Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.Politik und Finanzen in Rußland Staatsschuld 288 Millionen, heute sind nach den Konversionen, wie das Budget So stark die Stellung des Herrn Witte ist, so leitet er doch nicht unmittelbar Politik und Finanzen in Rußland Staatsschuld 288 Millionen, heute sind nach den Konversionen, wie das Budget So stark die Stellung des Herrn Witte ist, so leitet er doch nicht unmittelbar <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0157" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229843"/> <fw type="header" place="top"> Politik und Finanzen in Rußland</fw><lb/> <p xml:id="ID_611" prev="#ID_610"> Staatsschuld 288 Millionen, heute sind nach den Konversionen, wie das Budget<lb/> angiebt, 272 Millionen Rubel zu zahlen, oder wenn man privaten russischen<lb/> Fachleuten Glauben schenken will, sogar mehr als vor den Konverstonen. Aber<lb/> dafür sind große Eisenbahnen verstaatlicht worden; bedeutende Mehrerträge<lb/> liefern die Zölle, die Gewerbesteuern, die Post, das Nafta, der Zucker, die<lb/> Getränke, besonders seit der Einführung des staatlichen Verkaufs des Brannt¬<lb/> weins (346 Millionen für 1898 veranschlagt). Es sind stolze Summen, mit<lb/> denen Herr Witte operieren kann, und sie haben ihn ermutigt nicht nur zur<lb/> Anhäufung französischen Goldes, sondern auch zur Proklamierung der Gold¬<lb/> währung, zur Unterstützung der Industrie mit großen Darlehen, zum Bau<lb/> gewaltiger Bahnlinien, zur Vermehrung der Kriegsmacht, besonders der Flotte.</p><lb/> <p xml:id="ID_612" next="#ID_613"> So stark die Stellung des Herrn Witte ist, so leitet er doch nicht unmittelbar<lb/> die äußere Politik und mag oftmals nur sehr widerstrebend die Summen anweisen,<lb/> die für die Zwecke dieser Politik von ihm gefordert werden. Andrerseits ist<lb/> bekanntlich eine erfolgreiche Politik nach außen hin sehr geeignet, die Thätigkeit<lb/> des Finanzministers zu erleichtern. Und es ist augenfällig, daß die äußere<lb/> Politik Rußlands seit zwanzig Jahren so erfolgreich, so glänzend ist, wie sie<lb/> nur in der besten Zeit des Zaren Nikolaus war. Die geographische Lage des<lb/> Riesenreichs, die verhältnismäßig kleinlichen Zänkereien der europäischen Staaten<lb/> unter einander, die bureaukratisch-despotische Verfassung, alles das drängt fast<lb/> unwillkürlich diesen Staat zu einer Politik äußern Glanzes, in der sich diese<lb/> Vorzüge gegen andre Länder verwerten lassen und zugleich innere Übel dem<lb/> Bewußtsein des Volkes mehr oder minder entzogen werden. Seit Jahrhunderten<lb/> ist das stetige Erobern neuer Gebiete in Rußland traditionell geworden; seit<lb/> Jahrhunderten hat sich das Volk in diesen Kämpfen ein starkes nationales Be¬<lb/> wußtsein geschaffen, wie es wenige andre Völker, am wenigsten leider das<lb/> deutsche, haben. Kein andres Volk Europas, vielleicht die Türken ausgenommen,<lb/> ist im Dulden so geübt wie das russische; aber wenn es auch die ärgste Not erträgt<lb/> sür den Glanz des Zaren und den Ruhm des Reichs, wenn die russische Schild¬<lb/> wache auch auf dem Schipka ruhig erfriert für Zar und Volk, so wäre die Ruhe<lb/> im Innern doch bald in Gefahr, sobald die äußere Politik von schweren Schlägen<lb/> getroffen würde. Wenn heute ein äußerer Krieg, etwa mit England, ausbräche,<lb/> so dürfte die Regierung getrost auf die größte Opferwilligkeit der Unterthanen<lb/> zählen, auch wenn Hunderttausende dabei dem Hunger erlägen; ein Zurück¬<lb/> weichen vor England oder starke Niederlagen im Kampfe konnten leicht ver¬<lb/> hängnisvoll für den Thron werden. In diesem Sinne darf man auch die<lb/> Politik eine äußere nennen, die von der russischen Regierung gegenüber ihren<lb/> eignen Unterthanen fremden Stammes oder Glaubens feit fünfunddreißig Jahren<lb/> angewandt wird. Polen, Livland, Finnland haben den Boden liefern müssen<lb/> für eine Politik des nationalen Kampfes nach außen, der so gut wie blutige<lb/> Kriege das nationale Bewußtsein beschäftigt, befriedigt und ihm ohne Mühe</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0157]
