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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Die Fabel vom Untergang des Handwerks

hatte ihre Zählungen auch noch nicht auf das Handwerk ausgedehnt. Für
die Gewerbezählung von 1875 sing der Gewerbebetrieb überhaupt erst bei den
Betrieben mit fünf Gehilfen an. Aber auch ohne Zählung lag es für den,
der in Stadt und Land mit offnen Augen die Dinge betrachtete, doch auf der
Hand, daß der Liberalismus damals eine große Dummheit und Leichtfertigkeit
beging, wenn er in dieser Weise über eine gewerbliche Betriebsform den
Stab brach, in der sich ersichtlich die große Mehrzahl nicht nur der selb¬
ständigen Gewerbtreibenden, sondern der gewerbthütigen Personen überhaupt
nährte, und damit über einen Stand, der nicht etwa nur mit berechtigtem
Stolz auf eine blühende Vorzeit zurücksah, sondern auch im Bürgertum der
heutigen Städte noch thatsächlich der ausschlaggebende Bestandteil war und
an dem, was unsre Stadtgemeinden an Rühmenswertem leisteten, seinen
vollen Anteil beanspruchen durfte. Ist es zu verwundern, daß dadurch auf
der einen Seite die anfangs zu schönen Hoffnungen berechtigende Jnnungs-
bewegung der ausgesprochnen wirtschaftlichen Reaktion, dem Ziinftlertum,
in die Arme getrieben wurde und auf der andern Seite der Svzialdemo-
krcitie zahlreiche sehr brauchbare Rekruten geworben wurden, ganz abgesehen
davon, daß jener manchesterliche Irrtum sich mit der Irrlehre von der Prole¬
tarisierung der Massen im modernen Gewerbe vollkommen deckte?

Dann kam die erste umfassende gewerbliche Betriebszühlung von 1882.
Sie brachte zahlenmäßig den Beweis für die hohe Bedeutung, die das
Handwerk neben und trotz der "normalen" Produktionsweise der Großindustrie
im deutschen Gewerbfleiß behauptet hatte. Es waren gezählt worden in der
Industrie (einschließlich Gewerbe und Bauwesen):

mit 1 bis 10 Personen . . 2WS068 Betriebe
mit 11 und mehr Personen 4V271 "
zusammen L 270339 Betriebe

und in den Betrieben

mit 1 bis 10 Personen . . 3628861 Personen
mit 11 und mehr Personen 2304802
zusammen 5933 663 Personen

Im Jahre 1882 war die Jnnungsbewegung schon ganz in das reaktio¬
näre und zünftlerische Fahrwasser geraten, und die Zahlen wurden nun aus¬
schließlich in diesem Sinne ausgebeutet. Wenn die liberalen Volkswirte über¬
haupt davon sprachen, bestritten sie ihre Beweiskraft, und die jetzt in den
Vordergrund getretner Kathedcrsozialisten und Sozialdemokraten spielten die
Zahl der Personen gegen die der Betriebe aus, erklärten nun erst recht den
Fortbestand des Handwerks neben den "modernen Unternehmungsfvrmen" der
"kapitalistischen Wirtschaft" für ganz unmöglich, widmeten die Arbeit ihrer
Phantasie ausschließlich dem "vierten Stande" und sahen hohnlächelnd auf den


Die Fabel vom Untergang des Handwerks

hatte ihre Zählungen auch noch nicht auf das Handwerk ausgedehnt. Für
die Gewerbezählung von 1875 sing der Gewerbebetrieb überhaupt erst bei den
Betrieben mit fünf Gehilfen an. Aber auch ohne Zählung lag es für den,
der in Stadt und Land mit offnen Augen die Dinge betrachtete, doch auf der
Hand, daß der Liberalismus damals eine große Dummheit und Leichtfertigkeit
beging, wenn er in dieser Weise über eine gewerbliche Betriebsform den
Stab brach, in der sich ersichtlich die große Mehrzahl nicht nur der selb¬
ständigen Gewerbtreibenden, sondern der gewerbthütigen Personen überhaupt
nährte, und damit über einen Stand, der nicht etwa nur mit berechtigtem
Stolz auf eine blühende Vorzeit zurücksah, sondern auch im Bürgertum der
heutigen Städte noch thatsächlich der ausschlaggebende Bestandteil war und
an dem, was unsre Stadtgemeinden an Rühmenswertem leisteten, seinen
vollen Anteil beanspruchen durfte. Ist es zu verwundern, daß dadurch auf
der einen Seite die anfangs zu schönen Hoffnungen berechtigende Jnnungs-
bewegung der ausgesprochnen wirtschaftlichen Reaktion, dem Ziinftlertum,
in die Arme getrieben wurde und auf der andern Seite der Svzialdemo-
krcitie zahlreiche sehr brauchbare Rekruten geworben wurden, ganz abgesehen
davon, daß jener manchesterliche Irrtum sich mit der Irrlehre von der Prole¬
tarisierung der Massen im modernen Gewerbe vollkommen deckte?

