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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Sonach hat die mangelhafte Ernte von 1897 und die doch in der Hauptsache
schon im ersten Halbjahr vorauszusehende Mißernte von 1898 nicht verhindert,
daß der Wert des gesamten russischen Exports von Lebensmitteln, in denen
das Getreide den weitaus überragenden Posten einnimmt, in den ersten sieben
Monaten des letzten Jahres gegen 1897 um 20 Prozent, gegen 1896 um
19^/z Prozent gestiegen ist. Und wenn die Getreideausfuhr seit dem 1. August
auch gegen die vorhergehenden Jahre zurückgegangen ist, so ist das doch in
einem Maße geschehen, das eine so ernste Hungersnot, wie sie vor der Thür
zu stehen scheint, kaum erkennen läßt. Denn die Ausfuhr betrug nach offiziellen
Mitteilungen für die 4^ Monate vom 1. Juli bis 14. November (alten Stils)

für 1896: 184 Millionen Rubel
" 1897: 194,3 "
" 1898: 145,9

also einen Verlust gegen die beiden Borjahre von 33 oder 26 Prozent. Immerhin
sind von der letzten Ernte bis Ende November unsers Stils schon Getreide¬
massen im Werte von 146 Millionen Rubeln ins Ausland gegangen und werden
noch weitere Mengen im Laufe des Winters folgen, was scheinbar im Wider¬
spruche steht zu der offiziell statistische" Angabe, daß der russische Acker nur
wenig über vier Korn in mittlern Jahren trage. Man fragt sich: Wie viel
trägt er denn bei Mißwachs? Etwa drei oder zwei Korn? Und da sich der
Landmann davon doch auch unsrer muß, so erscheint es erstaunlich, daß er
überhaupt etwas verkaufen kann. Wenn nnn die statistische Angabe richtig ist,
so muß man sich erinnern, einmal, daß die Masse der russischen Bauern eben
nicht oder doch nur wenig verkauft, vielmehr meist selbst kauft, und daß es
sich nur darum handelt, ob ein oder anderthalb oder zwei Korn, die an den
durchschnittlichen vier Korn fehlen, durch Kauf zu ersetzen sind; dann aber, daß
die Ernte nicht allenthalben gleich ausfällt, sondern daß es in den ungeheuern
Ackerebnen Rußlands immer Striche giebt, wo die Ernte gut ausfüllt. So
erfuhr man auch im Mittsommer dieses Jahres von Weizenernten im südlichen
Rußland, wie sie in Deutschland nie und nirgends gemacht werden. Endlich
fällt ins Gewicht, daß, wenn der Großgrundbesitzer auch nur sechs Korn erntet,
er dank dem billigen Raubbau leicht drei Scheffel vom Morgen verkaufen kann.
Das bringt auf den großen unter Korn stehenden Flächen große Mengen, die
verkauft werden können.

Wenn nun ein größerer Teil des Landes von einer Mißernte getroffen
ist, so wäre bei gesunden Zustünden der Volkswirtschaft die Folge, daß das
Volk seinen Bedarf ans den Überschüssen der Provinzen mit guter Ernte deckt.
In Rußland jedoch steht es so, daß das aus Mangel an Geld unterbleibt.
Der Bauer in den Gubernien der Mißernte, z.B. Saratow, hat kein Geld,
um Brvtlorn aus Charkow zu kaufen, wo Überfluß ist; er beginnt, statt erst


Sonach hat die mangelhafte Ernte von 1897 und die doch in der Hauptsache
schon im ersten Halbjahr vorauszusehende Mißernte von 1898 nicht verhindert,
daß der Wert des gesamten russischen Exports von Lebensmitteln, in denen
das Getreide den weitaus überragenden Posten einnimmt, in den ersten sieben
Monaten des letzten Jahres gegen 1897 um 20 Prozent, gegen 1896 um
19^/z Prozent gestiegen ist. Und wenn die Getreideausfuhr seit dem 1. August
auch gegen die vorhergehenden Jahre zurückgegangen ist, so ist das doch in
einem Maße geschehen, das eine so ernste Hungersnot, wie sie vor der Thür
zu stehen scheint, kaum erkennen läßt. Denn die Ausfuhr betrug nach offiziellen
Mitteilungen für die 4^ Monate vom 1. Juli bis 14. November (alten Stils)

