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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Die Schäden des Aleinhandels

am wenigsten Bedarf hat. Ist man wegen einer Vereinsversammlung oder
sonst aus irgend einem Anlaß genötigt, in unserm Städtchen ein Wirtshaus
zu besuchen, so kann man zehn gegen eins wetten, daß man auch bei mäßigem
Biergenuß am nächsten Tage die schönsten Kopfschmerzen hat. Ein Teil der
Honoratioren, der größere, verzichtet deshalb überhaupt auf den Wirtshaus¬
besuch, und die Leute, die der alten Sitte treu geblieben sind, es aber daneben
mit ihrer Gesundheit und ihrem Beruf ernst nehmen, müssen schon beim zweiten
Schoppen mit sich zu Rate geben, ob er ihnen auch uoch zuträglich sein wird.
Die schlechten Bierverhältnisse sind in der kleinen Stadt zur wahren Kalamität
geworden. Hier, wo einem sonst so wenig Zerstreuung und Abwechslung ge¬
boten wird, muß man auf die einzige Anregung verzichten, die einem geblieben
ist, die Gesellschaft, und auch in seiner Häuslichkeit kann man sich nicht einmal
den von früher her gewohnten Abendschoppen leisten. Denn sind die Faßbiere
nicht bekömmlich, so sind es die Flaschenbiere noch weniger. Die Leute aber,
die die unabgelagerten, künstlich geklärten Biere tagaus tagein zu trinken
pflegen, weil sie an nichts andres gewöhnt sind, thun das auf Kosten ihrer
Gesundheit. Eine Zeit lang scheinen sie sich zu halten, aber mit einemmale
fallen sie zusammen, der eine früher, der andre später.

Geht das Bier die bessern Gesellschaftsklassen an, so hat die ärmere Be¬
völkerung unter dem elenden, fuselhaltigen Branntwein noch mehr zu leiden.
Der Genuß geringer Mengen dieses Gifts führt zu Betrunkenheit und dadurch
entweder zu völliger Teilnahmlosigkeit und Schlafsucht oder zu Ruhmrederei
und Händelsucht. Ziehen sich in den Kneipen die ungereimten Reden eines
solchen Betrunknen, die immer auf demselben Fleck stehenbleibenden Streitig¬
keiten zwischen zwei Zechgenossen oft die ganze Nacht bis zum frühen Morgen
hin, so hört man auch auf offner Straße bei Hellem lichtem Tage des öftern
ein Zeug schwatzen oder gamern, wie der Schlesier sagt, daß man die Hände
über dem Kopf zusammenschlagen möchte, und bei jeder größern Festlichkeit sieht
man die Abfallenden einen nach dem andern vom Festplatze in die Stadt zurück-
schwankeu. Damit, daß die Leute zu wenig und zu schlecht essen, findet diese
geringe Widerstandsfähigkeit gegen den Alkohol allein nicht ihre Erklärung.
Sie ist begründet der Hauptsache nach in der Fuselhaltigkeit des Branntweins,
an den man nach dem eignen Geständnis der Wirte gewöhnt sein muß, um
ihn vertragen zu können. Und dieser schlechte Schnaps zerrüttet unfehlbar
die Gesundheit, in kleinern Mengen genossen führt er zu Magenschwüche, in
größer" zum Irrsinn, in jedem Falle aber zur Entartung der kommenden
Generation. Wenn in unserm Städtchen von 1950 Einwohnern deren sechs
oder sieben in Irrenhäusern untergebracht und ebenso viel andre fürs Irren¬
haus reif sind, die man nur ihrer Ungefährlichkeit wegen noch frei herum¬
laufen läßt, wenn wir es in ihm mit so vielen schwachsinnigen und geistig
zurückgebliebnen Kindern zu thun haben, so ist eine Ursache der Branntwein.


Die Schäden des Aleinhandels

am wenigsten Bedarf hat. Ist man wegen einer Vereinsversammlung oder
sonst aus irgend einem Anlaß genötigt, in unserm Städtchen ein Wirtshaus
zu besuchen, so kann man zehn gegen eins wetten, daß man auch bei mäßigem
Biergenuß am nächsten Tage die schönsten Kopfschmerzen hat. Ein Teil der
Honoratioren, der größere, verzichtet deshalb überhaupt auf den Wirtshaus¬
besuch, und die Leute, die der alten Sitte treu geblieben sind, es aber daneben
mit ihrer Gesundheit und ihrem Beruf ernst nehmen, müssen schon beim zweiten
Schoppen mit sich zu Rate geben, ob er ihnen auch uoch zuträglich sein wird.
Die schlechten Bierverhältnisse sind in der kleinen Stadt zur wahren Kalamität
geworden. Hier, wo einem sonst so wenig Zerstreuung und Abwechslung ge¬
boten wird, muß man auf die einzige Anregung verzichten, die einem geblieben
ist, die Gesellschaft, und auch in seiner Häuslichkeit kann man sich nicht einmal
den von früher her gewohnten Abendschoppen leisten. Denn sind die Faßbiere
nicht bekömmlich, so sind es die Flaschenbiere noch weniger. Die Leute aber,
die die unabgelagerten, künstlich geklärten Biere tagaus tagein zu trinken
pflegen, weil sie an nichts andres gewöhnt sind, thun das auf Kosten ihrer
Gesundheit. Eine Zeit lang scheinen sie sich zu halten, aber mit einemmale
fallen sie zusammen, der eine früher, der andre später.

