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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Die Fürsorge für entlassene Strafgefangne

Vorsätzen zum Trotz müssen sie doch dahin kommen, durch kleine Veruntreuungen
wieder einzubringen, was man ihnen von ihrem wohlverdienten Lohn unter¬
schlägt. Aus diesen Mißbräuchen heraus erklärt es sich denn auch wohl ganz
einfach, daß gerade unter den Gefangnen, die sich bei ihrer Entlassung an solche
Vereine gewandt haben, der Prozentsatz der Rückfälligen weit größer ist als
unter den übrigen. Diese sonderbare Thatsache zeigt aber auch andrerseits,
daß die Bildung solcher Vereine gerade das Gegenteil von dem bewirkt, was
man eigentlich von ihnen erwartet. Anstatt das Verbrechertum einzudämmen,
züchten sie es immer neu.

Das liegt nun freilich nicht allein an der famosen Art und Weise ihrer
Stellenvermittlung, sondern wohl noch mehr an den eigentümlichen Privilegien,
mit denen man sie von den Behörden in einer übel angebrachten Anwandlung
von Humanität glaubte ausstatten zu müssen. So wird in einigen Städten
kein Landstreicher, der beim Betteln abgefaßt worden ist, dem Arbeitshaus
überwiesen, wenn er nachweist, daß er sich wenigstens beim Verein zur Für¬
sorge für entlassene Strafgefangne um Arbeit bemüht hat. Das kommt natürlich
einem Freibrief auf Betteln völlig gleich, denn jeder Strömer läßt sich nun
selbstverständlich in das Register dieses Arbeitsnachweises eintragen, um dann
dreist und gottesfürchtig loszubetteln, da ihm ja, wenn er dabei ertappt werden
sollte, nun nicht mehr allzu viel geschehen kann. In Berlin war es sogar
früher Sitte, daß der Beamte des Vereins die Angaben des Vagabunden jedes¬
mal beschwören mußte, doch ist man wenigstens von dieser unwürdigen Komödie
wieder abgekommen und läßt es bei dem bloßen Zeugnis bewenden. Natürlich
denken diese Kerle gar nicht daran, den Arbeitsnachweis dieses Vereins jemals
ernstlich in Anspruch zu nehmen. Sie nehmen einfach die materiellen Vorteile
ebenso mit, wie die aller andern ähnlichen Schöpfungen, die lediglich ins Leben
gerufen zu sein scheinen, um sie in ihrer Faulheit zu bestärken. Wenn so ein
Vnrsche im Winter, wo es ihm draußen zu kalt wird, aus Mutwillen ein
Ladenfenster zertrümmert hat, läßt er sich bei seiner Entlassung von dem
Anstaltsgeistlichen noch eine Empfehlung an diesen Verein geben und erhält
darauf für einen Monat Schlafstelle und Kaffee; das bischen tägliche Essen ist
bald zusammengefochten, und für die nötige Anfeuchtung hat er ja in seinem
mitgebrachten Anstaltsverdienst das genügende Anschaffungskapital, sodaß er es
im Notfall schon ohne Arbeit aushält und sich keineswegs die Hacken so danach
abzulaufen braucht wie der ehrliche, rechtschaffne Arbeiter. Wenn dieser plötzlich
seine Arbeit verliert -- und wie oft passiert ihm das --, dann ist er that¬
sächlich mit dem entlassenen Strafgefangnen in derselben Lage. Während nun
aber dieser durch den zwangsweis ersparten Arbeitsverdienst vor der ersten
Not geschützt ist, steht der gewöhnlich nur von der Hand in den Mund lebende
sreie Arbeiter gleich von Anfang an dem Nichts gegenüber, und dieser Umstand
dürfte wahrscheinlich der Überlegenheit, die ihm seine Unbescholtenheit im Kampf
ums Dasein vor seinem Rivalen verschafft, vollständig die Wage halten, sodaß


