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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

uns im blauen Raum verloren usw., in Wer nie sein Brot mit Thränen aß
haben wir keine Metapher, lauter empirische Dinge, herrlichste Poesie bei voll-
kommnem Realismus, eine Steigerung des Gewöhnlichen, die jedem zum Be¬
wußtsein kommt. Die "Nachahmung" ist nicht Zweck, aber wenn der Empfin¬
dungsausdruck sich nicht an etwas reales, dem andern bekanntes anschlösse,
könnte doch die Empfindung diesem nicht zum Bewußtsein kommen, und hierauf
kommt es doch für alle Poesie an, nicht allein auf das, was der Dichter
selbst empfunden hat. Weil die Menschen bisweilen etwas andres als bloße
Erfahrung wollen, so gehen die Dichter darüber hinaus in Phantasie und
schönem Schein. Es giebt eine Schönheit, wenn wir sie auch nicht definiren
können. Die Kunst soll im ganzen naturwahr sein, aber sie bleibt nicht bei
der strengen Realistik, sie stellt auch dar, was unmöglich ist und nie Gegen¬
stand der Anschauung war, aber sie soll sich der realen Mittel so bedienen,
daß das Erscheinende die Täuschung hervorbringt, als sei es wirklich. Wenn
das Verhältnis des Dichters zur Wirklichkeit so mächtig ist, so könnte man
vielleicht Schillers tiefe Einteilung der Poesie behalten: der naive Dichter stellt
die Wirklichkeit dar. der sentimentalische das Ideal, satirisch oder elegisch (idyllisch).
Aber nicht alle Dichter tragen dies "Rousseauisch gefärbte Schema" in sich,
und wenn Schiller außerdem will, daß der Dichter nicht die wirkliche, sondern
die wahre Natur darstellen soll, so paßt das am wenigsten für unsre jetzige
..Thatsachenwut." Auch in die drei großen Kategorien Lyrik. Epos. Drama
läßt sich ja nicht alle Poesie streng einordnen, aber man behält sie dennoch
bei. Vieles ist unbestimmt: die dialogische Form macht noch kein Drama, wie
man an Platos Dialogen sieht; diese exponiren Gedanken, jenes Handlungen.

Hier brechen wir zunächst diese Betrachtungen ab. Sie sollten nur
Vruchmanns Art und Weise veranschaulichen. Wer sich viel mit Poesie und
Kunst beschäftigt, empfindet immer deutlicher: mit Beweisführung und ab¬
sprechender Gesetzgebung kommt man da nicht weit, es ist schon viel, wenn
Man mit Worten ungefähr die Sache trifft. Die strengen Philosophen be¬
gnügen sich ja damit nicht, aber höchst lehrreich ist dafür das Verhalten eines
so knustverständigen und poetisch angelegten Mannes wie Bischer: der vielfach
dekretirende Ton seiner ursprünglichen Ästhetik hat sich in der jetzt nach seinem
Tode erschienenen Bearbeitung in ein abwägendes Betrachten der geschichtlich
vorliegenden Thatsachen umgesetzt. Man Wird ja im Alter klüger, und Klug¬
heit ist bescheiden.

Hören wir nun Steigers Kunstlehre für die Modernen. Am Bache sitzt
em zerlumpter Hirtenknabe. Ihm wird weh ums Herz, er weiß nicht, warum.
Da schmilzt er sich eine Flöte und bläst darauf sehnsüchtige Töne in den tau¬
schen Morgen hinaus, er macht nur eine kleine Anleihe bei der Natur und
bedient sich der Frühlingsherrlichkeit, die er mit allen fünf Sinnen in sich
aufgenommen hat, um seine Gefühle loszuwerden. Er ist der schaffende


Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

uns im blauen Raum verloren usw., in Wer nie sein Brot mit Thränen aß
haben wir keine Metapher, lauter empirische Dinge, herrlichste Poesie bei voll-
kommnem Realismus, eine Steigerung des Gewöhnlichen, die jedem zum Be¬
wußtsein kommt. Die „Nachahmung" ist nicht Zweck, aber wenn der Empfin¬
dungsausdruck sich nicht an etwas reales, dem andern bekanntes anschlösse,
könnte doch die Empfindung diesem nicht zum Bewußtsein kommen, und hierauf
kommt es doch für alle Poesie an, nicht allein auf das, was der Dichter
selbst empfunden hat. Weil die Menschen bisweilen etwas andres als bloße
Erfahrung wollen, so gehen die Dichter darüber hinaus in Phantasie und
schönem Schein. Es giebt eine Schönheit, wenn wir sie auch nicht definiren
können. Die Kunst soll im ganzen naturwahr sein, aber sie bleibt nicht bei
der strengen Realistik, sie stellt auch dar, was unmöglich ist und nie Gegen¬
stand der Anschauung war, aber sie soll sich der realen Mittel so bedienen,
daß das Erscheinende die Täuschung hervorbringt, als sei es wirklich. Wenn
das Verhältnis des Dichters zur Wirklichkeit so mächtig ist, so könnte man
vielleicht Schillers tiefe Einteilung der Poesie behalten: der naive Dichter stellt
die Wirklichkeit dar. der sentimentalische das Ideal, satirisch oder elegisch (idyllisch).
Aber nicht alle Dichter tragen dies „Rousseauisch gefärbte Schema" in sich,
und wenn Schiller außerdem will, daß der Dichter nicht die wirkliche, sondern
die wahre Natur darstellen soll, so paßt das am wenigsten für unsre jetzige
..Thatsachenwut." Auch in die drei großen Kategorien Lyrik. Epos. Drama
läßt sich ja nicht alle Poesie streng einordnen, aber man behält sie dennoch
bei. Vieles ist unbestimmt: die dialogische Form macht noch kein Drama, wie
man an Platos Dialogen sieht; diese exponiren Gedanken, jenes Handlungen.

