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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Lin mittelstaatlicher Minister in der Zeit der Reichsgründung

brief. Sofort erbat dieser mit Freydorf seine Entlassung und erhielt sie am
21. September mit der selbstverständlichen ehrenvollen Anerkennung seines
Wirkens. Die Liberalen hatten dnrch unverständige Überspannung ihrer dok¬
trinären Forderungen ihr eignes Ministerium gestürzt und dadurch das Ende
ihrer eignen Herrschaft vorbereitet.

Auf der Höhe des Lebens, im Besitz seiner vollen Kraft war Jolly zur
Politischen Untätigkeit verurteilt, denn die Stellung als Präsident der Obcr-
rechnungskammer füllte weder seine Zeit noch sein Interesse aus; ein Neichs-
tagsmandat für Pforzheim, um das er sich im Dezember 1876 bewarb, erhielt
er nicht, und einen Ruf an die Spitze des Reichsfinanzamts 1878 lehnte er
ab, weil er sich die nötige Fachkenntnis nicht zutraute und auch eine allzu¬
große Abhängigkeit vom Reichskanzler fürchtete. In Baden aber wollte er
keine politische Rolle mehr spielen, weil er der vom Großherzog gebilligten
neuen Richtung nicht öffentlich entgegentreten wollte. Zu wissenschaftlichen
Arbeiten empfand der ganz zum praktischen Staatsmann gewordne keine
Neigung mehr. So suchte er Befriedigung in seinem schönen, innigen Familien¬
leben, im Verkehr mit Freunden, im Genusse der Litteratur, der Kunst und
des Theaters. Eifrig folgte er daneben den Zeitereignissen und vertrat seine
Erfahrungen ihnen gegenüber in zwei Schriften. In der ersten "Der Reichs¬
tag und die Parteien" 1880 wies er die Unmöglichkeit der parlamentarischen
Regierungsweise für Deutschland nach, in der zweiten "Über den preußischen
Kulturkampf" 1882 entwickelte er seine in Baden befolgten Grundsätze. All¬
mählich kam das Alter, und mit ihm verstärkte sich auch das alte quälende
Leiden, das ihn seit 1863 niemals ganz verlassen hatte. Das große nationale
Trauerjahr 1838 traf ihn im Innersten, namentlich der Tod Kaiser Wilhelms.
..Ich bin tief erschüttert," schrieb er am 12. März seinem jungen Sohne, "und
rastlos wandern die Gedanken in die herrlichen Tage zurück, welche der alte
Herr vor siebzehn Jahre" uns herausgeführt hat. Die Bewegung ist auch hier
allgemein und tief, und doch wird es ein Jahrzehnt dauern, bis auch in der
geringsten Hütte die Größe des Verlustes deutlich erkannt wird. Das Urteil
über den Kaiser ist trotz aller Verehrung, die warmherzig genug zum Ausdruck
kommt, noch nicht das rechte, die Verehrung für seine Person wird und muß
noch gewaltig wachsen. Ich Preise mich glücklich, daß ich besser wie andre
weiß, welche schlichte menschliche Größe und wahrhaft königlicher Sinn in dem
Kaiser verkörpert war." Aufs tiefste erschütterte ihn dann die Kunde von der
Entlassung des Fürsten Bismarck im März 1890; er nannte es unbegreiflich,
d^ß der Kaiser eine Macht zerstören konnte, die er zu erben berufen war.
Seitdem verfiel er sichtlich. Ende September 1891 erkrankte er, erholte sich
aber wieder und hatte noch am 14. Oktober die Freude, daß ihm sein jüngerer
Sohn seine bevorstehende Anstellung im Staatsdienste verkündigte. Man stieß
bei Tische darauf an. doch kurz darnach sank der Vater um, ein Herzschlag
hatte ihn getötet. Er war noch nicht 69 Jahre alt geworden.


Lin mittelstaatlicher Minister in der Zeit der Reichsgründung

brief. Sofort erbat dieser mit Freydorf seine Entlassung und erhielt sie am
21. September mit der selbstverständlichen ehrenvollen Anerkennung seines
Wirkens. Die Liberalen hatten dnrch unverständige Überspannung ihrer dok¬
trinären Forderungen ihr eignes Ministerium gestürzt und dadurch das Ende
ihrer eignen Herrschaft vorbereitet.

