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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Politik und Finanzen in Rußland

um Neujahr oder Ostern, wie er es gewohnt ist, zu hungern oder zu betteln
oder zu tagelöhnern, schon im November sein Strohdach an die Kuh zu ver¬
füttern, dann die Kuh zu verkaufen, endlich das letzte Pferd und geht um
Weihnachten "Krumen sammeln," besten Falls auf Arbeit in eine entfernte
Stadt, und im Frühling ist der Hunger da, und die Kinder und Weiber sterben,
und kommt der Mann zurück, so sieht es mit der Wirtschaft für das neue
Jahr schlimm aus: weder Pferd, noch Pflug, noch Brot -- da muß erst außer¬
halb etwas erarbeitet werden, um neu die alte ausgesogne Scholle zu quälen.
Und da ist auch wieder die Obrigkeit, die ihn im vorigen Herbst nötigte, die Kuh
zu verkaufen und jetzt wieder Steuern fordert! Besser man überläßt die Scholle
der Gemeinde und geht fort, vielleicht nach Sibirien, wo viel frisches Land
von der Obrigkeit vergeben wird und Holz und Gerät und Geld obendrein --
wie der Soldat Stepan in Twer erzählte. Und er geht und geht, bettelnd,
und kommt endlich vielleicht in besseres Land -- weiß Gott wo!

Inzwischen haben die Großbesitzer im Gubernium Charkow eine reiche
Ernte gemacht; und es war die höchste Zeit, denn das schöne Gut des Herrn
Stepnikow war seit Jahren auf der Liste zur Versteigerung wegen rückständiger
Bankzinsen, und andre Schulden drückten außerdem, sodaß in aller Eile ge¬
droschen, verkauft, nach Odessa verfrachtet werden mußte, bis die Ernte fort
war nach England und die Scheunen so leer, daß im nächsten April der Jude
Vorschüsse in Saaten wird geben müssen. So mehrten sich von vielen Seiten
die Zufuhren, und Odessa konnte im Herbst 1898 wöchentlich etwa 700000
Zentner Getreide verschiffen, während Millionen von Menschen weiter im
Nordosten des Reichs zu hungern anfingen. Und Herr Witte wird genötigt
sein, wieder aus dem Staatssäckel dem Hunger zu wehren, und vielleicht wird
es nicht viel weniger als der 154 Millionen Rubel, die 1891 dafür aus¬
gegeben wurden, bedürfen, um die Not von 1898 zu lindern.

Raubbau, bäuerliche Dorfverfassung, Armut der Bauern, Armut des ver¬
schuldeten Großbesitzers -- das sind keine festen Grundlagen für die Land¬
wirtschaft, auch wenn sie sich bei einem Volke vorfänden, das dem Landbau
mehr zugethan wäre als das russische. Dieser unsicher begründete Landbau
aber ist die Grundlage für die Industrie sowohl als für die Handelsbilanz;
und da die Zahlfähigkeit des Staates wieder von dieser Handelsbilanz ab¬
hängt, müßte, so scheint es, die Hauptsorge des Staates darauf gerichtet
sein, jene unterste Grundlage zu festigen. Bisher hat man von ernsten An¬
strengungen in dieser Richtung nicht gehört; aber der Finanzminister scheint
zu meinen, daß es solcher Anstrengungen auch gar nicht bedürfe, oder daß
andre Bedürfnisse wichtiger seien.

Das Neichsbudget schwebt für 1898 mit 1474 Millionen Rubeln, für
1897 mit 1414 Millionen; es betrug zehn Jahre früher, im Jahre 1887 nur
881 Millionen Rubel. Allerdings waren im Jahre 1888 an Zinsen für die


Politik und Finanzen in Rußland

um Neujahr oder Ostern, wie er es gewohnt ist, zu hungern oder zu betteln
oder zu tagelöhnern, schon im November sein Strohdach an die Kuh zu ver¬
füttern, dann die Kuh zu verkaufen, endlich das letzte Pferd und geht um
Weihnachten „Krumen sammeln," besten Falls auf Arbeit in eine entfernte
Stadt, und im Frühling ist der Hunger da, und die Kinder und Weiber sterben,
und kommt der Mann zurück, so sieht es mit der Wirtschaft für das neue
Jahr schlimm aus: weder Pferd, noch Pflug, noch Brot — da muß erst außer¬
halb etwas erarbeitet werden, um neu die alte ausgesogne Scholle zu quälen.
Und da ist auch wieder die Obrigkeit, die ihn im vorigen Herbst nötigte, die Kuh
zu verkaufen und jetzt wieder Steuern fordert! Besser man überläßt die Scholle
der Gemeinde und geht fort, vielleicht nach Sibirien, wo viel frisches Land
von der Obrigkeit vergeben wird und Holz und Gerät und Geld obendrein —
wie der Soldat Stepan in Twer erzählte. Und er geht und geht, bettelnd,
und kommt endlich vielleicht in besseres Land — weiß Gott wo!

