Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zwei Artikel zur Arbeiterwohnungsfrage

Zimmer, das auf den oben erwähnten engen Hof ging. Schon an und für
sich waren die unten im Parterre gelegnen Wohnungen, die mit Luft und
Licht auf diesen dunkeln und dumpfigen Hof angewiesen waren, schlecht
daran; nun aber lagen noch obendrein die Aborte direkt vor den Fenstern
jenes Zimmers; der Leser kann sich denken, wie es da mit Luft und Licht im
Zimmer bestellt war. Hier schlief die Mutter und eine Tochter von sechzehn
Jahren; Vater und Sohn schliefen in einem zweiten Raum, der kaum anders
als eine Höhle bezeichnet werden konnte und früher offenbar einmal zum Auf¬
bewahren von Waren oder als Keller für Holz und Kohlen gedient hatte.
Ein ins Freie führendes Fenster hatte er überhaupt nicht. Luft und Licht
bekam er einzig und allein ans dem andern, selbst schon müssiger und dunkeln
Zimmer durch die Thür und durch ein kleines schmales Fenster in der Zwischen¬
wand. Die Frau hatte uns gleich gesagt, daß in diesem Raum das Ungeziefer
"schwadronenweise" sei, und in der That sahen wir, nachdem wir wegen der
völligen Dunkelheit um 10'/.^ Uhr vormittags ein Lämpchen hatten anzünden
müssen, daß die Wände teilweise geradezu schwarz davon waren -- ein der¬
artiger Raum mit feuchten, zum Teil halb verfaulten Wänden mußte ja auch
geradezu ein Züchtungsherd für Ungeziefer sein, wogegen selbst der beste Wille
der Einwohner wehrlos ist.

Hier fragt man sich denn doch, wo eigentlich die Polizei bleibt. Aber
diese, die sonst so überaus empfindlich ist, scheint diesen Wohnungsverhältnissen
gegenüber merkwürdig starke Nerven zu haben. Es wäre sonst doch wohl nicht
möglich, daß solche Fälle vorkommen, wie sie jetzt in Frankfurt aufgedeckt sind,
wo z. B. sich in einem Hause ein Abtritt fand, der von fünfzehn Parteien
mit fünfzig Personen und außerdem von den Wirtsgästen im Parterre benutzt
wird, in einem andern Hause ein einziger Abort für acht Parteien mit sechzig
Personen vorhanden ist. Fülle, die geradezu eine öffentliche Gefahr sind und bei
Ausbruch einer Seuche verhängnisvoll werden müssen.

Die einzige Entschuldigung, die es für das Verhalten der Polizei giebt,
liegt darin, daß es für die Bevölkerungsklasse, die heute in jenen Löchern ihr
Dasein fristet, ebeu noch keine andre Wvhnungsgelegenheit giebt, und man jene
Leute doch nicht einfach auf die Straße setzen kann. Eben deshalb aber ist es
Pflicht der Stadt, hier einzugreifen und den Bau allerkleinster Wohnungen
endlich selbst in die Hand zu nehmen. Vorbedingung ist dafür eine vernünftige
kommunale Bodenpolitik, die das freie Banterrain der Spekulation entzieht
und dadurch zugleich der Steigerung der Mietpreise steuert. Denn die Höhe
dieser ist ja oft gar nicht durch ein natürliches Wachsen des Bodenwerts ver¬
anlaßt, sondern durch eine unerhörte Bodenspekulation, die auf Kosten der
Gesamtheit ihre Profite einsteckt.

Auch dafür hat in jüngster Zeit Frankfurt ein Beispiel geliefert, das zu
denken giebt. Vor einiger Zeit hatte der Magistrat den Ankauf eines größern,


Zwei Artikel zur Arbeiterwohnungsfrage

Zimmer, das auf den oben erwähnten engen Hof ging. Schon an und für
sich waren die unten im Parterre gelegnen Wohnungen, die mit Luft und
Licht auf diesen dunkeln und dumpfigen Hof angewiesen waren, schlecht
daran; nun aber lagen noch obendrein die Aborte direkt vor den Fenstern
jenes Zimmers; der Leser kann sich denken, wie es da mit Luft und Licht im
Zimmer bestellt war. Hier schlief die Mutter und eine Tochter von sechzehn
Jahren; Vater und Sohn schliefen in einem zweiten Raum, der kaum anders
als eine Höhle bezeichnet werden konnte und früher offenbar einmal zum Auf¬
bewahren von Waren oder als Keller für Holz und Kohlen gedient hatte.
Ein ins Freie führendes Fenster hatte er überhaupt nicht. Luft und Licht
bekam er einzig und allein ans dem andern, selbst schon müssiger und dunkeln
Zimmer durch die Thür und durch ein kleines schmales Fenster in der Zwischen¬
wand. Die Frau hatte uns gleich gesagt, daß in diesem Raum das Ungeziefer
„schwadronenweise" sei, und in der That sahen wir, nachdem wir wegen der
völligen Dunkelheit um 10'/.^ Uhr vormittags ein Lämpchen hatten anzünden
müssen, daß die Wände teilweise geradezu schwarz davon waren — ein der¬
artiger Raum mit feuchten, zum Teil halb verfaulten Wänden mußte ja auch
geradezu ein Züchtungsherd für Ungeziefer sein, wogegen selbst der beste Wille
der Einwohner wehrlos ist.

