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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Die litterarische Bildung am Rhein im vorigen Jahrhundert

Wir haben im Verlaufe unsrer Untersuchung aber auch zu unserm Leid¬
wesen wahrnehmen müssen, wie Deutschland zum Tummelplatz der Fremden
geworden war und sich an dieses schmähliche Verhältnis geradezu gewöhnt
hatte. Schon der Westfälische Friede, der die Ordnung des alten Reichs fast
auflöste, beförderte das völlige Auseinanderfallen der Nation, die sich geistig
aufzugeben schien. Schon damals entstand und befestigte sich jene Herrschaft
Frankreichs über Deutschland, die nahezu zwei Jahrhunderte dauerte, und der
erst Lessing und Goethe. Scharnhorst und Blücher ein Ende machen sollten.

Auf dem Gebiete der Vernachlässigung der Sprache und Litteratur hat
daher das ganze Deutschland mit dem Rhein gesündigt. Dank der Gesundheit
und Kraft des deutschen Volkes ist es ihm gelungen, deutsches Wesen und
deutsche Empfinduugs- und Gestaltungskraft in der Litteratur wieder zur
Geltung zu bringen.

Wer mit unbefangnen Auge die Geschichte der litterarischen Bildung am
Rhein betrachtet, muß aber auch zu dem Ergebnis gelangen, daß erst die Ver¬
einigung der Rheinlande mit Preußen ihren Bewohnern das Beste gab, was
das Schicksal zur Hebung des geistigen Wohlstands zu verleihen vermochte.
Ohne Staat und unmittelbares Vaterland gilt auch der Beste wenig, durch
sie auch der Einfältige viel. Schatten und Licht waren im achtzehnten Jahr¬
hundert, wie wir gesehen haben, in allen Teilen unsers großen deutschen Bater¬
landes gleichmäßig verteilt gewesen. Die Sonne Goethes war nicht weit vom
Niederrhein aufgegangen, die Sonne Schillers war über Mannheim auch an
den Rhein gekommen, und beide Sonnen haben, wie wir gesehen haben, auf
die rheinischen Städte ihre Strahlen ergossen. Der Genius unsrer deutschen
Dichtkunst fand hier ebenso begeisterte als verständnisvolle Aufnahme. Wir
erinnern nur an Goethes Besuch bei den Gebrüdern Jacobi in Düsseldorf und
bei Jung-Stilling in Elbcrfelo (1774) und bei dem Kanonikus Pick in Bonn
(1815). Auch in der Heimat Schillers hatten die Ideen der religiösen Auf¬
klärung und politischen Freiheit später als anderswo Wurzel geschlagen, auch
dort huldigte der Illuminatenorden und der Wielandsche Kreis den durch die
französische Litteratur verbreiteten Ansichten, unter deren Eindrücken Schiller
aufwuchs.

Die rheinischen Städte Bonn und Düsseldorf waren zwar kein Weimar
und kein Jena; aber auch die andern deutschen Städte waren es zu damaliger
Zeit ebensowenig: es gab nur eiuen Schiller und einen Goethe. Selbst in
der preußischen Hauptstadt war das litterarische Leben sehr mangelhaft. Die
Akademie in Berlin hatte zwar das Glück, durch ihre Prcisaufgaben einige
vortreffliche Schriften Herders anzuregen, aber die deutsche Schriftstellerwelt
war nur durch Männer zweiten Ranges vertreten, die im Gefolge großer
Männer sehr wertvoll waren, aber die fehlenden großen Männer nicht er¬
setzen konnten. Mit den "Sulzer, Ramler, Engel, Gedike, Biester" war nicht


Grenzboten I 1899 41
Die litterarische Bildung am Rhein im vorigen Jahrhundert

Wir haben im Verlaufe unsrer Untersuchung aber auch zu unserm Leid¬
wesen wahrnehmen müssen, wie Deutschland zum Tummelplatz der Fremden
geworden war und sich an dieses schmähliche Verhältnis geradezu gewöhnt
hatte. Schon der Westfälische Friede, der die Ordnung des alten Reichs fast
auflöste, beförderte das völlige Auseinanderfallen der Nation, die sich geistig
aufzugeben schien. Schon damals entstand und befestigte sich jene Herrschaft
Frankreichs über Deutschland, die nahezu zwei Jahrhunderte dauerte, und der
erst Lessing und Goethe. Scharnhorst und Blücher ein Ende machen sollten.

Auf dem Gebiete der Vernachlässigung der Sprache und Litteratur hat
daher das ganze Deutschland mit dem Rhein gesündigt. Dank der Gesundheit
und Kraft des deutschen Volkes ist es ihm gelungen, deutsches Wesen und
deutsche Empfinduugs- und Gestaltungskraft in der Litteratur wieder zur
Geltung zu bringen.