Auf der Höhe des Lebens, im Besitz seiner vollen Kraft war Jolly zur
Politischen Untätigkeit verurteilt, denn die Stellung als Präsident der Obcr-
rechnungskammer füllte weder seine Zeit noch sein Interesse aus; ein Neichs-
tagsmandat für Pforzheim, um das er sich im Dezember 1876 bewarb, erhielt
er nicht, und einen Ruf an die Spitze des Reichsfinanzamts 1878 lehnte er
ab, weil er sich die nötige Fachkenntnis nicht zutraute und auch eine allzu¬
große Abhängigkeit vom Reichskanzler fürchtete. In Baden aber wollte er
keine politische Rolle mehr spielen, weil er der vom Großherzog gebilligten
neuen Richtung nicht öffentlich entgegentreten wollte. Zu wissenschaftlichen
Arbeiten empfand der ganz zum praktischen Staatsmann gewordne keine
Neigung mehr. So suchte er Befriedigung in seinem schönen, innigen Familien¬
leben, im Verkehr mit Freunden, im Genusse der Litteratur, der Kunst und
des Theaters. Eifrig folgte er daneben den Zeitereignissen und vertrat seine
Erfahrungen ihnen gegenüber in zwei Schriften. In der ersten „Der Reichs¬
tag und die Parteien" 1880 wies er die Unmöglichkeit der parlamentarischen
Regierungsweise für Deutschland nach, in der zweiten „Über den preußischen
Kulturkampf" 1882 entwickelte er seine in Baden befolgten Grundsätze. All¬
mählich kam das Alter, und mit ihm verstärkte sich auch das alte quälende
Leiden, das ihn seit 1863 niemals ganz verlassen hatte. Das große nationale
Trauerjahr 1838 traf ihn im Innersten, namentlich der Tod Kaiser Wilhelms.
..Ich bin tief erschüttert," schrieb er am 12. März seinem jungen Sohne, „und
rastlos wandern die Gedanken in die herrlichen Tage zurück, welche der alte
Herr vor siebzehn Jahre» uns herausgeführt hat. Die Bewegung ist auch hier
allgemein und tief, und doch wird es ein Jahrzehnt dauern, bis auch in der
geringsten Hütte die Größe des Verlustes deutlich erkannt wird. Das Urteil
über den Kaiser ist trotz aller Verehrung, die warmherzig genug zum Ausdruck
kommt, noch nicht das rechte, die Verehrung für seine Person wird und muß
noch gewaltig wachsen. Ich Preise mich glücklich, daß ich besser wie andre
weiß, welche schlichte menschliche Größe und wahrhaft königlicher Sinn in dem
Kaiser verkörpert war." Aufs tiefste erschütterte ihn dann die Kunde von der
Entlassung des Fürsten Bismarck im März 1890; er nannte es unbegreiflich,
d^ß der Kaiser eine Macht zerstören konnte, die er zu erben berufen war.
Seitdem verfiel er sichtlich. Ende September 1891 erkrankte er, erholte sich
aber wieder und hatte noch am 14. Oktober die Freude, daß ihm sein jüngerer
Sohn seine bevorstehende Anstellung im Staatsdienste verkündigte. Man stieß
bei Tische darauf an. doch kurz darnach sank der Vater um, ein Herzschlag
hatte ihn getötet. Er war noch nicht 69 Jahre alt geworden.


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[0083] Lin mittelstaatlicher Minister in der Zeit der Reichsgründung brief. Sofort erbat dieser mit Freydorf seine Entlassung und erhielt sie am 21. September mit der selbstverständlichen ehrenvollen Anerkennung seines Wirkens. Die Liberalen hatten dnrch unverständige Überspannung ihrer dok¬ trinären Forderungen ihr eignes Ministerium gestürzt und dadurch das Ende ihrer eignen Herrschaft vorbereitet. Auf der Höhe des Lebens, im Besitz seiner vollen Kraft war Jolly zur Politischen Untätigkeit verurteilt, denn die Stellung als Präsident der Obcr- rechnungskammer füllte weder seine Zeit noch sein Interesse aus; ein Neichs- tagsmandat für Pforzheim, um das er sich im Dezember 1876 bewarb, erhielt er nicht, und einen Ruf an die Spitze des Reichsfinanzamts 1878 lehnte er ab, weil er sich die nötige Fachkenntnis nicht zutraute und auch eine allzu¬ große Abhängigkeit vom Reichskanzler fürchtete. In Baden aber wollte er keine politische Rolle mehr spielen, weil er der vom Großherzog gebilligten neuen Richtung nicht öffentlich entgegentreten wollte. Zu wissenschaftlichen Arbeiten empfand der ganz zum praktischen Staatsmann gewordne keine Neigung mehr. So suchte er Befriedigung in seinem schönen, innigen Familien¬ leben, im Verkehr mit Freunden, im Genusse der Litteratur, der Kunst und des Theaters. Eifrig folgte er daneben den Zeitereignissen und vertrat seine Erfahrungen ihnen gegenüber in zwei Schriften. In der ersten „Der Reichs¬ tag und die Parteien" 1880 wies er die Unmöglichkeit der parlamentarischen Regierungsweise für Deutschland nach, in der zweiten „Über den preußischen Kulturkampf" 1882 entwickelte er seine in Baden befolgten Grundsätze. All¬ mählich kam das Alter, und mit ihm verstärkte sich auch das alte quälende Leiden, das ihn seit 1863 niemals ganz verlassen hatte. Das große nationale Trauerjahr 1838 traf ihn im Innersten, namentlich der Tod Kaiser Wilhelms. ..Ich bin tief erschüttert," schrieb er am 12. März seinem jungen Sohne, „und rastlos wandern die Gedanken in die herrlichen Tage zurück, welche der alte Herr vor siebzehn Jahre» uns herausgeführt hat. Die Bewegung ist auch hier allgemein und tief, und doch wird es ein Jahrzehnt dauern, bis auch in der geringsten Hütte die Größe des Verlustes deutlich erkannt wird. Das Urteil über den Kaiser ist trotz aller Verehrung, die warmherzig genug zum Ausdruck kommt, noch nicht das rechte, die Verehrung für seine Person wird und muß noch gewaltig wachsen. Ich Preise mich glücklich, daß ich besser wie andre weiß, welche schlichte menschliche Größe und wahrhaft königlicher Sinn in dem Kaiser verkörpert war." Aufs tiefste erschütterte ihn dann die Kunde von der Entlassung des Fürsten Bismarck im März 1890; er nannte es unbegreiflich, d^ß der Kaiser eine Macht zerstören konnte, die er zu erben berufen war. Seitdem verfiel er sichtlich. Ende September 1891 erkrankte er, erholte sich aber wieder und hatte noch am 14. Oktober die Freude, daß ihm sein jüngerer Sohn seine bevorstehende Anstellung im Staatsdienste verkündigte. Man stieß bei Tische darauf an. doch kurz darnach sank der Vater um, ein Herzschlag hatte ihn getötet. Er war noch nicht 69 Jahre alt geworden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/83>, abgerufen am 24.07.2024.