Hier fragt man sich denn doch, wo eigentlich die Polizei bleibt. Aber
diese, die sonst so überaus empfindlich ist, scheint diesen Wohnungsverhältnissen
gegenüber merkwürdig starke Nerven zu haben. Es wäre sonst doch wohl nicht
möglich, daß solche Fälle vorkommen, wie sie jetzt in Frankfurt aufgedeckt sind,
wo z. B. sich in einem Hause ein Abtritt fand, der von fünfzehn Parteien
mit fünfzig Personen und außerdem von den Wirtsgästen im Parterre benutzt
wird, in einem andern Hause ein einziger Abort für acht Parteien mit sechzig
Personen vorhanden ist. Fülle, die geradezu eine öffentliche Gefahr sind und bei
Ausbruch einer Seuche verhängnisvoll werden müssen.

Die einzige Entschuldigung, die es für das Verhalten der Polizei giebt,
liegt darin, daß es für die Bevölkerungsklasse, die heute in jenen Löchern ihr
Dasein fristet, ebeu noch keine andre Wvhnungsgelegenheit giebt, und man jene
Leute doch nicht einfach auf die Straße setzen kann. Eben deshalb aber ist es
Pflicht der Stadt, hier einzugreifen und den Bau allerkleinster Wohnungen
endlich selbst in die Hand zu nehmen. Vorbedingung ist dafür eine vernünftige
kommunale Bodenpolitik, die das freie Banterrain der Spekulation entzieht
und dadurch zugleich der Steigerung der Mietpreise steuert. Denn die Höhe
dieser ist ja oft gar nicht durch ein natürliches Wachsen des Bodenwerts ver¬
anlaßt, sondern durch eine unerhörte Bodenspekulation, die auf Kosten der
Gesamtheit ihre Profite einsteckt.

