Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.Gerhart Hauptmann und sein Biograph in den Märchengestalten (?). Aus der Welt des Menschengeistes treten in diese "Im transcendenter gelang es Hauptmann nicht mehr," so hätte Schlenther Daß dies Hauptmann noch fehlt, muß man aus der Unklarheit schließen, Gerhart Hauptmann und sein Biograph in den Märchengestalten (?). Aus der Welt des Menschengeistes treten in diese „Im transcendenter gelang es Hauptmann nicht mehr," so hätte Schlenther Daß dies Hauptmann noch fehlt, muß man aus der Unklarheit schließen, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0166" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229852"/> <fw type="header" place="top"> Gerhart Hauptmann und sein Biograph</fw><lb/> <p xml:id="ID_636" prev="#ID_635"> in den Märchengestalten (?). Aus der Welt des Menschengeistes treten in diese<lb/> Natur typische Erscheinungen ein. Meister Heinrich ist keine Person für sich,<lb/> sondern der hochstrebende, von Schönheit verlockte, verirrte Künstlergeist, wie<lb/> er im Buche steht. Ebenso ist seine Frau Magda kein Wesen sür sich, sondern<lb/> der Inbegriff eines verlassenen und betrognen Frauenschicksals. Die Knaben<lb/> tragen das allgemeine Zeichen der Waisenschaft. Pfarrer, Schulmeister, Barbier,<lb/> deren Namen wir gar nicht einmal erfahren, sind nichts andres, als eben<lb/> Pfarrer, Schulmeister und Barbier. Sie alle sind weniger Menschen, als daß<lb/> sie Menschliches repräsentieren. Dadurch erst erhalten sie jene Allgemeingiltigkeit,<lb/> durch die sie sich einer andern Welt gegenüber behaupten können. Das historische<lb/> Drama konnte noch naturalistisch sein. Dem transcendenter Drama gelingt es<lb/> nicht mehr."</p><lb/> <p xml:id="ID_637"> „Im transcendenter gelang es Hauptmann nicht mehr," so hätte Schlenther<lb/> sagen sollen. Denn daß in einer Jdeendichtung oder im Märchendrama nicht<lb/> wirkliche Menschen, individuelle Gestalten von Fleisch und Blut auftrete»<lb/> könnten, wie will man das erweisen? Und wenn es erwiesen wäre, so wäre<lb/> damit unsers Erachtens das Urteil über diese Dichtungsart gesprochen, weil<lb/> das Drama solche lebendigen Einzelwesen durchaus nicht entbehren kann. Hat<lb/> es diese Kunst mit der Nachahmung des wirklichen Lebens zu thun, sollen wir<lb/> glauben, daß die vorgeführten Personen lebende Wesen sind, so dürfen sie nicht<lb/> Typen sein, sondern Individuen, d. h. also: nicht bloß Typen. Je mehr das<lb/> Typische sich dem Zuschauer aufdrängt, desto mehr verlieren sie an Wahrheit,<lb/> desto mehr wird die notwendige Illusion gestört. Vielleicht aber brauchte der<lb/> obige Satz nur zu heißen: „Im transcendenter gelang es Hauptmann noch<lb/> nicht." Denn so sehr wir in dem Werke einen Fortschritt anerkennen, so weit<lb/> sind wir doch davon entfernt, in ihm ein Meisterstück zu sehen. Es ist viel¬<lb/> mehr zu hoffen, daß es dem Dichter, der doch die Mitte der Dreißig kaum<lb/> überschritten hat, noch gelingen wird, Idealismus und Realismus in besserer,<lb/> in rechter Weise zu vereinen. Schiller hatte in diesem Alter auch noch keinen<lb/> „Wallenstein" geschaffen, damit tröste er sich und uns. Aber — Schiller hat<lb/> die zehn Jahre zwischen dem „Don Carlos" und seinem ersten Meisterwerk aller¬<lb/> dings strengster Geistesarbeit gewidmet, um die Lücken auszufüllen, die ihm<lb/> selbst eine siebenjährige Schulung der Militärakademie gelassen hatte. Erst ein<lb/> eingehendes Studium der Geschichte, der Antike und der Philosophie ließ in<lb/> ihm die Geistesarbeit und die Geistesschärfe reifen, die ihn zur Erfassung der<lb/> höchsten Menschheitsprobleme befähigte.</p><lb/> <p xml:id="ID_638" next="#ID_639"> Daß dies Hauptmann noch fehlt, muß man aus der Unklarheit schließen,<lb/> mit der er die Idee seiner „Versunknen Glocke" erfaßt und durchgeführt hat.<lb/> Es ist schon bedenklich, daß wir nicht recht erkennen, wodurch die Wandlung<lb/> in dem Glockengießer Heinrich, der doch nach aller Mitmenschen Zeugnis bisher<lb/> so Schönes geleistet hat, eigentlich hervorgerufen wird, und wodurch sie innerlich</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0166]
