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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Politik und Finanzen in Rußland

Spalten weiter, daß im Gubernium Woroncsch, das nicht offiziell zu den not¬
leidenden gehört, Summen angewiesen worden seien, um den Bauern, die ihre
Pferde verloren haben, neue Pferde zu verschaffen. So dehnt sich das Not¬
gebiet immer weiter aus. Wenn es so steht, wird Herr Witte Millionen
hergeben müssen, um dem Unheil zu wehren. Woher die Millionen aber
nehmen? Schon seit geraumer Zeit macht sich in der innern Verwaltung
des Landes eine auffallende Sparsamkeit in kleinen und oft doch notwendigen
Bedürfnissen, z. B. für Polizei, Kanzleien, Krankenhäuser u. dergl., bemerkbar,
die nicht recht erklärlich ist bei so vollen Staatskassen. Es hat aber den An¬
schein, als wolle man an Hemd und Hose sparen, um einen neuen und schonen
Gaul vor die Kutsche zu spannen. Eine neue äußere Anleihe ist kaum unter¬
zubringen. Die Bahnbauten können nicht plötzlich abgebrochen werden. Zar
Nikolaus hat freilich befohlen, daß für die nächsten Jahre -- man sagt für fünf
Jahre -- je 90 Millionen Rubel jährlich zum Ausbau der Flotte anzuweisen
seien. Aber zwischen Anweisen und Verwenden liegt das Haben, und Herr Witte
war lauge schon in Zweifel, wo er die ersten 90 Millionen herbekommen sollte.
Nun las man in den Zeitungen, daß die Verwendung der ersten 90 Millionen
hinausgeschoben worden sei. Das ist recht schön, schafft aber noch kein Geld für
den Notstand oder für neue Kanonen, weil die 90 Millionen bisher nur ein
Wunsch oder Befehl, aber keine Wirklichkeit waren. Es bleibt der angesammelte
Goldschatz oder die Nvtenpresse als Ausweg. Die umlaufenden Banknoten
haben sich in den ersten elf Monaten vorigen Jahres um 150 Millionen Rubel
vermindert, während der Notenvorrat der Staatsbank nur wenig abgenommen
hat und Ende November 68^ Millionen Rubel betrug, die dem Bedürfnis
nicht genügen würden. Ein wie großer Goldvorrat dem Herrn Minister, der
ihn vor einem Jahre mit 1470 Millionen angab, heute noch zur Verfügung
steht, ist mir nicht bekannt. Man darf indessen sicher annehmen, daß er sehr
abgenommen hat, ob nun um 164 Millionen, wie versichert wird, oder um
mehr, bleibt dahingestellt. Nach Ausweis der Staatsbank belief sich ihr Gold¬
vorrat am 16./28, November vorigen Jahres auf mehr als 995 Millionen, sodaß
sie nach dem Bankgesetz oder vielmehr dem zarischen Befehl vom 29. August
1897 in der Lage wäre, noch etwa 515 Millionen Rubel an Banknoten in
Umlauf zu setzen, die im Lande wohl ohne Anstand würden aufgenommen
werden. Immerhin ist es mißlich, den Goldvorrat, von dem der fremdländische
Nubelkurs abhängt, so stark in Anspruch zu nehmen. Zudem wird durch eine
ausgedehnte Hungersnot die Sicherheit der Zahlen, mit denen das Budget
des Staates prangt, einigermaßen gefährdet, auch wenn man sie an sich ohne
Bedenken annehmen will.

Befände sich die Volkswirtschaft in gesunder Verfassung, so ginge vielleicht
die gesamte Ernte Rußlands drauf, um jedem fo viel Brot und Viehfutter
zukommen zu lassen, als Mensch und Vieh bis zur nächsten Ernte bedürfen.


Politik und Finanzen in Rußland

Spalten weiter, daß im Gubernium Woroncsch, das nicht offiziell zu den not¬
leidenden gehört, Summen angewiesen worden seien, um den Bauern, die ihre
Pferde verloren haben, neue Pferde zu verschaffen. So dehnt sich das Not¬
gebiet immer weiter aus. Wenn es so steht, wird Herr Witte Millionen
hergeben müssen, um dem Unheil zu wehren. Woher die Millionen aber
nehmen? Schon seit geraumer Zeit macht sich in der innern Verwaltung
des Landes eine auffallende Sparsamkeit in kleinen und oft doch notwendigen
Bedürfnissen, z. B. für Polizei, Kanzleien, Krankenhäuser u. dergl., bemerkbar,
die nicht recht erklärlich ist bei so vollen Staatskassen. Es hat aber den An¬
schein, als wolle man an Hemd und Hose sparen, um einen neuen und schonen
Gaul vor die Kutsche zu spannen. Eine neue äußere Anleihe ist kaum unter¬
zubringen. Die Bahnbauten können nicht plötzlich abgebrochen werden. Zar
Nikolaus hat freilich befohlen, daß für die nächsten Jahre — man sagt für fünf
Jahre — je 90 Millionen Rubel jährlich zum Ausbau der Flotte anzuweisen
seien. Aber zwischen Anweisen und Verwenden liegt das Haben, und Herr Witte
war lauge schon in Zweifel, wo er die ersten 90 Millionen herbekommen sollte.
Nun las man in den Zeitungen, daß die Verwendung der ersten 90 Millionen
hinausgeschoben worden sei. Das ist recht schön, schafft aber noch kein Geld für
den Notstand oder für neue Kanonen, weil die 90 Millionen bisher nur ein
Wunsch oder Befehl, aber keine Wirklichkeit waren. Es bleibt der angesammelte
Goldschatz oder die Nvtenpresse als Ausweg. Die umlaufenden Banknoten
haben sich in den ersten elf Monaten vorigen Jahres um 150 Millionen Rubel
vermindert, während der Notenvorrat der Staatsbank nur wenig abgenommen
hat und Ende November 68^ Millionen Rubel betrug, die dem Bedürfnis
nicht genügen würden. Ein wie großer Goldvorrat dem Herrn Minister, der
ihn vor einem Jahre mit 1470 Millionen angab, heute noch zur Verfügung
steht, ist mir nicht bekannt. Man darf indessen sicher annehmen, daß er sehr
abgenommen hat, ob nun um 164 Millionen, wie versichert wird, oder um
mehr, bleibt dahingestellt. Nach Ausweis der Staatsbank belief sich ihr Gold¬
vorrat am 16./28, November vorigen Jahres auf mehr als 995 Millionen, sodaß
sie nach dem Bankgesetz oder vielmehr dem zarischen Befehl vom 29. August
1897 in der Lage wäre, noch etwa 515 Millionen Rubel an Banknoten in
Umlauf zu setzen, die im Lande wohl ohne Anstand würden aufgenommen
werden. Immerhin ist es mißlich, den Goldvorrat, von dem der fremdländische
Nubelkurs abhängt, so stark in Anspruch zu nehmen. Zudem wird durch eine
ausgedehnte Hungersnot die Sicherheit der Zahlen, mit denen das Budget
des Staates prangt, einigermaßen gefährdet, auch wenn man sie an sich ohne
Bedenken annehmen will.