Auch dafür hat in jüngster Zeit Frankfurt ein Beispiel geliefert, das zu
denken giebt. Vor einiger Zeit hatte der Magistrat den Ankauf eines größern,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0259" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229945"/>
            <fw type="header" place="top"> Zwei Artikel zur Arbeiterwohnungsfrage</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1059" prev="#ID_1058"> Zimmer, das auf den oben erwähnten engen Hof ging. Schon an und für<lb/>
sich waren die unten im Parterre gelegnen Wohnungen, die mit Luft und<lb/>
Licht auf diesen dunkeln und dumpfigen Hof angewiesen waren, schlecht<lb/>
daran; nun aber lagen noch obendrein die Aborte direkt vor den Fenstern<lb/>
jenes Zimmers; der Leser kann sich denken, wie es da mit Luft und Licht im<lb/>
Zimmer bestellt war. Hier schlief die Mutter und eine Tochter von sechzehn<lb/>
Jahren; Vater und Sohn schliefen in einem zweiten Raum, der kaum anders<lb/>
als eine Höhle bezeichnet werden konnte und früher offenbar einmal zum Auf¬<lb/>
bewahren von Waren oder als Keller für Holz und Kohlen gedient hatte.<lb/>
Ein ins Freie führendes Fenster hatte er überhaupt nicht. Luft und Licht<lb/>
bekam er einzig und allein ans dem andern, selbst schon müssiger und dunkeln<lb/>
Zimmer durch die Thür und durch ein kleines schmales Fenster in der Zwischen¬<lb/>
wand. Die Frau hatte uns gleich gesagt, daß in diesem Raum das Ungeziefer<lb/>
&#x201E;schwadronenweise" sei, und in der That sahen wir, nachdem wir wegen der<lb/>
völligen Dunkelheit um 10'/.^ Uhr vormittags ein Lämpchen hatten anzünden<lb/>
müssen, daß die Wände teilweise geradezu schwarz davon waren &#x2014; ein der¬<lb/>
artiger Raum mit feuchten, zum Teil halb verfaulten Wänden mußte ja auch<lb/>
geradezu ein Züchtungsherd für Ungeziefer sein, wogegen selbst der beste Wille<lb/>
der Einwohner wehrlos ist.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1060"> Hier fragt man sich denn doch, wo eigentlich die Polizei bleibt. Aber<lb/>
diese, die sonst so überaus empfindlich ist, scheint diesen Wohnungsverhältnissen<lb/>
gegenüber merkwürdig starke Nerven zu haben. Es wäre sonst doch wohl nicht<lb/>
möglich, daß solche Fälle vorkommen, wie sie jetzt in Frankfurt aufgedeckt sind,<lb/>
wo z. B. sich in einem Hause ein Abtritt fand, der von fünfzehn Parteien<lb/>
mit fünfzig Personen und außerdem von den Wirtsgästen im Parterre benutzt<lb/>
wird, in einem andern Hause ein einziger Abort für acht Parteien mit sechzig<lb/>
Personen vorhanden ist. Fülle, die geradezu eine öffentliche Gefahr sind und bei<lb/>
Ausbruch einer Seuche verhängnisvoll werden müssen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1061"> Die einzige Entschuldigung, die es für das Verhalten der Polizei giebt,<lb/>
liegt darin, daß es für die Bevölkerungsklasse, die heute in jenen Löchern ihr<lb/>
Dasein fristet, ebeu noch keine andre Wvhnungsgelegenheit giebt, und man jene<lb/>
Leute doch nicht einfach auf die Straße setzen kann. Eben deshalb aber ist es<lb/>
Pflicht der Stadt, hier einzugreifen und den Bau allerkleinster Wohnungen<lb/>
endlich selbst in die Hand zu nehmen. Vorbedingung ist dafür eine vernünftige<lb/>
kommunale Bodenpolitik, die das freie Banterrain der Spekulation entzieht<lb/>
und dadurch zugleich der Steigerung der Mietpreise steuert. Denn die Höhe<lb/>
dieser ist ja oft gar nicht durch ein natürliches Wachsen des Bodenwerts ver¬<lb/>
anlaßt, sondern durch eine unerhörte Bodenspekulation, die auf Kosten der<lb/>
Gesamtheit ihre Profite einsteckt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1062" next="#ID_1063"> Auch dafür hat in jüngster Zeit Frankfurt ein Beispiel geliefert, das zu<lb/>
denken giebt. Vor einiger Zeit hatte der Magistrat den Ankauf eines größern,</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0259] Zwei Artikel zur Arbeiterwohnungsfrage Zimmer, das auf den oben erwähnten engen Hof ging. Schon an und für sich waren die unten im Parterre gelegnen Wohnungen, die mit Luft und Licht auf diesen dunkeln und dumpfigen Hof angewiesen waren, schlecht daran; nun aber lagen noch obendrein die Aborte direkt vor den Fenstern jenes Zimmers; der Leser kann sich denken, wie es da mit Luft und Licht im Zimmer bestellt war. Hier schlief die Mutter und eine Tochter von sechzehn Jahren; Vater und Sohn schliefen in einem zweiten Raum, der kaum anders als eine Höhle bezeichnet werden konnte und früher offenbar einmal zum Auf¬ bewahren von Waren oder als Keller für Holz und Kohlen gedient hatte. Ein ins Freie führendes Fenster hatte er überhaupt nicht. Luft und Licht bekam er einzig und allein ans dem andern, selbst schon müssiger und dunkeln Zimmer durch die Thür und durch ein kleines schmales Fenster in der Zwischen¬ wand. Die Frau hatte uns gleich gesagt, daß in diesem Raum das Ungeziefer „schwadronenweise" sei, und in der That sahen wir, nachdem wir wegen der völligen Dunkelheit um 10'/.^ Uhr vormittags ein Lämpchen hatten anzünden müssen, daß die Wände teilweise geradezu schwarz davon waren — ein der¬ artiger Raum mit feuchten, zum Teil halb verfaulten Wänden mußte ja auch geradezu ein Züchtungsherd für Ungeziefer sein, wogegen selbst der beste Wille der Einwohner wehrlos ist. Hier fragt man sich denn doch, wo eigentlich die Polizei bleibt. Aber diese, die sonst so überaus empfindlich ist, scheint diesen Wohnungsverhältnissen gegenüber merkwürdig starke Nerven zu haben. Es wäre sonst doch wohl nicht möglich, daß solche Fälle vorkommen, wie sie jetzt in Frankfurt aufgedeckt sind, wo z. B. sich in einem Hause ein Abtritt fand, der von fünfzehn Parteien mit fünfzig Personen und außerdem von den Wirtsgästen im Parterre benutzt wird, in einem andern Hause ein einziger Abort für acht Parteien mit sechzig Personen vorhanden ist. Fülle, die geradezu eine öffentliche Gefahr sind und bei Ausbruch einer Seuche verhängnisvoll werden müssen. Die einzige Entschuldigung, die es für das Verhalten der Polizei giebt, liegt darin, daß es für die Bevölkerungsklasse, die heute in jenen Löchern ihr Dasein fristet, ebeu noch keine andre Wvhnungsgelegenheit giebt, und man jene Leute doch nicht einfach auf die Straße setzen kann. Eben deshalb aber ist es Pflicht der Stadt, hier einzugreifen und den Bau allerkleinster Wohnungen endlich selbst in die Hand zu nehmen. Vorbedingung ist dafür eine vernünftige kommunale Bodenpolitik, die das freie Banterrain der Spekulation entzieht und dadurch zugleich der Steigerung der Mietpreise steuert. Denn die Höhe dieser ist ja oft gar nicht durch ein natürliches Wachsen des Bodenwerts ver¬ anlaßt, sondern durch eine unerhörte Bodenspekulation, die auf Kosten der Gesamtheit ihre Profite einsteckt. Auch dafür hat in jüngster Zeit Frankfurt ein Beispiel geliefert, das zu denken giebt. Vor einiger Zeit hatte der Magistrat den Ankauf eines größern,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/259
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/259>, abgerufen am 23.07.2024.