon würde die Luft durch¬
kreuzen, so sicher wie die Schiffe das Meer.

Hatte er die Probe abgelegt, dann wollte ihn Städel an einen
verständigen Unternehmer verkaufen und mit dem Gelde das Neue
fördern, das sich in der letzten Zeit, wo die Arbeit am Luftschiff immer mehr
aus seinen Händen in die der Arbeiter geglitten war, in seinem Kopf eingenistet
hatte: das Flügelpaar, das dem einzelnen Erdenkind Heimatsrecht zwischen den
Wolken geben würde.

Dreimal schon war Karl in das Schlafzimmer gekommen und hatte sich nicht
entschließen können, des Vaters Kinderschlaf zu stören. Endlich mußte ers doch thun.
Herr Frisch brachte schon zum zweitenmal die Meldung, es seien Fremde in der
Apotheke.

Karl wußte, wer die Fremden waren: ein Offizier von der Luftschifferabteilung,
ein Erfinder, der schon ein paarmal um das Modell gehandelt hatte, und der
Redakteur einer technischen Zeitung — die drei Einzigen, die man zur Probefahrt
eingeladen hatte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/340>, abgerufen am 23.07.2024.