Inzwischen haben die Großbesitzer im Gubernium Charkow eine reiche
Ernte gemacht; und es war die höchste Zeit, denn das schöne Gut des Herrn
Stepnikow war seit Jahren auf der Liste zur Versteigerung wegen rückständiger
Bankzinsen, und andre Schulden drückten außerdem, sodaß in aller Eile ge¬
droschen, verkauft, nach Odessa verfrachtet werden mußte, bis die Ernte fort
war nach England und die Scheunen so leer, daß im nächsten April der Jude
Vorschüsse in Saaten wird geben müssen. So mehrten sich von vielen Seiten
die Zufuhren, und Odessa konnte im Herbst 1898 wöchentlich etwa 700000
Zentner Getreide verschiffen, während Millionen von Menschen weiter im
Nordosten des Reichs zu hungern anfingen. Und Herr Witte wird genötigt
sein, wieder aus dem Staatssäckel dem Hunger zu wehren, und vielleicht wird
es nicht viel weniger als der 154 Millionen Rubel, die 1891 dafür aus¬
gegeben wurden, bedürfen, um die Not von 1898 zu lindern.

Raubbau, bäuerliche Dorfverfassung, Armut der Bauern, Armut des ver¬
schuldeten Großbesitzers — das sind keine festen Grundlagen für die Land¬
wirtschaft, auch wenn sie sich bei einem Volke vorfänden, das dem Landbau
mehr zugethan wäre als das russische. Dieser unsicher begründete Landbau
aber ist die Grundlage für die Industrie sowohl als für die Handelsbilanz;
und da die Zahlfähigkeit des Staates wieder von dieser Handelsbilanz ab¬
hängt, müßte, so scheint es, die Hauptsorge des Staates darauf gerichtet
sein, jene unterste Grundlage zu festigen. Bisher hat man von ernsten An¬
strengungen in dieser Richtung nicht gehört; aber der Finanzminister scheint
zu meinen, daß es solcher Anstrengungen auch gar nicht bedürfe, oder daß
andre Bedürfnisse wichtiger seien.

Das Neichsbudget schwebt für 1898 mit 1474 Millionen Rubeln, für
1897 mit 1414 Millionen; es betrug zehn Jahre früher, im Jahre 1887 nur
881 Millionen Rubel. Allerdings waren im Jahre 1888 an Zinsen für die


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[0156] Politik und Finanzen in Rußland um Neujahr oder Ostern, wie er es gewohnt ist, zu hungern oder zu betteln oder zu tagelöhnern, schon im November sein Strohdach an die Kuh zu ver¬ füttern, dann die Kuh zu verkaufen, endlich das letzte Pferd und geht um Weihnachten „Krumen sammeln," besten Falls auf Arbeit in eine entfernte Stadt, und im Frühling ist der Hunger da, und die Kinder und Weiber sterben, und kommt der Mann zurück, so sieht es mit der Wirtschaft für das neue Jahr schlimm aus: weder Pferd, noch Pflug, noch Brot — da muß erst außer¬ halb etwas erarbeitet werden, um neu die alte ausgesogne Scholle zu quälen. Und da ist auch wieder die Obrigkeit, die ihn im vorigen Herbst nötigte, die Kuh zu verkaufen und jetzt wieder Steuern fordert! Besser man überläßt die Scholle der Gemeinde und geht fort, vielleicht nach Sibirien, wo viel frisches Land von der Obrigkeit vergeben wird und Holz und Gerät und Geld obendrein — wie der Soldat Stepan in Twer erzählte. Und er geht und geht, bettelnd, und kommt endlich vielleicht in besseres Land — weiß Gott wo! Inzwischen haben die Großbesitzer im Gubernium Charkow eine reiche Ernte gemacht; und es war die höchste Zeit, denn das schöne Gut des Herrn Stepnikow war seit Jahren auf der Liste zur Versteigerung wegen rückständiger Bankzinsen, und andre Schulden drückten außerdem, sodaß in aller Eile ge¬ droschen, verkauft, nach Odessa verfrachtet werden mußte, bis die Ernte fort war nach England und die Scheunen so leer, daß im nächsten April der Jude Vorschüsse in Saaten wird geben müssen. So mehrten sich von vielen Seiten die Zufuhren, und Odessa konnte im Herbst 1898 wöchentlich etwa 700000 Zentner Getreide verschiffen, während Millionen von Menschen weiter im Nordosten des Reichs zu hungern anfingen. Und Herr Witte wird genötigt sein, wieder aus dem Staatssäckel dem Hunger zu wehren, und vielleicht wird es nicht viel weniger als der 154 Millionen Rubel, die 1891 dafür aus¬ gegeben wurden, bedürfen, um die Not von 1898 zu lindern. Raubbau, bäuerliche Dorfverfassung, Armut der Bauern, Armut des ver¬ schuldeten Großbesitzers — das sind keine festen Grundlagen für die Land¬ wirtschaft, auch wenn sie sich bei einem Volke vorfänden, das dem Landbau mehr zugethan wäre als das russische. Dieser unsicher begründete Landbau aber ist die Grundlage für die Industrie sowohl als für die Handelsbilanz; und da die Zahlfähigkeit des Staates wieder von dieser Handelsbilanz ab¬ hängt, müßte, so scheint es, die Hauptsorge des Staates darauf gerichtet sein, jene unterste Grundlage zu festigen. Bisher hat man von ernsten An¬ strengungen in dieser Richtung nicht gehört; aber der Finanzminister scheint zu meinen, daß es solcher Anstrengungen auch gar nicht bedürfe, oder daß andre Bedürfnisse wichtiger seien. Das Neichsbudget schwebt für 1898 mit 1474 Millionen Rubeln, für 1897 mit 1414 Millionen; es betrug zehn Jahre früher, im Jahre 1887 nur 881 Millionen Rubel. Allerdings waren im Jahre 1888 an Zinsen für die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/156>, abgerufen am 23.07.2024.