für 1896: 184 Millionen Rubel
„ 1897: 194,3 „
„ 1898: 145,9

also einen Verlust gegen die beiden Borjahre von 33 oder 26 Prozent. Immerhin
sind von der letzten Ernte bis Ende November unsers Stils schon Getreide¬
massen im Werte von 146 Millionen Rubeln ins Ausland gegangen und werden
noch weitere Mengen im Laufe des Winters folgen, was scheinbar im Wider¬
spruche steht zu der offiziell statistische» Angabe, daß der russische Acker nur
wenig über vier Korn in mittlern Jahren trage. Man fragt sich: Wie viel
trägt er denn bei Mißwachs? Etwa drei oder zwei Korn? Und da sich der
Landmann davon doch auch unsrer muß, so erscheint es erstaunlich, daß er
überhaupt etwas verkaufen kann. Wenn nnn die statistische Angabe richtig ist,
so muß man sich erinnern, einmal, daß die Masse der russischen Bauern eben
nicht oder doch nur wenig verkauft, vielmehr meist selbst kauft, und daß es
sich nur darum handelt, ob ein oder anderthalb oder zwei Korn, die an den
durchschnittlichen vier Korn fehlen, durch Kauf zu ersetzen sind; dann aber, daß
die Ernte nicht allenthalben gleich ausfällt, sondern daß es in den ungeheuern
Ackerebnen Rußlands immer Striche giebt, wo die Ernte gut ausfüllt. So
erfuhr man auch im Mittsommer dieses Jahres von Weizenernten im südlichen
Rußland, wie sie in Deutschland nie und nirgends gemacht werden. Endlich
fällt ins Gewicht, daß, wenn der Großgrundbesitzer auch nur sechs Korn erntet,
er dank dem billigen Raubbau leicht drei Scheffel vom Morgen verkaufen kann.
Das bringt auf den großen unter Korn stehenden Flächen große Mengen, die
verkauft werden können.

Wenn nun ein größerer Teil des Landes von einer Mißernte getroffen
ist, so wäre bei gesunden Zustünden der Volkswirtschaft die Folge, daß das
Volk seinen Bedarf ans den Überschüssen der Provinzen mit guter Ernte deckt.
In Rußland jedoch steht es so, daß das aus Mangel an Geld unterbleibt.
Der Bauer in den Gubernien der Mißernte, z.B. Saratow, hat kein Geld,
um Brvtlorn aus Charkow zu kaufen, wo Überfluß ist; er beginnt, statt erst


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[0155] Sonach hat die mangelhafte Ernte von 1897 und die doch in der Hauptsache schon im ersten Halbjahr vorauszusehende Mißernte von 1898 nicht verhindert, daß der Wert des gesamten russischen Exports von Lebensmitteln, in denen das Getreide den weitaus überragenden Posten einnimmt, in den ersten sieben Monaten des letzten Jahres gegen 1897 um 20 Prozent, gegen 1896 um 19^/z Prozent gestiegen ist. Und wenn die Getreideausfuhr seit dem 1. August auch gegen die vorhergehenden Jahre zurückgegangen ist, so ist das doch in einem Maße geschehen, das eine so ernste Hungersnot, wie sie vor der Thür zu stehen scheint, kaum erkennen läßt. Denn die Ausfuhr betrug nach offiziellen Mitteilungen für die 4^ Monate vom 1. Juli bis 14. November (alten Stils) für 1896: 184 Millionen Rubel „ 1897: 194,3 „ „ 1898: 145,9 also einen Verlust gegen die beiden Borjahre von 33 oder 26 Prozent. Immerhin sind von der letzten Ernte bis Ende November unsers Stils schon Getreide¬ massen im Werte von 146 Millionen Rubeln ins Ausland gegangen und werden noch weitere Mengen im Laufe des Winters folgen, was scheinbar im Wider¬ spruche steht zu der offiziell statistische» Angabe, daß der russische Acker nur wenig über vier Korn in mittlern Jahren trage. Man fragt sich: Wie viel trägt er denn bei Mißwachs? Etwa drei oder zwei Korn? Und da sich der Landmann davon doch auch unsrer muß, so erscheint es erstaunlich, daß er überhaupt etwas verkaufen kann. Wenn nnn die statistische Angabe richtig ist, so muß man sich erinnern, einmal, daß die Masse der russischen Bauern eben nicht oder doch nur wenig verkauft, vielmehr meist selbst kauft, und daß es sich nur darum handelt, ob ein oder anderthalb oder zwei Korn, die an den durchschnittlichen vier Korn fehlen, durch Kauf zu ersetzen sind; dann aber, daß die Ernte nicht allenthalben gleich ausfällt, sondern daß es in den ungeheuern Ackerebnen Rußlands immer Striche giebt, wo die Ernte gut ausfüllt. So erfuhr man auch im Mittsommer dieses Jahres von Weizenernten im südlichen Rußland, wie sie in Deutschland nie und nirgends gemacht werden. Endlich fällt ins Gewicht, daß, wenn der Großgrundbesitzer auch nur sechs Korn erntet, er dank dem billigen Raubbau leicht drei Scheffel vom Morgen verkaufen kann. Das bringt auf den großen unter Korn stehenden Flächen große Mengen, die verkauft werden können. Wenn nun ein größerer Teil des Landes von einer Mißernte getroffen ist, so wäre bei gesunden Zustünden der Volkswirtschaft die Folge, daß das Volk seinen Bedarf ans den Überschüssen der Provinzen mit guter Ernte deckt. In Rußland jedoch steht es so, daß das aus Mangel an Geld unterbleibt. Der Bauer in den Gubernien der Mißernte, z.B. Saratow, hat kein Geld, um Brvtlorn aus Charkow zu kaufen, wo Überfluß ist; er beginnt, statt erst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/155>, abgerufen am 23.07.2024.