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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Gerhart Hauptmann und sein Biograph

endlich auch das Milieu des niedern Volkes, das uns vorgeführt wird. Hatte
dies aber in den "Webern" und selbst in "Vor Sonnenaufgang" einen Zug
ins Große, Allgemeine, insofern uns dort gezeigt wurde, wohin leibliches Elend
und sittliche Verkommenheit die Menschen bringen können, so haben wir es
hier wie in den "Einsamen Menschen" mit einem intimen Vorgange aller-
einfachster Art zu thun, und zugleich allergewöhnlichster. Dort konnte doch
noch der geistige Vorgang in dem jungen Gelehrten fesseln; es handelte sich
gewissermaßen um höhere Dinge, um gebildete Leute, deren geistige Interessen
bei uns Teilnahme und Verständnis finden. Daß ein Mensch nicht geistig
ausreifen, besonders aber nicht geistig schaffen kann, wenn ihn seine Umgebung
herabzieht und für seine Aufgaben keinen Sinn hat, wenn sie ihm gar das
innere Gleichgewicht stört und den Flug seiner Gedanken aufhält, das begreifen
wir, und weil es allgemein menschlich ist, so nehmen wir daran innigen per¬
sönlichen Anteil. Aber daß ein Fuhrmann, ein biedrer, rechtlicher und fleißiger
Mensch, durch seine schlecht gewählte zweite Frau zu Grunde gerichtet wird
und sich zuletzt, am Leben verzagend, aufhängt, weil er seiner ersten Frau auf
dem Sterbebette versprochen hatte, das gemeine Weib nicht zu heiraten, das
kann nur ganz gewöhnliches Mitgefühl erregen. Ja es würde eine dramatische
Teilnahme gar nicht wecken (denn es ist ein ausschließlich epischer Stoff), wenn
es nicht mit der Hauptmann eignen virtuosen Fertigkeit dargestellt wäre.

Diese zeigt das Stück in der That in höchster Vollendung. Weiter kann
die Kunst nicht getrieben werden, einfache Vorgänge des täglichen Lebens in
der Kellerstube Henschels und in der Fuhrmannskneipe so vorzuführen, wie
man sie in Wirklichkeit schauen könnte. Darüber hinaus aber ist der Dichter
auch nicht im geringsten gegangen. Es ist uns, als träten wir in einen Raum,
wo die Figuren gegen das Licht gestellt sind, so flach, so silhouettenhcift er¬
scheinen sie uns. Jede plastische Ausgestaltung, jede wirkliche Charakteristik
ist meisterlich vermieden. Wir sehen nur Umrisse, während wir erwarten, daß
uns der Dichter Blicke in die Tiefe des Seelenlebens thun läßt, sehen meist
Handlungen, ohne über die Motive klar zu werden. Wirkliches Interesse erregt
eigentlich nur Herschel, und auch dies wird dadurch abgeschwächt, daß ihn gar
nicht die Schlechtigkeit seines Weibes zu drücken scheint, sondern nur eine aber¬
gläubische Furcht vor seiner ersten Frau, die wegen des von ihm gebrochnen
Versprechens nicht zur Ruhe kommen kann. Dieses Motiv schiebt sich plötzlich
(im fünften Akt) da in den Vordergrund, wo man folgerichtig eine Wirkung
davon erwartet, daß ihm (im vierten Akt) unter einem fürchterlichen Ausbruch
seines Zorns die Gemeinheit der liederlichen Hanne enthüllt wurde. Dieses
Weib aber ist völlig flach gezeichnet. Auch nicht ein Blick in ihr Inneres
wird uns eröffnet. Wir ahnen nicht, was in ihrer Seele vorgeht. Alle
übrigen Personen sind nicht mehr als in großen Zügen geschilderte Typen,
der gutmütige Gasthofsbesitzer, der charakterlose Pächter der Schankstube, sein


