Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Fürsorge für entlassene Strafgefangne

Vereine zu wenden, denn sie sind, allem Gerede von Arbeitsnot zum Trotz,
jeden Tag und jede Stunde zu haben. Man braucht sich nur auf eins der
stereotypen Inserate "50 Knechte aufs Land ?e." zu melden, so kauft einem
der betreffende Agent sofort ein Eisenbahnbillet und ist froh, daß er seine
Provision einstecken kann; und auch der Gutsbesitzer schert sich heutzutage
den Teufel darum, ob die Leute, die man ihm schickt, schon was auf dem
Kerbholz haben oder nicht; er ist froh, wenn er nur welche bekommt. Die
ungeheure Arbeiterkalamität in der Landwirtschaft und die daraus entspringende
Gleichgiltigkeit gegen die sittlichen Zustünde der Arbeiter wird ja durch nichts
besser illustriert als durch die köstliche Anekdote von dem mecklenburgischen Guts¬
inspektor, der sich von seinem Agenten ein Rudel Arbeiter für die Ernte hatte
schicken lassen, worunter zufällig ein schon lange steckbrieflich gesuchter Raub¬
mörder war und nun, als dieser plötzlich auf dem Gutshöfe verhaftet wurde,
den Gendarmen zutraulich fragte, ob er ihm den Kerl nicht noch acht Tage
lassen könnte, bis wenigstens der Roggen herein wäre.

Diese Arbeitsstellen sind nun aber noch die besten, über die gewöhnlich
die Vereine verfügen können, denn wenn die Löhne hier natürlich auch nur
sehr niedrig sind, so werden sie doch wenigstens gleichmäßig gezahlt und nicht
denen, die einen Makel haben, auch noch verkürzt. Das ist aber fast bei allen
andern von diesen Vereinen vermittelten Arbeitsgelegenheiten der Fall, und
wenn man sich nicht von der in den Jahresberichten angegebnen Anzahl der
vermittelten Stellen verblüffen läßt, so wird man von der eigentümlichen
"segensreichen" Thätigkeit dieser Vereine sehr sonderbare Begriffe bekommen.
In ihren Ausrufen wenden sich zwar alle diese Vereine immer nur an edle
Menschenfreunde, und es fehlt ja auch selbstverständlich niemals an solchen, die
für den guten Zweck den Geldbeutel ziehen und ein mehr oder weniger großes
Scherflein opfern. Weiter aber als bis zur Leistung eines kleinen Geldbeitrags
pflegt sich ihr Interesse niemals zu erstrecken. An die Hauptsache, nämlich sich
der vom Verein angebotnen Arbeitskräfte zu bedienen, denken weder sie noch
-- und das ist gewiß charakteristisch für diese Schöpfungen -- die Herren vom
Vereinsvorstand selbst. Das ist ja auch durchaus erklärlich! Man wird es
noch verstehen können, wenn ein Arbeitgeber -- vorausgesetzt, daß er nicht in
einer Notlage ist -- einen Angestellten auch dann noch ruhig weiter beschäftigt,
wenn er vielleicht nachträglich erfährt, daß der Betreffende schon einmal be¬
straft worden ist; daß aber jemand die Menschenliebe soweit treiben soll, sein
gesamtes Dienst- oder Arbeitspersonal aus dem Zuchthaus zu beziehen, das ist
doch wohl ein etwas starkes Verlangen. Ein solcher Mensch wäre entweder
ein Narr oder ein gewissenloser Blutsauger, der sich nur deshalb an diese Vereine
wendete, weil er bei ihnen die billigsten Arbeitskräfte nachgewiesen erhält.