Die Fürsorge für entlassene Strafgefangne

Vorsätzen zum Trotz müssen sie doch dahin kommen, durch kleine Veruntreuungen
wieder einzubringen, was man ihnen von ihrem wohlverdienten Lohn unter¬
schlägt. Aus diesen Mißbräuchen heraus erklärt es sich denn auch wohl ganz
einfach, daß gerade unter den Gefangnen, die sich bei ihrer Entlassung an solche
Vereine gewandt haben, der Prozentsatz der Rückfälligen weit größer ist als
unter den übrigen. Diese sonderbare Thatsache zeigt aber auch andrerseits,
daß die Bildung solcher Vereine gerade das Gegenteil von dem bewirkt, was
man eigentlich von ihnen erwartet. Anstatt das Verbrechertum einzudämmen,
züchten sie es immer neu.

Das liegt nun freilich nicht allein an der famosen Art und Weise ihrer
Stellenvermittlung, sondern wohl noch mehr an den eigentümlichen Privilegien,
mit denen man sie von den Behörden in einer übel angebrachten Anwandlung
von Humanität glaubte ausstatten zu müssen. So wird in einigen Städten
kein Landstreicher, der beim Betteln abgefaßt worden ist, dem Arbeitshaus
überwiesen, wenn er nachweist, daß er sich wenigstens beim Verein zur Für¬
sorge für entlassene Strafgefangne um Arbeit bemüht hat. Das kommt natürlich
einem Freibrief auf Betteln völlig gleich, denn jeder Strömer läßt sich nun
selbstverständlich in das Register dieses Arbeitsnachweises eintragen, um dann
dreist und gottesfürchtig loszubetteln, da ihm ja, wenn er dabei ertappt werden
sollte, nun nicht mehr allzu viel geschehen kann. In Berlin war es sogar
früher Sitte, daß der Beamte des Vereins die Angaben des Vagabunden jedes¬
mal beschwören mußte, doch ist man wenigstens von dieser unwürdigen Komödie
wieder abgekommen und läßt es bei dem bloßen Zeugnis bewenden. Natürlich
denken diese Kerle gar nicht daran, den Arbeitsnachweis dieses Vereins jemals
ernstlich in Anspruch zu nehmen. Sie nehmen einfach die materiellen Vorteile
ebenso mit, wie die aller andern ähnlichen Schöpfungen, die lediglich ins Leben
gerufen zu sein scheinen, um sie in ihrer Faulheit zu bestärken. Wenn so ein
Vnrsche im Winter, wo es ihm draußen zu kalt wird, aus Mutwillen ein
Ladenfenster zertrümmert hat, läßt er sich bei seiner Entlassung von dem
Anstaltsgeistlichen noch eine Empfehlung an diesen Verein geben und erhält
darauf für einen Monat Schlafstelle und Kaffee; das bischen tägliche Essen ist
bald zusammengefochten, und für die nötige Anfeuchtung hat er ja in seinem
mitgebrachten Anstaltsverdienst das genügende Anschaffungskapital, sodaß er es
im Notfall schon ohne Arbeit aushält und sich keineswegs die Hacken so danach
abzulaufen braucht wie der ehrliche, rechtschaffne Arbeiter. Wenn dieser plötzlich
seine Arbeit verliert — und wie oft passiert ihm das —, dann ist er that¬
sächlich mit dem entlassenen Strafgefangnen in derselben Lage. Während nun
aber dieser durch den zwangsweis ersparten Arbeitsverdienst vor der ersten
Not geschützt ist, steht der gewöhnlich nur von der Hand in den Mund lebende
sreie Arbeiter gleich von Anfang an dem Nichts gegenüber, und dieser Umstand
dürfte wahrscheinlich der Überlegenheit, die ihm seine Unbescholtenheit im Kampf
ums Dasein vor seinem Rivalen verschafft, vollständig die Wage halten, sodaß