Geht das Bier die bessern Gesellschaftsklassen an, so hat die ärmere Be¬
völkerung unter dem elenden, fuselhaltigen Branntwein noch mehr zu leiden.
Der Genuß geringer Mengen dieses Gifts führt zu Betrunkenheit und dadurch
entweder zu völliger Teilnahmlosigkeit und Schlafsucht oder zu Ruhmrederei
und Händelsucht. Ziehen sich in den Kneipen die ungereimten Reden eines
solchen Betrunknen, die immer auf demselben Fleck stehenbleibenden Streitig¬
keiten zwischen zwei Zechgenossen oft die ganze Nacht bis zum frühen Morgen
hin, so hört man auch auf offner Straße bei Hellem lichtem Tage des öftern
ein Zeug schwatzen oder gamern, wie der Schlesier sagt, daß man die Hände
über dem Kopf zusammenschlagen möchte, und bei jeder größern Festlichkeit sieht
man die Abfallenden einen nach dem andern vom Festplatze in die Stadt zurück-
schwankeu. Damit, daß die Leute zu wenig und zu schlecht essen, findet diese
geringe Widerstandsfähigkeit gegen den Alkohol allein nicht ihre Erklärung.
Sie ist begründet der Hauptsache nach in der Fuselhaltigkeit des Branntweins,
an den man nach dem eignen Geständnis der Wirte gewöhnt sein muß, um
ihn vertragen zu können. Und dieser schlechte Schnaps zerrüttet unfehlbar
die Gesundheit, in kleinern Mengen genossen führt er zu Magenschwüche, in
größer» zum Irrsinn, in jedem Falle aber zur Entartung der kommenden
Generation. Wenn in unserm Städtchen von 1950 Einwohnern deren sechs
oder sieben in Irrenhäusern untergebracht und ebenso viel andre fürs Irren¬
haus reif sind, die man nur ihrer Ungefährlichkeit wegen noch frei herum¬
laufen läßt, wenn wir es in ihm mit so vielen schwachsinnigen und geistig
zurückgebliebnen Kindern zu thun haben, so ist eine Ursache der Branntwein.


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[0198] Die Schäden des Aleinhandels am wenigsten Bedarf hat. Ist man wegen einer Vereinsversammlung oder sonst aus irgend einem Anlaß genötigt, in unserm Städtchen ein Wirtshaus zu besuchen, so kann man zehn gegen eins wetten, daß man auch bei mäßigem Biergenuß am nächsten Tage die schönsten Kopfschmerzen hat. Ein Teil der Honoratioren, der größere, verzichtet deshalb überhaupt auf den Wirtshaus¬ besuch, und die Leute, die der alten Sitte treu geblieben sind, es aber daneben mit ihrer Gesundheit und ihrem Beruf ernst nehmen, müssen schon beim zweiten Schoppen mit sich zu Rate geben, ob er ihnen auch uoch zuträglich sein wird. Die schlechten Bierverhältnisse sind in der kleinen Stadt zur wahren Kalamität geworden. Hier, wo einem sonst so wenig Zerstreuung und Abwechslung ge¬ boten wird, muß man auf die einzige Anregung verzichten, die einem geblieben ist, die Gesellschaft, und auch in seiner Häuslichkeit kann man sich nicht einmal den von früher her gewohnten Abendschoppen leisten. Denn sind die Faßbiere nicht bekömmlich, so sind es die Flaschenbiere noch weniger. Die Leute aber, die die unabgelagerten, künstlich geklärten Biere tagaus tagein zu trinken pflegen, weil sie an nichts andres gewöhnt sind, thun das auf Kosten ihrer Gesundheit. Eine Zeit lang scheinen sie sich zu halten, aber mit einemmale fallen sie zusammen, der eine früher, der andre später. Geht das Bier die bessern Gesellschaftsklassen an, so hat die ärmere Be¬ völkerung unter dem elenden, fuselhaltigen Branntwein noch mehr zu leiden. Der Genuß geringer Mengen dieses Gifts führt zu Betrunkenheit und dadurch entweder zu völliger Teilnahmlosigkeit und Schlafsucht oder zu Ruhmrederei und Händelsucht. Ziehen sich in den Kneipen die ungereimten Reden eines solchen Betrunknen, die immer auf demselben Fleck stehenbleibenden Streitig¬ keiten zwischen zwei Zechgenossen oft die ganze Nacht bis zum frühen Morgen hin, so hört man auch auf offner Straße bei Hellem lichtem Tage des öftern ein Zeug schwatzen oder gamern, wie der Schlesier sagt, daß man die Hände über dem Kopf zusammenschlagen möchte, und bei jeder größern Festlichkeit sieht man die Abfallenden einen nach dem andern vom Festplatze in die Stadt zurück- schwankeu. Damit, daß die Leute zu wenig und zu schlecht essen, findet diese geringe Widerstandsfähigkeit gegen den Alkohol allein nicht ihre Erklärung. Sie ist begründet der Hauptsache nach in der Fuselhaltigkeit des Branntweins, an den man nach dem eignen Geständnis der Wirte gewöhnt sein muß, um ihn vertragen zu können. Und dieser schlechte Schnaps zerrüttet unfehlbar die Gesundheit, in kleinern Mengen genossen führt er zu Magenschwüche, in größer» zum Irrsinn, in jedem Falle aber zur Entartung der kommenden Generation. Wenn in unserm Städtchen von 1950 Einwohnern deren sechs oder sieben in Irrenhäusern untergebracht und ebenso viel andre fürs Irren¬ haus reif sind, die man nur ihrer Ungefährlichkeit wegen noch frei herum¬ laufen läßt, wenn wir es in ihm mit so vielen schwachsinnigen und geistig zurückgebliebnen Kindern zu thun haben, so ist eine Ursache der Branntwein.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/198>, abgerufen am 23.07.2024.