Daß in der That die von den Vereinen zur Fürsorge für entlassene Straf¬
gefangne vermittelten Arbeitsgelegenheiten das äußerste an Lohndrückern leisten,


Die Fürsorge für entlassene Strafgefangne

Vereine zu wenden, denn sie sind, allem Gerede von Arbeitsnot zum Trotz,
jeden Tag und jede Stunde zu haben. Man braucht sich nur auf eins der
stereotypen Inserate „50 Knechte aufs Land ?e." zu melden, so kauft einem
der betreffende Agent sofort ein Eisenbahnbillet und ist froh, daß er seine
Provision einstecken kann; und auch der Gutsbesitzer schert sich heutzutage
den Teufel darum, ob die Leute, die man ihm schickt, schon was auf dem
Kerbholz haben oder nicht; er ist froh, wenn er nur welche bekommt. Die
ungeheure Arbeiterkalamität in der Landwirtschaft und die daraus entspringende
Gleichgiltigkeit gegen die sittlichen Zustünde der Arbeiter wird ja durch nichts
besser illustriert als durch die köstliche Anekdote von dem mecklenburgischen Guts¬
inspektor, der sich von seinem Agenten ein Rudel Arbeiter für die Ernte hatte
schicken lassen, worunter zufällig ein schon lange steckbrieflich gesuchter Raub¬
mörder war und nun, als dieser plötzlich auf dem Gutshöfe verhaftet wurde,
den Gendarmen zutraulich fragte, ob er ihm den Kerl nicht noch acht Tage
lassen könnte, bis wenigstens der Roggen herein wäre.

Diese Arbeitsstellen sind nun aber noch die besten, über die gewöhnlich
die Vereine verfügen können, denn wenn die Löhne hier natürlich auch nur
sehr niedrig sind, so werden sie doch wenigstens gleichmäßig gezahlt und nicht
denen, die einen Makel haben, auch noch verkürzt. Das ist aber fast bei allen
andern von diesen Vereinen vermittelten Arbeitsgelegenheiten der Fall, und
wenn man sich nicht von der in den Jahresberichten angegebnen Anzahl der
vermittelten Stellen verblüffen läßt, so wird man von der eigentümlichen
„segensreichen" Thätigkeit dieser Vereine sehr sonderbare Begriffe bekommen.
In ihren Ausrufen wenden sich zwar alle diese Vereine immer nur an edle
Menschenfreunde, und es fehlt ja auch selbstverständlich niemals an solchen, die
für den guten Zweck den Geldbeutel ziehen und ein mehr oder weniger großes
Scherflein opfern. Weiter aber als bis zur Leistung eines kleinen Geldbeitrags
pflegt sich ihr Interesse niemals zu erstrecken. An die Hauptsache, nämlich sich
der vom Verein angebotnen Arbeitskräfte zu bedienen, denken weder sie noch
— und das ist gewiß charakteristisch für diese Schöpfungen — die Herren vom
Vereinsvorstand selbst. Das ist ja auch durchaus erklärlich! Man wird es
noch verstehen können, wenn ein Arbeitgeber — vorausgesetzt, daß er nicht in
einer Notlage ist — einen Angestellten auch dann noch ruhig weiter beschäftigt,
wenn er vielleicht nachträglich erfährt, daß der Betreffende schon einmal be¬
straft worden ist; daß aber jemand die Menschenliebe soweit treiben soll, sein
gesamtes Dienst- oder Arbeitspersonal aus dem Zuchthaus zu beziehen, das ist
doch wohl ein etwas starkes Verlangen. Ein solcher Mensch wäre entweder
ein Narr oder ein gewissenloser Blutsauger, der sich nur deshalb an diese Vereine
wendete, weil er bei ihnen die billigsten Arbeitskräfte nachgewiesen erhält.