Hier brechen wir zunächst diese Betrachtungen ab. Sie sollten nur
Vruchmanns Art und Weise veranschaulichen. Wer sich viel mit Poesie und
Kunst beschäftigt, empfindet immer deutlicher: mit Beweisführung und ab¬
sprechender Gesetzgebung kommt man da nicht weit, es ist schon viel, wenn
Man mit Worten ungefähr die Sache trifft. Die strengen Philosophen be¬
gnügen sich ja damit nicht, aber höchst lehrreich ist dafür das Verhalten eines
so knustverständigen und poetisch angelegten Mannes wie Bischer: der vielfach
dekretirende Ton seiner ursprünglichen Ästhetik hat sich in der jetzt nach seinem
Tode erschienenen Bearbeitung in ein abwägendes Betrachten der geschichtlich
vorliegenden Thatsachen umgesetzt. Man Wird ja im Alter klüger, und Klug¬
heit ist bescheiden.

Hören wir nun Steigers Kunstlehre für die Modernen. Am Bache sitzt
em zerlumpter Hirtenknabe. Ihm wird weh ums Herz, er weiß nicht, warum.
Da schmilzt er sich eine Flöte und bläst darauf sehnsüchtige Töne in den tau¬
schen Morgen hinaus, er macht nur eine kleine Anleihe bei der Natur und
bedient sich der Frühlingsherrlichkeit, die er mit allen fünf Sinnen in sich
aufgenommen hat, um seine Gefühle loszuwerden. Er ist der schaffende


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[0095] Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche uns im blauen Raum verloren usw., in Wer nie sein Brot mit Thränen aß haben wir keine Metapher, lauter empirische Dinge, herrlichste Poesie bei voll- kommnem Realismus, eine Steigerung des Gewöhnlichen, die jedem zum Be¬ wußtsein kommt. Die „Nachahmung" ist nicht Zweck, aber wenn der Empfin¬ dungsausdruck sich nicht an etwas reales, dem andern bekanntes anschlösse, könnte doch die Empfindung diesem nicht zum Bewußtsein kommen, und hierauf kommt es doch für alle Poesie an, nicht allein auf das, was der Dichter selbst empfunden hat. Weil die Menschen bisweilen etwas andres als bloße Erfahrung wollen, so gehen die Dichter darüber hinaus in Phantasie und schönem Schein. Es giebt eine Schönheit, wenn wir sie auch nicht definiren können. Die Kunst soll im ganzen naturwahr sein, aber sie bleibt nicht bei der strengen Realistik, sie stellt auch dar, was unmöglich ist und nie Gegen¬ stand der Anschauung war, aber sie soll sich der realen Mittel so bedienen, daß das Erscheinende die Täuschung hervorbringt, als sei es wirklich. Wenn das Verhältnis des Dichters zur Wirklichkeit so mächtig ist, so könnte man vielleicht Schillers tiefe Einteilung der Poesie behalten: der naive Dichter stellt die Wirklichkeit dar. der sentimentalische das Ideal, satirisch oder elegisch (idyllisch). Aber nicht alle Dichter tragen dies „Rousseauisch gefärbte Schema" in sich, und wenn Schiller außerdem will, daß der Dichter nicht die wirkliche, sondern die wahre Natur darstellen soll, so paßt das am wenigsten für unsre jetzige ..Thatsachenwut." Auch in die drei großen Kategorien Lyrik. Epos. Drama läßt sich ja nicht alle Poesie streng einordnen, aber man behält sie dennoch bei. Vieles ist unbestimmt: die dialogische Form macht noch kein Drama, wie man an Platos Dialogen sieht; diese exponiren Gedanken, jenes Handlungen. Hier brechen wir zunächst diese Betrachtungen ab. Sie sollten nur Vruchmanns Art und Weise veranschaulichen. Wer sich viel mit Poesie und Kunst beschäftigt, empfindet immer deutlicher: mit Beweisführung und ab¬ sprechender Gesetzgebung kommt man da nicht weit, es ist schon viel, wenn Man mit Worten ungefähr die Sache trifft. Die strengen Philosophen be¬ gnügen sich ja damit nicht, aber höchst lehrreich ist dafür das Verhalten eines so knustverständigen und poetisch angelegten Mannes wie Bischer: der vielfach dekretirende Ton seiner ursprünglichen Ästhetik hat sich in der jetzt nach seinem Tode erschienenen Bearbeitung in ein abwägendes Betrachten der geschichtlich vorliegenden Thatsachen umgesetzt. Man Wird ja im Alter klüger, und Klug¬ heit ist bescheiden. Hören wir nun Steigers Kunstlehre für die Modernen. Am Bache sitzt em zerlumpter Hirtenknabe. Ihm wird weh ums Herz, er weiß nicht, warum. Da schmilzt er sich eine Flöte und bläst darauf sehnsüchtige Töne in den tau¬ schen Morgen hinaus, er macht nur eine kleine Anleihe bei der Natur und bedient sich der Frühlingsherrlichkeit, die er mit allen fünf Sinnen in sich aufgenommen hat, um seine Gefühle loszuwerden. Er ist der schaffende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/95>, abgerufen am 12.12.2024.