Wer mit unbefangnen Auge die Geschichte der litterarischen Bildung am
Rhein betrachtet, muß aber auch zu dem Ergebnis gelangen, daß erst die Ver¬
einigung der Rheinlande mit Preußen ihren Bewohnern das Beste gab, was
das Schicksal zur Hebung des geistigen Wohlstands zu verleihen vermochte.
Ohne Staat und unmittelbares Vaterland gilt auch der Beste wenig, durch
sie auch der Einfältige viel. Schatten und Licht waren im achtzehnten Jahr¬
hundert, wie wir gesehen haben, in allen Teilen unsers großen deutschen Bater¬
landes gleichmäßig verteilt gewesen. Die Sonne Goethes war nicht weit vom
Niederrhein aufgegangen, die Sonne Schillers war über Mannheim auch an
den Rhein gekommen, und beide Sonnen haben, wie wir gesehen haben, auf
die rheinischen Städte ihre Strahlen ergossen. Der Genius unsrer deutschen
Dichtkunst fand hier ebenso begeisterte als verständnisvolle Aufnahme. Wir
erinnern nur an Goethes Besuch bei den Gebrüdern Jacobi in Düsseldorf und
bei Jung-Stilling in Elbcrfelo (1774) und bei dem Kanonikus Pick in Bonn
(1815). Auch in der Heimat Schillers hatten die Ideen der religiösen Auf¬
klärung und politischen Freiheit später als anderswo Wurzel geschlagen, auch
dort huldigte der Illuminatenorden und der Wielandsche Kreis den durch die
französische Litteratur verbreiteten Ansichten, unter deren Eindrücken Schiller
aufwuchs.

Die rheinischen Städte Bonn und Düsseldorf waren zwar kein Weimar
und kein Jena; aber auch die andern deutschen Städte waren es zu damaliger
Zeit ebensowenig: es gab nur eiuen Schiller und einen Goethe. Selbst in
der preußischen Hauptstadt war das litterarische Leben sehr mangelhaft. Die
Akademie in Berlin hatte zwar das Glück, durch ihre Prcisaufgaben einige
vortreffliche Schriften Herders anzuregen, aber die deutsche Schriftstellerwelt
war nur durch Männer zweiten Ranges vertreten, die im Gefolge großer
Männer sehr wertvoll waren, aber die fehlenden großen Männer nicht er¬
setzen konnten. Mit den „Sulzer, Ramler, Engel, Gedike, Biester" war nicht


Grenzboten I 1899 41
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[0329] Die litterarische Bildung am Rhein im vorigen Jahrhundert Wir haben im Verlaufe unsrer Untersuchung aber auch zu unserm Leid¬ wesen wahrnehmen müssen, wie Deutschland zum Tummelplatz der Fremden geworden war und sich an dieses schmähliche Verhältnis geradezu gewöhnt hatte. Schon der Westfälische Friede, der die Ordnung des alten Reichs fast auflöste, beförderte das völlige Auseinanderfallen der Nation, die sich geistig aufzugeben schien. Schon damals entstand und befestigte sich jene Herrschaft Frankreichs über Deutschland, die nahezu zwei Jahrhunderte dauerte, und der erst Lessing und Goethe. Scharnhorst und Blücher ein Ende machen sollten. Auf dem Gebiete der Vernachlässigung der Sprache und Litteratur hat daher das ganze Deutschland mit dem Rhein gesündigt. Dank der Gesundheit und Kraft des deutschen Volkes ist es ihm gelungen, deutsches Wesen und deutsche Empfinduugs- und Gestaltungskraft in der Litteratur wieder zur Geltung zu bringen. Wer mit unbefangnen Auge die Geschichte der litterarischen Bildung am Rhein betrachtet, muß aber auch zu dem Ergebnis gelangen, daß erst die Ver¬ einigung der Rheinlande mit Preußen ihren Bewohnern das Beste gab, was das Schicksal zur Hebung des geistigen Wohlstands zu verleihen vermochte. Ohne Staat und unmittelbares Vaterland gilt auch der Beste wenig, durch sie auch der Einfältige viel. Schatten und Licht waren im achtzehnten Jahr¬ hundert, wie wir gesehen haben, in allen Teilen unsers großen deutschen Bater¬ landes gleichmäßig verteilt gewesen. Die Sonne Goethes war nicht weit vom Niederrhein aufgegangen, die Sonne Schillers war über Mannheim auch an den Rhein gekommen, und beide Sonnen haben, wie wir gesehen haben, auf die rheinischen Städte ihre Strahlen ergossen. Der Genius unsrer deutschen Dichtkunst fand hier ebenso begeisterte als verständnisvolle Aufnahme. Wir erinnern nur an Goethes Besuch bei den Gebrüdern Jacobi in Düsseldorf und bei Jung-Stilling in Elbcrfelo (1774) und bei dem Kanonikus Pick in Bonn (1815). Auch in der Heimat Schillers hatten die Ideen der religiösen Auf¬ klärung und politischen Freiheit später als anderswo Wurzel geschlagen, auch dort huldigte der Illuminatenorden und der Wielandsche Kreis den durch die französische Litteratur verbreiteten Ansichten, unter deren Eindrücken Schiller aufwuchs. Die rheinischen Städte Bonn und Düsseldorf waren zwar kein Weimar und kein Jena; aber auch die andern deutschen Städte waren es zu damaliger Zeit ebensowenig: es gab nur eiuen Schiller und einen Goethe. Selbst in der preußischen Hauptstadt war das litterarische Leben sehr mangelhaft. Die Akademie in Berlin hatte zwar das Glück, durch ihre Prcisaufgaben einige vortreffliche Schriften Herders anzuregen, aber die deutsche Schriftstellerwelt war nur durch Männer zweiten Ranges vertreten, die im Gefolge großer Männer sehr wertvoll waren, aber die fehlenden großen Männer nicht er¬ setzen konnten. Mit den „Sulzer, Ramler, Engel, Gedike, Biester" war nicht Grenzboten I 1899 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/329>, abgerufen am 23.07.2024.