Dann kam die erste umfassende gewerbliche Betriebszühlung von 1882.
Sie brachte zahlenmäßig den Beweis für die hohe Bedeutung, die das
Handwerk neben und trotz der „normalen" Produktionsweise der Großindustrie
im deutschen Gewerbfleiß behauptet hatte. Es waren gezählt worden in der
Industrie (einschließlich Gewerbe und Bauwesen):

mit 1 bis 10 Personen . . 2WS068 Betriebe
mit 11 und mehr Personen 4V271 „
zusammen L 270339 Betriebe

und in den Betrieben

mit 1 bis 10 Personen . . 3628861 Personen
mit 11 und mehr Personen 2304802
zusammen 5933 663 Personen

Im Jahre 1882 war die Jnnungsbewegung schon ganz in das reaktio¬
näre und zünftlerische Fahrwasser geraten, und die Zahlen wurden nun aus¬
schließlich in diesem Sinne ausgebeutet. Wenn die liberalen Volkswirte über¬
haupt davon sprachen, bestritten sie ihre Beweiskraft, und die jetzt in den
Vordergrund getretner Kathedcrsozialisten und Sozialdemokraten spielten die
Zahl der Personen gegen die der Betriebe aus, erklärten nun erst recht den
Fortbestand des Handwerks neben den „modernen Unternehmungsfvrmen" der
„kapitalistischen Wirtschaft" für ganz unmöglich, widmeten die Arbeit ihrer
Phantasie ausschließlich dem „vierten Stande" und sahen hohnlächelnd auf den


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[0242] Die Fabel vom Untergang des Handwerks hatte ihre Zählungen auch noch nicht auf das Handwerk ausgedehnt. Für die Gewerbezählung von 1875 sing der Gewerbebetrieb überhaupt erst bei den Betrieben mit fünf Gehilfen an. Aber auch ohne Zählung lag es für den, der in Stadt und Land mit offnen Augen die Dinge betrachtete, doch auf der Hand, daß der Liberalismus damals eine große Dummheit und Leichtfertigkeit beging, wenn er in dieser Weise über eine gewerbliche Betriebsform den Stab brach, in der sich ersichtlich die große Mehrzahl nicht nur der selb¬ ständigen Gewerbtreibenden, sondern der gewerbthütigen Personen überhaupt nährte, und damit über einen Stand, der nicht etwa nur mit berechtigtem Stolz auf eine blühende Vorzeit zurücksah, sondern auch im Bürgertum der heutigen Städte noch thatsächlich der ausschlaggebende Bestandteil war und an dem, was unsre Stadtgemeinden an Rühmenswertem leisteten, seinen vollen Anteil beanspruchen durfte. Ist es zu verwundern, daß dadurch auf der einen Seite die anfangs zu schönen Hoffnungen berechtigende Jnnungs- bewegung der ausgesprochnen wirtschaftlichen Reaktion, dem Ziinftlertum, in die Arme getrieben wurde und auf der andern Seite der Svzialdemo- krcitie zahlreiche sehr brauchbare Rekruten geworben wurden, ganz abgesehen davon, daß jener manchesterliche Irrtum sich mit der Irrlehre von der Prole¬ tarisierung der Massen im modernen Gewerbe vollkommen deckte? Dann kam die erste umfassende gewerbliche Betriebszühlung von 1882. Sie brachte zahlenmäßig den Beweis für die hohe Bedeutung, die das Handwerk neben und trotz der „normalen" Produktionsweise der Großindustrie im deutschen Gewerbfleiß behauptet hatte. Es waren gezählt worden in der Industrie (einschließlich Gewerbe und Bauwesen): mit 1 bis 10 Personen . . 2WS068 Betriebe mit 11 und mehr Personen 4V271 „ zusammen L 270339 Betriebe und in den Betrieben mit 1 bis 10 Personen . . 3628861 Personen mit 11 und mehr Personen 2304802 zusammen 5933 663 Personen Im Jahre 1882 war die Jnnungsbewegung schon ganz in das reaktio¬ näre und zünftlerische Fahrwasser geraten, und die Zahlen wurden nun aus¬ schließlich in diesem Sinne ausgebeutet. Wenn die liberalen Volkswirte über¬ haupt davon sprachen, bestritten sie ihre Beweiskraft, und die jetzt in den Vordergrund getretner Kathedcrsozialisten und Sozialdemokraten spielten die Zahl der Personen gegen die der Betriebe aus, erklärten nun erst recht den Fortbestand des Handwerks neben den „modernen Unternehmungsfvrmen" der „kapitalistischen Wirtschaft" für ganz unmöglich, widmeten die Arbeit ihrer Phantasie ausschließlich dem „vierten Stande" und sahen hohnlächelnd auf den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/242>, abgerufen am 23.07.2024.