Politik und Finanzen in Rußland
Staatsschuld 288 Millionen, heute sind nach den Konversionen, wie das Budget
angiebt, 272 Millionen Rubel zu zahlen, oder wenn man privaten russischen
Fachleuten Glauben schenken will, sogar mehr als vor den Konverstonen. Aber
dafür sind große Eisenbahnen verstaatlicht worden; bedeutende Mehrerträge
liefern die Zölle, die Gewerbesteuern, die Post, das Nafta, der Zucker, die
Getränke, besonders seit der Einführung des staatlichen Verkaufs des Brannt¬
weins (346 Millionen für 1898 veranschlagt). Es sind stolze Summen, mit
denen Herr Witte operieren kann, und sie haben ihn ermutigt nicht nur zur
Anhäufung französischen Goldes, sondern auch zur Proklamierung der Gold¬
währung, zur Unterstützung der Industrie mit großen Darlehen, zum Bau
gewaltiger Bahnlinien, zur Vermehrung der Kriegsmacht, besonders der Flotte.
So stark die Stellung des Herrn Witte ist, so leitet er doch nicht unmittelbar
die äußere Politik und mag oftmals nur sehr widerstrebend die Summen anweisen,
die für die Zwecke dieser Politik von ihm gefordert werden. Andrerseits ist
bekanntlich eine erfolgreiche Politik nach außen hin sehr geeignet, die Thätigkeit
des Finanzministers zu erleichtern. Und es ist augenfällig, daß die äußere
Politik Rußlands seit zwanzig Jahren so erfolgreich, so glänzend ist, wie sie
nur in der besten Zeit des Zaren Nikolaus war. Die geographische Lage des
Riesenreichs, die verhältnismäßig kleinlichen Zänkereien der europäischen Staaten
unter einander, die bureaukratisch-despotische Verfassung, alles das drängt fast
unwillkürlich diesen Staat zu einer Politik äußern Glanzes, in der sich diese
Vorzüge gegen andre Länder verwerten lassen und zugleich innere Übel dem
Bewußtsein des Volkes mehr oder minder entzogen werden. Seit Jahrhunderten
ist das stetige Erobern neuer Gebiete in Rußland traditionell geworden; seit
Jahrhunderten hat sich das Volk in diesen Kämpfen ein starkes nationales Be¬
wußtsein geschaffen, wie es wenige andre Völker, am wenigsten leider das
deutsche, haben. Kein andres Volk Europas, vielleicht die Türken ausgenommen,
ist im Dulden so geübt wie das russische; aber wenn es auch die ärgste Not erträgt
sür den Glanz des Zaren und den Ruhm des Reichs, wenn die russische Schild¬
wache auch auf dem Schipka ruhig erfriert für Zar und Volk, so wäre die Ruhe
im Innern doch bald in Gefahr, sobald die äußere Politik von schweren Schlägen
getroffen würde. Wenn heute ein äußerer Krieg, etwa mit England, ausbräche,
so dürfte die Regierung getrost auf die größte Opferwilligkeit der Unterthanen
zählen, auch wenn Hunderttausende dabei dem Hunger erlägen; ein Zurück¬
weichen vor England oder starke Niederlagen im Kampfe konnten leicht ver¬
hängnisvoll für den Thron werden. In diesem Sinne darf man auch die
Politik eine äußere nennen, die von der russischen Regierung gegenüber ihren
eignen Unterthanen fremden Stammes oder Glaubens feit fünfunddreißig Jahren
angewandt wird. Polen, Livland, Finnland haben den Boden liefern müssen
für eine Politik des nationalen Kampfes nach außen, der so gut wie blutige
Kriege das nationale Bewußtsein beschäftigt, befriedigt und ihm ohne Mühe
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |