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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Politik und Finanzen in Rußland

Wie die Dinge liegen, wird zwar eine ansehnliche Menge Getreide ausgeführt
werden, aber doch nicht genug, ohne starke Verminderung des Goldvorrats
der Negierung die staatlichen und privaten Zahlungen auszugleichen, die ins
Ausland gehn müssen. Mehrere Fachleute Rußlands (Jssajew, Ohl. Golowin)
fürchten einen gefährlich starken Abfluß des Goldes ins Ausland. Herr Golowin
hat noch eben in der Rovojs ^Vrsing. auf die Gefahr hingewiesen, die den Gold¬
verhältnissen Rußlands aus der gegenwärtigen Spannung auf dem Geldmarkte
droht. In der That wird Herr Witte nicht nur kein frisches Geld borgen,
sondern auch nicht verhindern können, daß der Zufluß an Anlagekapital für
die russische Industrie bedeutend eintrocknet. Und sollte eines Tages auf der
Pariser Börse der Gedanke laut werden, daß die russischen Papiere wegen Un¬
sicherheit des Rudels abzustoßen seien, so wären die Folgen davon für Nu߬
land verderblich, wenigstens für die neue Währung und die neue Industrie.
Es ist höchst unheilvoll für den russischen Finanzminister, daß seiner kühnen,
die günstigen Geldverhältnisse Europas ausnutzenden Kreditwirtschaft unmittelbar
ein Umschwung in Europa gefolgt ist, der den Diskont an den Banken von
England und Deutschland auf eine außerordentliche Höhe getrieben hat. Der
Diskont an der Englischen Bank hat mit vier Prozent eine Höhe erreicht, die seit
dem großen Baringschen Krach nicht vorgekommen ist; die deutsche Neichsbank
hat mit sechs Prozent den höchsten Diskont zu verzeichnen seit ihrer Gründung.
Die großen russischen Unternehmungen sind auf einen europäischen Zinsfuß von
zwei bis drei Prozent gegründet und müssen es hemmend empfinden, wenn er
auf fünf bis sechs Prozent steigt. Jedenfalls wird der Herr Finanzminister
aber an einem Punkte seines Weges dem Minister des Auswärtigen begegnen
und sich mit ihm darüber auseinandersetzen müssen, wie weit die Geldwirtschaft
Rußlands seiner äußern Politik auf ihren steilen Bahnen folgen kann. Jede
auch nur entfernt auftauchende Gefahr einer kriegerischen Verwicklung würde
den kühnen Ausbau der russischen Finanzen wahrscheinlich sofort ins Wanken
bringen; man wird kaum zu weit gehn mit der Annahme, daß England es
in der Hand hat, Nußland in die größte wirtschaftliche Verwirrung zu stürzen,
noch ehe seine Flotte einen Schuß ans russische Häfen gelöst hat. Eine Lage,
durch die die bisher unabhängige äußere Politik Rußlands stark beeinflußt
werden dürfte. Oder sollte diese Verständigung der beiden Minister schon
stattgefunden haben? So scheint es in der That.

Das Rundschreiben, das die europäischen Mächte zu gemeinsamer Ab¬
rüstung oder Einschränkung ihrer Rüstungen aufrief, hat allgemeines Erstaunen
und viel Kopfschütteln hervorgerufen. Man schüttelt den Kopf, weil man
an die Ausführbarkeit solcher Pläne in unsrer Zeit und soweit sie bedeutende
Wirkung haben sollten, nicht recht glauben will. Man erstaunt, weil sie von
dem Staate ausgehen, der von jeher alle andern an Eroberungslust über¬
troffen und mehr als alle andern seine Kraft in den Dienst der äußern Politik


Grenzboten I 1899 20
Politik und Finanzen in Rußland

Wie die Dinge liegen, wird zwar eine ansehnliche Menge Getreide ausgeführt
werden, aber doch nicht genug, ohne starke Verminderung des Goldvorrats
der Negierung die staatlichen und privaten Zahlungen auszugleichen, die ins
Ausland gehn müssen. Mehrere Fachleute Rußlands (Jssajew, Ohl. Golowin)
fürchten einen gefährlich starken Abfluß des Goldes ins Ausland. Herr Golowin
hat noch eben in der Rovojs ^Vrsing. auf die Gefahr hingewiesen, die den Gold¬
verhältnissen Rußlands aus der gegenwärtigen Spannung auf dem Geldmarkte
droht. In der That wird Herr Witte nicht nur kein frisches Geld borgen,
sondern auch nicht verhindern können, daß der Zufluß an Anlagekapital für
die russische Industrie bedeutend eintrocknet. Und sollte eines Tages auf der
Pariser Börse der Gedanke laut werden, daß die russischen Papiere wegen Un¬
sicherheit des Rudels abzustoßen seien, so wären die Folgen davon für Nu߬
land verderblich, wenigstens für die neue Währung und die neue Industrie.
Es ist höchst unheilvoll für den russischen Finanzminister, daß seiner kühnen,
die günstigen Geldverhältnisse Europas ausnutzenden Kreditwirtschaft unmittelbar
ein Umschwung in Europa gefolgt ist, der den Diskont an den Banken von
England und Deutschland auf eine außerordentliche Höhe getrieben hat. Der
Diskont an der Englischen Bank hat mit vier Prozent eine Höhe erreicht, die seit
dem großen Baringschen Krach nicht vorgekommen ist; die deutsche Neichsbank
hat mit sechs Prozent den höchsten Diskont zu verzeichnen seit ihrer Gründung.
Die großen russischen Unternehmungen sind auf einen europäischen Zinsfuß von
zwei bis drei Prozent gegründet und müssen es hemmend empfinden, wenn er
auf fünf bis sechs Prozent steigt. Jedenfalls wird der Herr Finanzminister
aber an einem Punkte seines Weges dem Minister des Auswärtigen begegnen
und sich mit ihm darüber auseinandersetzen müssen, wie weit die Geldwirtschaft
Rußlands seiner äußern Politik auf ihren steilen Bahnen folgen kann. Jede
auch nur entfernt auftauchende Gefahr einer kriegerischen Verwicklung würde
den kühnen Ausbau der russischen Finanzen wahrscheinlich sofort ins Wanken
bringen; man wird kaum zu weit gehn mit der Annahme, daß England es
in der Hand hat, Nußland in die größte wirtschaftliche Verwirrung zu stürzen,
noch ehe seine Flotte einen Schuß ans russische Häfen gelöst hat. Eine Lage,
durch die die bisher unabhängige äußere Politik Rußlands stark beeinflußt
werden dürfte. Oder sollte diese Verständigung der beiden Minister schon
stattgefunden haben? So scheint es in der That.

Das Rundschreiben, das die europäischen Mächte zu gemeinsamer Ab¬
rüstung oder Einschränkung ihrer Rüstungen aufrief, hat allgemeines Erstaunen
und viel Kopfschütteln hervorgerufen. Man schüttelt den Kopf, weil man
an die Ausführbarkeit solcher Pläne in unsrer Zeit und soweit sie bedeutende
Wirkung haben sollten, nicht recht glauben will. Man erstaunt, weil sie von
dem Staate ausgehen, der von jeher alle andern an Eroberungslust über¬
troffen und mehr als alle andern seine Kraft in den Dienst der äußern Politik


Grenzboten I 1899 20
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[0161] Politik und Finanzen in Rußland Wie die Dinge liegen, wird zwar eine ansehnliche Menge Getreide ausgeführt werden, aber doch nicht genug, ohne starke Verminderung des Goldvorrats der Negierung die staatlichen und privaten Zahlungen auszugleichen, die ins Ausland gehn müssen. Mehrere Fachleute Rußlands (Jssajew, Ohl. Golowin) fürchten einen gefährlich starken Abfluß des Goldes ins Ausland. Herr Golowin hat noch eben in der Rovojs ^Vrsing. auf die Gefahr hingewiesen, die den Gold¬ verhältnissen Rußlands aus der gegenwärtigen Spannung auf dem Geldmarkte droht. In der That wird Herr Witte nicht nur kein frisches Geld borgen, sondern auch nicht verhindern können, daß der Zufluß an Anlagekapital für die russische Industrie bedeutend eintrocknet. Und sollte eines Tages auf der Pariser Börse der Gedanke laut werden, daß die russischen Papiere wegen Un¬ sicherheit des Rudels abzustoßen seien, so wären die Folgen davon für Nu߬ land verderblich, wenigstens für die neue Währung und die neue Industrie. Es ist höchst unheilvoll für den russischen Finanzminister, daß seiner kühnen, die günstigen Geldverhältnisse Europas ausnutzenden Kreditwirtschaft unmittelbar ein Umschwung in Europa gefolgt ist, der den Diskont an den Banken von England und Deutschland auf eine außerordentliche Höhe getrieben hat. Der Diskont an der Englischen Bank hat mit vier Prozent eine Höhe erreicht, die seit dem großen Baringschen Krach nicht vorgekommen ist; die deutsche Neichsbank hat mit sechs Prozent den höchsten Diskont zu verzeichnen seit ihrer Gründung. Die großen russischen Unternehmungen sind auf einen europäischen Zinsfuß von zwei bis drei Prozent gegründet und müssen es hemmend empfinden, wenn er auf fünf bis sechs Prozent steigt. Jedenfalls wird der Herr Finanzminister aber an einem Punkte seines Weges dem Minister des Auswärtigen begegnen und sich mit ihm darüber auseinandersetzen müssen, wie weit die Geldwirtschaft Rußlands seiner äußern Politik auf ihren steilen Bahnen folgen kann. Jede auch nur entfernt auftauchende Gefahr einer kriegerischen Verwicklung würde den kühnen Ausbau der russischen Finanzen wahrscheinlich sofort ins Wanken bringen; man wird kaum zu weit gehn mit der Annahme, daß England es in der Hand hat, Nußland in die größte wirtschaftliche Verwirrung zu stürzen, noch ehe seine Flotte einen Schuß ans russische Häfen gelöst hat. Eine Lage, durch die die bisher unabhängige äußere Politik Rußlands stark beeinflußt werden dürfte. Oder sollte diese Verständigung der beiden Minister schon stattgefunden haben? So scheint es in der That. Das Rundschreiben, das die europäischen Mächte zu gemeinsamer Ab¬ rüstung oder Einschränkung ihrer Rüstungen aufrief, hat allgemeines Erstaunen und viel Kopfschütteln hervorgerufen. Man schüttelt den Kopf, weil man an die Ausführbarkeit solcher Pläne in unsrer Zeit und soweit sie bedeutende Wirkung haben sollten, nicht recht glauben will. Man erstaunt, weil sie von dem Staate ausgehen, der von jeher alle andern an Eroberungslust über¬ troffen und mehr als alle andern seine Kraft in den Dienst der äußern Politik Grenzboten I 1899 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/161>, abgerufen am 23.07.2024.