Grenzboten I 1899 21
Gerhart Hauptmann und sein Biograph

endlich auch das Milieu des niedern Volkes, das uns vorgeführt wird. Hatte
dies aber in den „Webern" und selbst in „Vor Sonnenaufgang" einen Zug
ins Große, Allgemeine, insofern uns dort gezeigt wurde, wohin leibliches Elend
und sittliche Verkommenheit die Menschen bringen können, so haben wir es
hier wie in den „Einsamen Menschen" mit einem intimen Vorgange aller-
einfachster Art zu thun, und zugleich allergewöhnlichster. Dort konnte doch
noch der geistige Vorgang in dem jungen Gelehrten fesseln; es handelte sich
gewissermaßen um höhere Dinge, um gebildete Leute, deren geistige Interessen
bei uns Teilnahme und Verständnis finden. Daß ein Mensch nicht geistig
ausreifen, besonders aber nicht geistig schaffen kann, wenn ihn seine Umgebung
herabzieht und für seine Aufgaben keinen Sinn hat, wenn sie ihm gar das
innere Gleichgewicht stört und den Flug seiner Gedanken aufhält, das begreifen
wir, und weil es allgemein menschlich ist, so nehmen wir daran innigen per¬
sönlichen Anteil. Aber daß ein Fuhrmann, ein biedrer, rechtlicher und fleißiger
Mensch, durch seine schlecht gewählte zweite Frau zu Grunde gerichtet wird
und sich zuletzt, am Leben verzagend, aufhängt, weil er seiner ersten Frau auf
dem Sterbebette versprochen hatte, das gemeine Weib nicht zu heiraten, das
kann nur ganz gewöhnliches Mitgefühl erregen. Ja es würde eine dramatische
Teilnahme gar nicht wecken (denn es ist ein ausschließlich epischer Stoff), wenn
es nicht mit der Hauptmann eignen virtuosen Fertigkeit dargestellt wäre.

Diese zeigt das Stück in der That in höchster Vollendung. Weiter kann
die Kunst nicht getrieben werden, einfache Vorgänge des täglichen Lebens in
der Kellerstube Henschels und in der Fuhrmannskneipe so vorzuführen, wie
man sie in Wirklichkeit schauen könnte. Darüber hinaus aber ist der Dichter
auch nicht im geringsten gegangen. Es ist uns, als träten wir in einen Raum,
wo die Figuren gegen das Licht gestellt sind, so flach, so silhouettenhcift er¬
scheinen sie uns. Jede plastische Ausgestaltung, jede wirkliche Charakteristik
ist meisterlich vermieden. Wir sehen nur Umrisse, während wir erwarten, daß
uns der Dichter Blicke in die Tiefe des Seelenlebens thun läßt, sehen meist
Handlungen, ohne über die Motive klar zu werden. Wirkliches Interesse erregt
eigentlich nur Herschel, und auch dies wird dadurch abgeschwächt, daß ihn gar
nicht die Schlechtigkeit seines Weibes zu drücken scheint, sondern nur eine aber¬
gläubische Furcht vor seiner ersten Frau, die wegen des von ihm gebrochnen
Versprechens nicht zur Ruhe kommen kann. Dieses Motiv schiebt sich plötzlich
(im fünften Akt) da in den Vordergrund, wo man folgerichtig eine Wirkung
davon erwartet, daß ihm (im vierten Akt) unter einem fürchterlichen Ausbruch
seines Zorns die Gemeinheit der liederlichen Hanne enthüllt wurde. Dieses
Weib aber ist völlig flach gezeichnet. Auch nicht ein Blick in ihr Inneres
wird uns eröffnet. Wir ahnen nicht, was in ihrer Seele vorgeht. Alle
übrigen Personen sind nicht mehr als in großen Zügen geschilderte Typen,
der gutmütige Gasthofsbesitzer, der charakterlose Pächter der Schankstube, sein