Daß in der That die von den Vereinen zur Fürsorge für entlassene Straf¬
gefangne vermittelten Arbeitsgelegenheiten das äußerste an Lohndrückern leisten,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0264" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229950"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Fürsorge für entlassene Strafgefangne</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1074" prev="#ID_1073"> Vereine zu wenden, denn sie sind, allem Gerede von Arbeitsnot zum Trotz,<lb/>
jeden Tag und jede Stunde zu haben. Man braucht sich nur auf eins der<lb/>
stereotypen Inserate &#x201E;50 Knechte aufs Land ?e." zu melden, so kauft einem<lb/>
der betreffende Agent sofort ein Eisenbahnbillet und ist froh, daß er seine<lb/>
Provision einstecken kann; und auch der Gutsbesitzer schert sich heutzutage<lb/>
den Teufel darum, ob die Leute, die man ihm schickt, schon was auf dem<lb/>
Kerbholz haben oder nicht; er ist froh, wenn er nur welche bekommt. Die<lb/>
ungeheure Arbeiterkalamität in der Landwirtschaft und die daraus entspringende<lb/>
Gleichgiltigkeit gegen die sittlichen Zustünde der Arbeiter wird ja durch nichts<lb/>
besser illustriert als durch die köstliche Anekdote von dem mecklenburgischen Guts¬<lb/>
inspektor, der sich von seinem Agenten ein Rudel Arbeiter für die Ernte hatte<lb/>
schicken lassen, worunter zufällig ein schon lange steckbrieflich gesuchter Raub¬<lb/>
mörder war und nun, als dieser plötzlich auf dem Gutshöfe verhaftet wurde,<lb/>
den Gendarmen zutraulich fragte, ob er ihm den Kerl nicht noch acht Tage<lb/>
lassen könnte, bis wenigstens der Roggen herein wäre.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1075"> Diese Arbeitsstellen sind nun aber noch die besten, über die gewöhnlich<lb/>
die Vereine verfügen können, denn wenn die Löhne hier natürlich auch nur<lb/>
sehr niedrig sind, so werden sie doch wenigstens gleichmäßig gezahlt und nicht<lb/>
denen, die einen Makel haben, auch noch verkürzt. Das ist aber fast bei allen<lb/>
andern von diesen Vereinen vermittelten Arbeitsgelegenheiten der Fall, und<lb/>
wenn man sich nicht von der in den Jahresberichten angegebnen Anzahl der<lb/>
vermittelten Stellen verblüffen läßt, so wird man von der eigentümlichen<lb/>
&#x201E;segensreichen" Thätigkeit dieser Vereine sehr sonderbare Begriffe bekommen.<lb/>
In ihren Ausrufen wenden sich zwar alle diese Vereine immer nur an edle<lb/>
Menschenfreunde, und es fehlt ja auch selbstverständlich niemals an solchen, die<lb/>
für den guten Zweck den Geldbeutel ziehen und ein mehr oder weniger großes<lb/>
Scherflein opfern. Weiter aber als bis zur Leistung eines kleinen Geldbeitrags<lb/>
pflegt sich ihr Interesse niemals zu erstrecken. An die Hauptsache, nämlich sich<lb/>
der vom Verein angebotnen Arbeitskräfte zu bedienen, denken weder sie noch<lb/>
&#x2014; und das ist gewiß charakteristisch für diese Schöpfungen &#x2014; die Herren vom<lb/>
Vereinsvorstand selbst. Das ist ja auch durchaus erklärlich! Man wird es<lb/>
noch verstehen können, wenn ein Arbeitgeber &#x2014; vorausgesetzt, daß er nicht in<lb/>
einer Notlage ist &#x2014; einen Angestellten auch dann noch ruhig weiter beschäftigt,<lb/>
wenn er vielleicht nachträglich erfährt, daß der Betreffende schon einmal be¬<lb/>
straft worden ist; daß aber jemand die Menschenliebe soweit treiben soll, sein<lb/>
gesamtes Dienst- oder Arbeitspersonal aus dem Zuchthaus zu beziehen, das ist<lb/>
doch wohl ein etwas starkes Verlangen. Ein solcher Mensch wäre entweder<lb/>
ein Narr oder ein gewissenloser Blutsauger, der sich nur deshalb an diese Vereine<lb/>