Gerhart Hauptmann und sein Biograph
in den Märchengestalten (?). Aus der Welt des Menschengeistes treten in diese
Natur typische Erscheinungen ein. Meister Heinrich ist keine Person für sich,
sondern der hochstrebende, von Schönheit verlockte, verirrte Künstlergeist, wie
er im Buche steht. Ebenso ist seine Frau Magda kein Wesen sür sich, sondern
der Inbegriff eines verlassenen und betrognen Frauenschicksals. Die Knaben
tragen das allgemeine Zeichen der Waisenschaft. Pfarrer, Schulmeister, Barbier,
deren Namen wir gar nicht einmal erfahren, sind nichts andres, als eben
Pfarrer, Schulmeister und Barbier. Sie alle sind weniger Menschen, als daß
sie Menschliches repräsentieren. Dadurch erst erhalten sie jene Allgemeingiltigkeit,
durch die sie sich einer andern Welt gegenüber behaupten können. Das historische
Drama konnte noch naturalistisch sein. Dem transcendenter Drama gelingt es
nicht mehr."
„Im transcendenter gelang es Hauptmann nicht mehr," so hätte Schlenther
sagen sollen. Denn daß in einer Jdeendichtung oder im Märchendrama nicht
wirkliche Menschen, individuelle Gestalten von Fleisch und Blut auftrete»
könnten, wie will man das erweisen? Und wenn es erwiesen wäre, so wäre
damit unsers Erachtens das Urteil über diese Dichtungsart gesprochen, weil
das Drama solche lebendigen Einzelwesen durchaus nicht entbehren kann. Hat
es diese Kunst mit der Nachahmung des wirklichen Lebens zu thun, sollen wir
glauben, daß die vorgeführten Personen lebende Wesen sind, so dürfen sie nicht
Typen sein, sondern Individuen, d. h. also: nicht bloß Typen. Je mehr das
Typische sich dem Zuschauer aufdrängt, desto mehr verlieren sie an Wahrheit,
desto mehr wird die notwendige Illusion gestört. Vielleicht aber brauchte der
obige Satz nur zu heißen: „Im transcendenter gelang es Hauptmann noch
nicht." Denn so sehr wir in dem Werke einen Fortschritt anerkennen, so weit
sind wir doch davon entfernt, in ihm ein Meisterstück zu sehen. Es ist viel¬
mehr zu hoffen, daß es dem Dichter, der doch die Mitte der Dreißig kaum
überschritten hat, noch gelingen wird, Idealismus und Realismus in besserer,
in rechter Weise zu vereinen. Schiller hatte in diesem Alter auch noch keinen
„Wallenstein" geschaffen, damit tröste er sich und uns. Aber — Schiller hat
die zehn Jahre zwischen dem „Don Carlos" und seinem ersten Meisterwerk aller¬
dings strengster Geistesarbeit gewidmet, um die Lücken auszufüllen, die ihm
selbst eine siebenjährige Schulung der Militärakademie gelassen hatte. Erst ein
eingehendes Studium der Geschichte, der Antike und der Philosophie ließ in
ihm die Geistesarbeit und die Geistesschärfe reifen, die ihn zur Erfassung der
höchsten Menschheitsprobleme befähigte.
Daß dies Hauptmann noch fehlt, muß man aus der Unklarheit schließen,
mit der er die Idee seiner „Versunknen Glocke" erfaßt und durchgeführt hat.
Es ist schon bedenklich, daß wir nicht recht erkennen, wodurch die Wandlung
in dem Glockengießer Heinrich, der doch nach aller Mitmenschen Zeugnis bisher
so Schönes geleistet hat, eigentlich hervorgerufen wird, und wodurch sie innerlich
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