Befände sich die Volkswirtschaft in gesunder Verfassung, so ginge vielleicht
die gesamte Ernte Rußlands drauf, um jedem fo viel Brot und Viehfutter
zukommen zu lassen, als Mensch und Vieh bis zur nächsten Ernte bedürfen.


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[0160] Politik und Finanzen in Rußland Spalten weiter, daß im Gubernium Woroncsch, das nicht offiziell zu den not¬ leidenden gehört, Summen angewiesen worden seien, um den Bauern, die ihre Pferde verloren haben, neue Pferde zu verschaffen. So dehnt sich das Not¬ gebiet immer weiter aus. Wenn es so steht, wird Herr Witte Millionen hergeben müssen, um dem Unheil zu wehren. Woher die Millionen aber nehmen? Schon seit geraumer Zeit macht sich in der innern Verwaltung des Landes eine auffallende Sparsamkeit in kleinen und oft doch notwendigen Bedürfnissen, z. B. für Polizei, Kanzleien, Krankenhäuser u. dergl., bemerkbar, die nicht recht erklärlich ist bei so vollen Staatskassen. Es hat aber den An¬ schein, als wolle man an Hemd und Hose sparen, um einen neuen und schonen Gaul vor die Kutsche zu spannen. Eine neue äußere Anleihe ist kaum unter¬ zubringen. Die Bahnbauten können nicht plötzlich abgebrochen werden. Zar Nikolaus hat freilich befohlen, daß für die nächsten Jahre — man sagt für fünf Jahre — je 90 Millionen Rubel jährlich zum Ausbau der Flotte anzuweisen seien. Aber zwischen Anweisen und Verwenden liegt das Haben, und Herr Witte war lauge schon in Zweifel, wo er die ersten 90 Millionen herbekommen sollte. Nun las man in den Zeitungen, daß die Verwendung der ersten 90 Millionen hinausgeschoben worden sei. Das ist recht schön, schafft aber noch kein Geld für den Notstand oder für neue Kanonen, weil die 90 Millionen bisher nur ein Wunsch oder Befehl, aber keine Wirklichkeit waren. Es bleibt der angesammelte Goldschatz oder die Nvtenpresse als Ausweg. Die umlaufenden Banknoten haben sich in den ersten elf Monaten vorigen Jahres um 150 Millionen Rubel vermindert, während der Notenvorrat der Staatsbank nur wenig abgenommen hat und Ende November 68^ Millionen Rubel betrug, die dem Bedürfnis nicht genügen würden. Ein wie großer Goldvorrat dem Herrn Minister, der ihn vor einem Jahre mit 1470 Millionen angab, heute noch zur Verfügung steht, ist mir nicht bekannt. Man darf indessen sicher annehmen, daß er sehr abgenommen hat, ob nun um 164 Millionen, wie versichert wird, oder um mehr, bleibt dahingestellt. Nach Ausweis der Staatsbank belief sich ihr Gold¬ vorrat am 16./28, November vorigen Jahres auf mehr als 995 Millionen, sodaß sie nach dem Bankgesetz oder vielmehr dem zarischen Befehl vom 29. August 1897 in der Lage wäre, noch etwa 515 Millionen Rubel an Banknoten in Umlauf zu setzen, die im Lande wohl ohne Anstand würden aufgenommen werden. Immerhin ist es mißlich, den Goldvorrat, von dem der fremdländische Nubelkurs abhängt, so stark in Anspruch zu nehmen. Zudem wird durch eine ausgedehnte Hungersnot die Sicherheit der Zahlen, mit denen das Budget des Staates prangt, einigermaßen gefährdet, auch wenn man sie an sich ohne Bedenken annehmen will. Befände sich die Volkswirtschaft in gesunder Verfassung, so ginge vielleicht die gesamte Ernte Rußlands drauf, um jedem fo viel Brot und Viehfutter zukommen zu lassen, als Mensch und Vieh bis zur nächsten Ernte bedürfen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/160>, abgerufen am 23.07.2024.