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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Gin mittelstaatlicher Minister in der Zeit der Reichsgründung

Die Biographie Jollys ist einer der wertvollsten Beiträge zur Geschichte
unsrer größten Zeit von kundiger Hand, obwohl die Darstellung eine gewisse
Zurückhaltung übt, die das Bild Jollys weniger lebendig erscheinen läßt, als
es sein könnte. Sie ist um so wertvoller, als sie uns das Wirken eines
Mannes schildert, der den größten Mangel alles politischen Daseins der Süd¬
deutschen, die Schwäche der Staatsgesinnung und damit den wichtigsten Grund
der Verschiedenheit zwischen dem Norden und dem Süden vollständig über¬
wunden hatte. Es ist gerade heute nicht unnütz, dies zu betonen. Denn zu¬
weilen, viel mehr als gut ist, wird heute wieder auf diesen angeblichen Gegen¬
satz hingewiesen, selbst von verständigen, patriotischen Männern. Auch dem
Versasser des größten Teils dieser Biographie entschlüpfen zuweilen Äußerungen,
die, gerade heraus gesagt, auf einer Überschätzung der politischen Entwicklung
Süddeutschlands beruhen, wie sie vor 1866 Mode war. Er spricht von der
"den Süden nun einmal erfüllenden Abneigung gegen den Norden" als von
etwas selbstverständlichen; er findet, daß in Preußen der Adel noch die Ver¬
waltung beherrsche, und im Norden die monarchische Idee "noch so mächtig"
sei, als ob dies beides eine zurückgebliebne niedrigere Stufe der politischen
Reife bedeute; er redet von "preußischen Junkern" mit einem geringschätzigen
Nebensinn. Uns scheint, daß die staatenbildende Kraft, die mit Monarchie
und Aristokratie eng verbunden ist, und die allein die Nation vor der Auf¬
lösung retten konnte, im Norden immer viel stärker war als im Süden, und
daß es die geschichtliche Wahrheit verkennen heißt, wenn man das nicht an¬
erkennt. In Jollys Sinn ist das gar nicht, und es giebt doch sicherlich zu
denken, daß bei der jüngsten Reichstagswahl gerade in Baden die staatsfeindlichen
Parteien, die Ultramontanen und Sozialdemokraten, alle Wahlkreise erobert
haben bis auf vier. Man mag darin eine "natürliche" und nicht unverdiente
Reaktion gegen die lange Herrschaft der nationalen Minderheit sehen, aber
wann ist denn jemals und irgendwo etwas Großes anders erreicht worden als
durch eine gebildete und denkende Minderheit? Unsre ganze nationale Zukunft
beruht darauf, daß eine solche die Leitung behauptet, denn "die Mehrheit ist
nicht die Nation," sagte Fürst Bismarck. Das wird sie aber nur dann können,
wenn sie jederzeit daran festhält, daß eine gesunde Entwicklung den be¬
ständigen Austausch zwischen dem Norden und dem Süden erfordert, nicht
den selbstgefälligen Abschluß, und wenn sie niemals den Teil über das Ganze
setzt, auch nicht unter reichspatriotischen Redensarten, in denen wir selbst in
den schlechtesten Zeiten immer stark gewesen sind.



Gin mittelstaatlicher Minister in der Zeit der Reichsgründung

Die Biographie Jollys ist einer der wertvollsten Beiträge zur Geschichte
unsrer größten Zeit von kundiger Hand, obwohl die Darstellung eine gewisse
Zurückhaltung übt, die das Bild Jollys weniger lebendig erscheinen läßt, als
es sein könnte. Sie ist um so wertvoller, als sie uns das Wirken eines
Mannes schildert, der den größten Mangel alles politischen Daseins der Süd¬
deutschen, die Schwäche der Staatsgesinnung und damit den wichtigsten Grund
der Verschiedenheit zwischen dem Norden und dem Süden vollständig über¬
wunden hatte. Es ist gerade heute nicht unnütz, dies zu betonen. Denn zu¬
weilen, viel mehr als gut ist, wird heute wieder auf diesen angeblichen Gegen¬
satz hingewiesen, selbst von verständigen, patriotischen Männern. Auch dem
Versasser des größten Teils dieser Biographie entschlüpfen zuweilen Äußerungen,
die, gerade heraus gesagt, auf einer Überschätzung der politischen Entwicklung
Süddeutschlands beruhen, wie sie vor 1866 Mode war. Er spricht von der
„den Süden nun einmal erfüllenden Abneigung gegen den Norden" als von
etwas selbstverständlichen; er findet, daß in Preußen der Adel noch die Ver¬
waltung beherrsche, und im Norden die monarchische Idee „noch so mächtig"
sei, als ob dies beides eine zurückgebliebne niedrigere Stufe der politischen
Reife bedeute; er redet von „preußischen Junkern" mit einem geringschätzigen
Nebensinn. Uns scheint, daß die staatenbildende Kraft, die mit Monarchie
und Aristokratie eng verbunden ist, und die allein die Nation vor der Auf¬
lösung retten konnte, im Norden immer viel stärker war als im Süden, und
daß es die geschichtliche Wahrheit verkennen heißt, wenn man das nicht an¬
erkennt. In Jollys Sinn ist das gar nicht, und es giebt doch sicherlich zu
denken, daß bei der jüngsten Reichstagswahl gerade in Baden die staatsfeindlichen
Parteien, die Ultramontanen und Sozialdemokraten, alle Wahlkreise erobert
haben bis auf vier. Man mag darin eine „natürliche" und nicht unverdiente
Reaktion gegen die lange Herrschaft der nationalen Minderheit sehen, aber
wann ist denn jemals und irgendwo etwas Großes anders erreicht worden als
durch eine gebildete und denkende Minderheit? Unsre ganze nationale Zukunft
beruht darauf, daß eine solche die Leitung behauptet, denn „die Mehrheit ist
nicht die Nation," sagte Fürst Bismarck. Das wird sie aber nur dann können,
wenn sie jederzeit daran festhält, daß eine gesunde Entwicklung den be¬
ständigen Austausch zwischen dem Norden und dem Süden erfordert, nicht
den selbstgefälligen Abschluß, und wenn sie niemals den Teil über das Ganze
setzt, auch nicht unter reichspatriotischen Redensarten, in denen wir selbst in
den schlechtesten Zeiten immer stark gewesen sind.



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/84>, abgerufen am 24.07.2024.