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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

die Bühne geöffnet habe, vor allem aber der Dialektdichtung Anzengrubers, aber
das Zusammenspiel sei unter seiner Leitung zerfallen. Ob der Verfasser den
kürzlich aus Berlin berufnen Ersatzmann Burckhards für einen "bessern" halte,
deutet er nirgends an.

Eine für Österreich sehr bezeichnende Erscheinung ist ein Dramatiker, den
Sittenberger unter den Epigonen der ältern Dichtung behandelt, Franz Keim.
Nachdem er in seinen ersten Stücken Sulamith, Mephistopheles in Rom, Die
Spinnerin am Kreuz ein nicht unbedeutendes Talent, aber auch unglaubliche
Nachlässigkeiten und Geschmacksmängel gezeigt habe, sei er in neuerer Zeit mit
seinen "dentschvolklichen" Festspielen für Turner- und Burschenschafterjubiläen
zum Parteidichter hinabgesunken und unter dem Beifall einer zahlreichen jour¬
nalistischen Gefolgschaft dem "unbeholfnen und thörichten Lallen des schlimmsten
Dilettantismus" anheimgefallen. Den "nur-deutschen" Kritikern, die für ihn
Reklame macheu, entgegnet der Verfasser unsers Buches: "Es ist ja im Inter¬
esse der Öffentlichkeit sehr erfreulich, wenn sich die Herren selbst ihr Armuts¬
zeugnis ausstellen. Daß sie aber meinen, das deutsche Volk in Österreich
werde sich durch Dummheit erlösen lassen, ist eine Beleidigung, auf die man
wenigstens einmal aufmerksam machen muß." Zu Keims Lobrednern gehört
auch unser Freund Nosegger. Wir selbst erinnern uns ebenfalls, in seinem
..Heimgarten" die wunderbarsten Anerkennungsatteste über moderne Machwerke
Reichsdeutscher Dichter gefunden zu haben, die uns kaum lesenswert erschienen,
woraus ja zunächst nichts weiter folgt, als daß ein vortrefflicher Schriftsteller
u> einer ganz bestimmten Gattung ein unberufner Kritiker aller übrigen sein
kann. Auffallender ist es, wenn ein solcher über Keims "Spinnerin am
Kreuz," die Sittenberger nach allen Richtungen zerzaust, an den Dichter fol¬
genden Brief schreibt: "Ich sage dir, Freund, das ist ein Drama! ein Meister¬
werk, mit dem du heute einzig dastehst. Wie hoch steht dieses Stück über all
den Ibsens und Sudermanns, wie klar ist das Bild, gleich einem alten
Meisterkupferstich, wie erschütternd und reinigend wirkt es. Die deutsche
Bühne wird wenige Szenen haben, die mit diesem hochdramatischen, grausig
junonischen dritten Akte vergleichbar sind." Und nach einem Vergleiche mit
Shakespeare schließt er: "Wenn das nicht auf die Bühne gehört, und wenn
das nicht dramatisch ist, dann weiß ich nicht, was man unter dramatisch ver¬
steht." Sittenberger bemerkt dazu: "Es ist sehr wohl möglich, daß Nosegger
wie diesem Geständnis das Richtige getroffen hat. Wenn ich nicht irre, soll
^ ja auch noch andre Dinge zwischen Himmel und Erde geben, von denen sich
seine Schulweisheit nichts träumen läßt, über die er aber gleichwohl mitzu¬
reden sich berufen fühlt. Jede litterarische Meinung in Ehren. Man mag
über Ibsen und Sudermann denken, wie man will, obwohl es von wenig
Einsicht zeugt, sie in einem Atem zu nennen. Man mag ihre Werke ver¬
urteilen, aber Keim über sie oder gar in die Nähe Shakespeares zu stellen ist


Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

die Bühne geöffnet habe, vor allem aber der Dialektdichtung Anzengrubers, aber
das Zusammenspiel sei unter seiner Leitung zerfallen. Ob der Verfasser den
kürzlich aus Berlin berufnen Ersatzmann Burckhards für einen „bessern" halte,
deutet er nirgends an.

Eine für Österreich sehr bezeichnende Erscheinung ist ein Dramatiker, den
Sittenberger unter den Epigonen der ältern Dichtung behandelt, Franz Keim.
Nachdem er in seinen ersten Stücken Sulamith, Mephistopheles in Rom, Die
Spinnerin am Kreuz ein nicht unbedeutendes Talent, aber auch unglaubliche
Nachlässigkeiten und Geschmacksmängel gezeigt habe, sei er in neuerer Zeit mit
seinen „dentschvolklichen" Festspielen für Turner- und Burschenschafterjubiläen
zum Parteidichter hinabgesunken und unter dem Beifall einer zahlreichen jour¬
nalistischen Gefolgschaft dem „unbeholfnen und thörichten Lallen des schlimmsten
Dilettantismus" anheimgefallen. Den „nur-deutschen" Kritikern, die für ihn
Reklame macheu, entgegnet der Verfasser unsers Buches: „Es ist ja im Inter¬
esse der Öffentlichkeit sehr erfreulich, wenn sich die Herren selbst ihr Armuts¬
zeugnis ausstellen. Daß sie aber meinen, das deutsche Volk in Österreich
werde sich durch Dummheit erlösen lassen, ist eine Beleidigung, auf die man
wenigstens einmal aufmerksam machen muß." Zu Keims Lobrednern gehört
auch unser Freund Nosegger. Wir selbst erinnern uns ebenfalls, in seinem
..Heimgarten" die wunderbarsten Anerkennungsatteste über moderne Machwerke
Reichsdeutscher Dichter gefunden zu haben, die uns kaum lesenswert erschienen,
woraus ja zunächst nichts weiter folgt, als daß ein vortrefflicher Schriftsteller
u> einer ganz bestimmten Gattung ein unberufner Kritiker aller übrigen sein
kann. Auffallender ist es, wenn ein solcher über Keims „Spinnerin am
Kreuz," die Sittenberger nach allen Richtungen zerzaust, an den Dichter fol¬
genden Brief schreibt: „Ich sage dir, Freund, das ist ein Drama! ein Meister¬
werk, mit dem du heute einzig dastehst. Wie hoch steht dieses Stück über all
den Ibsens und Sudermanns, wie klar ist das Bild, gleich einem alten
Meisterkupferstich, wie erschütternd und reinigend wirkt es. Die deutsche
Bühne wird wenige Szenen haben, die mit diesem hochdramatischen, grausig
junonischen dritten Akte vergleichbar sind." Und nach einem Vergleiche mit
Shakespeare schließt er: „Wenn das nicht auf die Bühne gehört, und wenn
das nicht dramatisch ist, dann weiß ich nicht, was man unter dramatisch ver¬
steht." Sittenberger bemerkt dazu: „Es ist sehr wohl möglich, daß Nosegger
wie diesem Geständnis das Richtige getroffen hat. Wenn ich nicht irre, soll
^ ja auch noch andre Dinge zwischen Himmel und Erde geben, von denen sich
seine Schulweisheit nichts träumen läßt, über die er aber gleichwohl mitzu¬
reden sich berufen fühlt. Jede litterarische Meinung in Ehren. Man mag
über Ibsen und Sudermann denken, wie man will, obwohl es von wenig
Einsicht zeugt, sie in einem Atem zu nennen. Man mag ihre Werke ver¬
urteilen, aber Keim über sie oder gar in die Nähe Shakespeares zu stellen ist


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/91>, abgerufen am 24.07.2024.