wendete, weil er bei ihnen die billigsten Arbeitskräfte nachgewiesen erhält.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1076" next="#ID_1077"> Daß in der That die von den Vereinen zur Fürsorge für entlassene Straf¬<lb/>
gefangne vermittelten Arbeitsgelegenheiten das äußerste an Lohndrückern leisten,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0264] Die Fürsorge für entlassene Strafgefangne Vereine zu wenden, denn sie sind, allem Gerede von Arbeitsnot zum Trotz, jeden Tag und jede Stunde zu haben. Man braucht sich nur auf eins der stereotypen Inserate „50 Knechte aufs Land ?e." zu melden, so kauft einem der betreffende Agent sofort ein Eisenbahnbillet und ist froh, daß er seine Provision einstecken kann; und auch der Gutsbesitzer schert sich heutzutage den Teufel darum, ob die Leute, die man ihm schickt, schon was auf dem Kerbholz haben oder nicht; er ist froh, wenn er nur welche bekommt. Die ungeheure Arbeiterkalamität in der Landwirtschaft und die daraus entspringende Gleichgiltigkeit gegen die sittlichen Zustünde der Arbeiter wird ja durch nichts besser illustriert als durch die köstliche Anekdote von dem mecklenburgischen Guts¬ inspektor, der sich von seinem Agenten ein Rudel Arbeiter für die Ernte hatte schicken lassen, worunter zufällig ein schon lange steckbrieflich gesuchter Raub¬ mörder war und nun, als dieser plötzlich auf dem Gutshöfe verhaftet wurde, den Gendarmen zutraulich fragte, ob er ihm den Kerl nicht noch acht Tage lassen könnte, bis wenigstens der Roggen herein wäre. Diese Arbeitsstellen sind nun aber noch die besten, über die gewöhnlich die Vereine verfügen können, denn wenn die Löhne hier natürlich auch nur sehr niedrig sind, so werden sie doch wenigstens gleichmäßig gezahlt und nicht denen, die einen Makel haben, auch noch verkürzt. Das ist aber fast bei allen andern von diesen Vereinen vermittelten Arbeitsgelegenheiten der Fall, und wenn man sich nicht von der in den Jahresberichten angegebnen Anzahl der vermittelten Stellen verblüffen läßt, so wird man von der eigentümlichen „segensreichen" Thätigkeit dieser Vereine sehr sonderbare Begriffe bekommen. In ihren Ausrufen wenden sich zwar alle diese Vereine immer nur an edle Menschenfreunde, und es fehlt ja auch selbstverständlich niemals an solchen, die für den guten Zweck den Geldbeutel ziehen und ein mehr oder weniger großes Scherflein opfern. Weiter aber als bis zur Leistung eines kleinen Geldbeitrags pflegt sich ihr Interesse niemals zu erstrecken. An die Hauptsache, nämlich sich der vom Verein angebotnen Arbeitskräfte zu bedienen, denken weder sie noch — und das ist gewiß charakteristisch für diese Schöpfungen — die Herren vom Vereinsvorstand selbst. Das ist ja auch durchaus erklärlich! Man wird es noch verstehen können, wenn ein Arbeitgeber — vorausgesetzt, daß er nicht in einer Notlage ist — einen Angestellten auch dann noch ruhig weiter beschäftigt, wenn er vielleicht nachträglich erfährt, daß der Betreffende schon einmal be¬ straft worden ist; daß aber jemand die Menschenliebe soweit treiben soll, sein gesamtes Dienst- oder Arbeitspersonal aus dem Zuchthaus zu beziehen, das ist doch wohl ein etwas starkes Verlangen. Ein solcher Mensch wäre entweder ein Narr oder ein gewissenloser Blutsauger, der sich nur deshalb an diese Vereine wendete, weil er bei ihnen die billigsten Arbeitskräfte nachgewiesen erhält. Daß in der That die von den Vereinen zur Fürsorge für entlassene Straf¬ gefangne vermittelten Arbeitsgelegenheiten das äußerste an Lohndrückern leisten,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/264
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/264>, abgerufen am 23.07.2024.