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[0266] Die Fürsorge für entlassene Strafgefangne Vorsätzen zum Trotz müssen sie doch dahin kommen, durch kleine Veruntreuungen wieder einzubringen, was man ihnen von ihrem wohlverdienten Lohn unter¬ schlägt. Aus diesen Mißbräuchen heraus erklärt es sich denn auch wohl ganz einfach, daß gerade unter den Gefangnen, die sich bei ihrer Entlassung an solche Vereine gewandt haben, der Prozentsatz der Rückfälligen weit größer ist als unter den übrigen. Diese sonderbare Thatsache zeigt aber auch andrerseits, daß die Bildung solcher Vereine gerade das Gegenteil von dem bewirkt, was man eigentlich von ihnen erwartet. Anstatt das Verbrechertum einzudämmen, züchten sie es immer neu. Das liegt nun freilich nicht allein an der famosen Art und Weise ihrer Stellenvermittlung, sondern wohl noch mehr an den eigentümlichen Privilegien, mit denen man sie von den Behörden in einer übel angebrachten Anwandlung von Humanität glaubte ausstatten zu müssen. So wird in einigen Städten kein Landstreicher, der beim Betteln abgefaßt worden ist, dem Arbeitshaus überwiesen, wenn er nachweist, daß er sich wenigstens beim Verein zur Für¬ sorge für entlassene Strafgefangne um Arbeit bemüht hat. Das kommt natürlich einem Freibrief auf Betteln völlig gleich, denn jeder Strömer läßt sich nun selbstverständlich in das Register dieses Arbeitsnachweises eintragen, um dann dreist und gottesfürchtig loszubetteln, da ihm ja, wenn er dabei ertappt werden sollte, nun nicht mehr allzu viel geschehen kann. In Berlin war es sogar früher Sitte, daß der Beamte des Vereins die Angaben des Vagabunden jedes¬ mal beschwören mußte, doch ist man wenigstens von dieser unwürdigen Komödie wieder abgekommen und läßt es bei dem bloßen Zeugnis bewenden. Natürlich denken diese Kerle gar nicht daran, den Arbeitsnachweis dieses Vereins jemals ernstlich in Anspruch zu nehmen. Sie nehmen einfach die materiellen Vorteile ebenso mit, wie die aller andern ähnlichen Schöpfungen, die lediglich ins Leben gerufen zu sein scheinen, um sie in ihrer Faulheit zu bestärken. Wenn so ein Vnrsche im Winter, wo es ihm draußen zu kalt wird, aus Mutwillen ein Ladenfenster zertrümmert hat, läßt er sich bei seiner Entlassung von dem Anstaltsgeistlichen noch eine Empfehlung an diesen Verein geben und erhält darauf für einen Monat Schlafstelle und Kaffee; das bischen tägliche Essen ist bald zusammengefochten, und für die nötige Anfeuchtung hat er ja in seinem mitgebrachten Anstaltsverdienst das genügende Anschaffungskapital, sodaß er es im Notfall schon ohne Arbeit aushält und sich keineswegs die Hacken so danach abzulaufen braucht wie der ehrliche, rechtschaffne Arbeiter. Wenn dieser plötzlich seine Arbeit verliert — und wie oft passiert ihm das —, dann ist er that¬ sächlich mit dem entlassenen Strafgefangnen in derselben Lage. Während nun aber dieser durch den zwangsweis ersparten Arbeitsverdienst vor der ersten Not geschützt ist, steht der gewöhnlich nur von der Hand in den Mund lebende sreie Arbeiter gleich von Anfang an dem Nichts gegenüber, und dieser Umstand dürfte wahrscheinlich der Überlegenheit, die ihm seine Unbescholtenheit im Kampf ums Dasein vor seinem Rivalen verschafft, vollständig die Wage halten, sodaß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/266>, abgerufen am 23.07.2024.