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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Gerhart Hauptmann und sein Biograph

Müdigkeit ein. Aber sie ist mondsüchtig und wandelt durch die Nacht. Sie
klettert dem Mond entgegen zum Fichtenwipfel empor, sie will weitersteigen,
tritt in leere Luft, und --

In diesen äußerlichen Vorgang hat der Dichter nun die Phantasien des Kindes
verwoben, das in seiner Sehnsucht den Himmel sucht, wo der Himmelsbräutigam,
Vater und Mutter in verklärter Gestalt seiner warten.

Es ist ohne weiteres klar, daß diese beiden Motive eine epische Behandlung
sehr gut vertragen. Aber auch eine dramatische? Das Drama ist doch nun
einmal dazu da, Handlungen -- mag man den Begriff so weit oder so eng
fassen, wie man will --, also zusammenhängende Begebenheiten vor unsre leib¬
lichen Augen als gegenwärtig sich abspielend zu stellen. Sind Fieberphantasien
solche Handlungen? Ja wohl, für sich selbst kann auch einmal ein Traum als
ein Leben, als Wirklichkeit dargestellt werden. Dann erfahre ich ebeu vorher
oder nachher: alles war nur ein Traum. Aber gleichzeitig die nackte Realität,
ein sterbendes Kind im Armenhause, und zwischendurch gleichzeitig, im Raume
ueben einander, die Ausgeburten seiner erregten Phantasie vorzuführen, das ist
eine Unmöglichkeit.

Schlenther hebt das Stück natürlich zu den Sternen, obwohl er den Wider¬
sinn eigentlich zugeben und wenigstens sür eine Stelle einräumen muß, daß
das Wesentliche mißlungen ist. "Diese Traumgestalten -- sagt er -- sind nicht
nur vereinzelt da, sondern sie treten auch unter einander in Aktion. Engel
tragen einen Sarg und legen das tote Hannele selbst hinein. Einige dieser
Traumgestalten sind uns vorher als lebendige Menschen bekannt geworden. Der
Waldarbeiter Seidel, der das Kind aus dem Wasser zog, die halb vertierten,
aber zum Teil doch gutmütigen Armenhäusler, die Diakonissin, die vom fiebernden
Hannele mit ihrer toten Mutter verwechselt wird, der Lehrer, den sie für den
Erlöser hält -- sie alle haben wir leibhaftig vorher gesehen und sehen sie dann
in Hammelef Träumen wieder. Wir nahmen sie zuerst mit unsern eignen klaren
Sinnen wahr und müssen sie dann mit dem verwirrten Sinn eines andern
Wesens wahrnehmen." Müssen wir wirklich? Ja, wer nötigt uns dazu?
Unsre Sinne sind doch gesund, sind nicht fieberhaft erregt. Wer leitet uns
dazu an, die Personen bald als wirkliche, bald als Wahngestalten aufzufassen?
An einer Stelle ist es denn auch Schlenther zu viel geworden. "Freilich
-- sagt er -- mußte gerade Schwester Martha auch Ursache zu der einzigen
technischen Schwierigkeit werden, welcher die sonst so sichre Hand des Dichters
nicht ganz Herr geworden ist. Denn kaum hat das leibhaftige, das halbwache


Gerhart Hauptmann und sein Biograph

Müdigkeit ein. Aber sie ist mondsüchtig und wandelt durch die Nacht. Sie
klettert dem Mond entgegen zum Fichtenwipfel empor, sie will weitersteigen,
tritt in leere Luft, und —

In diesen äußerlichen Vorgang hat der Dichter nun die Phantasien des Kindes
verwoben, das in seiner Sehnsucht den Himmel sucht, wo der Himmelsbräutigam,
Vater und Mutter in verklärter Gestalt seiner warten.

Es ist ohne weiteres klar, daß diese beiden Motive eine epische Behandlung
sehr gut vertragen. Aber auch eine dramatische? Das Drama ist doch nun
einmal dazu da, Handlungen — mag man den Begriff so weit oder so eng
fassen, wie man will —, also zusammenhängende Begebenheiten vor unsre leib¬
lichen Augen als gegenwärtig sich abspielend zu stellen. Sind Fieberphantasien
solche Handlungen? Ja wohl, für sich selbst kann auch einmal ein Traum als
ein Leben, als Wirklichkeit dargestellt werden. Dann erfahre ich ebeu vorher
oder nachher: alles war nur ein Traum. Aber gleichzeitig die nackte Realität,
ein sterbendes Kind im Armenhause, und zwischendurch gleichzeitig, im Raume
ueben einander, die Ausgeburten seiner erregten Phantasie vorzuführen, das ist
eine Unmöglichkeit.