Grenzboten I 1899 21
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[0169] Gerhart Hauptmann und sein Biograph endlich auch das Milieu des niedern Volkes, das uns vorgeführt wird. Hatte dies aber in den „Webern" und selbst in „Vor Sonnenaufgang" einen Zug ins Große, Allgemeine, insofern uns dort gezeigt wurde, wohin leibliches Elend und sittliche Verkommenheit die Menschen bringen können, so haben wir es hier wie in den „Einsamen Menschen" mit einem intimen Vorgange aller- einfachster Art zu thun, und zugleich allergewöhnlichster. Dort konnte doch noch der geistige Vorgang in dem jungen Gelehrten fesseln; es handelte sich gewissermaßen um höhere Dinge, um gebildete Leute, deren geistige Interessen bei uns Teilnahme und Verständnis finden. Daß ein Mensch nicht geistig ausreifen, besonders aber nicht geistig schaffen kann, wenn ihn seine Umgebung herabzieht und für seine Aufgaben keinen Sinn hat, wenn sie ihm gar das innere Gleichgewicht stört und den Flug seiner Gedanken aufhält, das begreifen wir, und weil es allgemein menschlich ist, so nehmen wir daran innigen per¬ sönlichen Anteil. Aber daß ein Fuhrmann, ein biedrer, rechtlicher und fleißiger Mensch, durch seine schlecht gewählte zweite Frau zu Grunde gerichtet wird und sich zuletzt, am Leben verzagend, aufhängt, weil er seiner ersten Frau auf dem Sterbebette versprochen hatte, das gemeine Weib nicht zu heiraten, das kann nur ganz gewöhnliches Mitgefühl erregen. Ja es würde eine dramatische Teilnahme gar nicht wecken (denn es ist ein ausschließlich epischer Stoff), wenn es nicht mit der Hauptmann eignen virtuosen Fertigkeit dargestellt wäre. Diese zeigt das Stück in der That in höchster Vollendung. Weiter kann die Kunst nicht getrieben werden, einfache Vorgänge des täglichen Lebens in der Kellerstube Henschels und in der Fuhrmannskneipe so vorzuführen, wie man sie in Wirklichkeit schauen könnte. Darüber hinaus aber ist der Dichter auch nicht im geringsten gegangen. Es ist uns, als träten wir in einen Raum, wo die Figuren gegen das Licht gestellt sind, so flach, so silhouettenhcift er¬ scheinen sie uns. Jede plastische Ausgestaltung, jede wirkliche Charakteristik ist meisterlich vermieden. Wir sehen nur Umrisse, während wir erwarten, daß uns der Dichter Blicke in die Tiefe des Seelenlebens thun läßt, sehen meist Handlungen, ohne über die Motive klar zu werden. Wirkliches Interesse erregt eigentlich nur Herschel, und auch dies wird dadurch abgeschwächt, daß ihn gar nicht die Schlechtigkeit seines Weibes zu drücken scheint, sondern nur eine aber¬ gläubische Furcht vor seiner ersten Frau, die wegen des von ihm gebrochnen Versprechens nicht zur Ruhe kommen kann. Dieses Motiv schiebt sich plötzlich (im fünften Akt) da in den Vordergrund, wo man folgerichtig eine Wirkung davon erwartet, daß ihm (im vierten Akt) unter einem fürchterlichen Ausbruch seines Zorns die Gemeinheit der liederlichen Hanne enthüllt wurde. Dieses Weib aber ist völlig flach gezeichnet. Auch nicht ein Blick in ihr Inneres wird uns eröffnet. Wir ahnen nicht, was in ihrer Seele vorgeht. Alle übrigen Personen sind nicht mehr als in großen Zügen geschilderte Typen, der gutmütige Gasthofsbesitzer, der charakterlose Pächter der Schankstube, sein Grenzboten I 1899 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/169>, abgerufen am 03.07.2024.