Schlenther hebt das Stück natürlich zu den Sternen, obwohl er den Wider¬
sinn eigentlich zugeben und wenigstens sür eine Stelle einräumen muß, daß
das Wesentliche mißlungen ist. „Diese Traumgestalten — sagt er — sind nicht
nur vereinzelt da, sondern sie treten auch unter einander in Aktion. Engel
tragen einen Sarg und legen das tote Hannele selbst hinein. Einige dieser
Traumgestalten sind uns vorher als lebendige Menschen bekannt geworden. Der
Waldarbeiter Seidel, der das Kind aus dem Wasser zog, die halb vertierten,
aber zum Teil doch gutmütigen Armenhäusler, die Diakonissin, die vom fiebernden
Hannele mit ihrer toten Mutter verwechselt wird, der Lehrer, den sie für den
Erlöser hält — sie alle haben wir leibhaftig vorher gesehen und sehen sie dann
in Hammelef Träumen wieder. Wir nahmen sie zuerst mit unsern eignen klaren
Sinnen wahr und müssen sie dann mit dem verwirrten Sinn eines andern
Wesens wahrnehmen." Müssen wir wirklich? Ja, wer nötigt uns dazu?
Unsre Sinne sind doch gesund, sind nicht fieberhaft erregt. Wer leitet uns
dazu an, die Personen bald als wirkliche, bald als Wahngestalten aufzufassen?
An einer Stelle ist es denn auch Schlenther zu viel geworden. „Freilich
— sagt er — mußte gerade Schwester Martha auch Ursache zu der einzigen
technischen Schwierigkeit werden, welcher die sonst so sichre Hand des Dichters
nicht ganz Herr geworden ist. Denn kaum hat das leibhaftige, das halbwache


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[0104] Gerhart Hauptmann und sein Biograph Müdigkeit ein. Aber sie ist mondsüchtig und wandelt durch die Nacht. Sie klettert dem Mond entgegen zum Fichtenwipfel empor, sie will weitersteigen, tritt in leere Luft, und — In diesen äußerlichen Vorgang hat der Dichter nun die Phantasien des Kindes verwoben, das in seiner Sehnsucht den Himmel sucht, wo der Himmelsbräutigam, Vater und Mutter in verklärter Gestalt seiner warten. Es ist ohne weiteres klar, daß diese beiden Motive eine epische Behandlung sehr gut vertragen. Aber auch eine dramatische? Das Drama ist doch nun einmal dazu da, Handlungen — mag man den Begriff so weit oder so eng fassen, wie man will —, also zusammenhängende Begebenheiten vor unsre leib¬ lichen Augen als gegenwärtig sich abspielend zu stellen. Sind Fieberphantasien solche Handlungen? Ja wohl, für sich selbst kann auch einmal ein Traum als ein Leben, als Wirklichkeit dargestellt werden. Dann erfahre ich ebeu vorher oder nachher: alles war nur ein Traum. Aber gleichzeitig die nackte Realität, ein sterbendes Kind im Armenhause, und zwischendurch gleichzeitig, im Raume ueben einander, die Ausgeburten seiner erregten Phantasie vorzuführen, das ist eine Unmöglichkeit. Schlenther hebt das Stück natürlich zu den Sternen, obwohl er den Wider¬ sinn eigentlich zugeben und wenigstens sür eine Stelle einräumen muß, daß das Wesentliche mißlungen ist. „Diese Traumgestalten — sagt er — sind nicht nur vereinzelt da, sondern sie treten auch unter einander in Aktion. Engel tragen einen Sarg und legen das tote Hannele selbst hinein. Einige dieser Traumgestalten sind uns vorher als lebendige Menschen bekannt geworden. Der Waldarbeiter Seidel, der das Kind aus dem Wasser zog, die halb vertierten, aber zum Teil doch gutmütigen Armenhäusler, die Diakonissin, die vom fiebernden Hannele mit ihrer toten Mutter verwechselt wird, der Lehrer, den sie für den Erlöser hält — sie alle haben wir leibhaftig vorher gesehen und sehen sie dann in Hammelef Träumen wieder. Wir nahmen sie zuerst mit unsern eignen klaren Sinnen wahr und müssen sie dann mit dem verwirrten Sinn eines andern Wesens wahrnehmen." Müssen wir wirklich? Ja, wer nötigt uns dazu? Unsre Sinne sind doch gesund, sind nicht fieberhaft erregt. Wer leitet uns dazu an, die Personen bald als wirkliche, bald als Wahngestalten aufzufassen? An einer Stelle ist es denn auch Schlenther zu viel geworden. „Freilich — sagt er — mußte gerade Schwester Martha auch Ursache zu der einzigen technischen Schwierigkeit werden, welcher die sonst so sichre Hand des Dichters nicht ganz Herr geworden ist. Denn kaum hat das leibhaftige, das halbwache

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/104>, abgerufen am 23.07.2024.