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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Gin mittelstaatlicher Minister in der Zeit der Reichsgründung

Erzbischofs wie in der Erziehung der Geistlichen mehr und mehr zur Herr¬
schaft gelangt, und der junge Nachwuchs wurde ultramontan. Als daher
der greise Erzbischof Vicari am 14. April 1868 starb, enthielt die aufgestellte
Kandidatenliste fast nur Ultramontane, sodaß die Regierung sieben von acht
Namen strich, also eine neue Liste forderte. Da der Papst die Aufstellung
einer solchen verbot, so kam zunächst überhaupt keine Neuwahl zustande.
Während dieses Provisoriums gab ein Gesetz 1869 die Eheschließung frei, ein
zweites übertrug die Verwaltung der Armenstiftungen den politischen Ge¬
meinden, ein drittes führte die obligatorische Zivilehe ein. So erweiterte sich
der Gegensatz, und die Neuwahlen zur zweiten Kammer 1869 brachten schon
vier Ultramontane in die Kammer (statt des bisherigen einzigen Vertreters).
Viel gefährlicher und viel bedenklicher wurde für Jolly die Entfremdung, die
zwischen ihm und einem großen Teile der liberalen Partei eintrat, weil er
nicht alle ihre Ideale erfüllen konnte oder wollte. Im November 1863 ver¬
sandten vierzehn in Offenburg versammelte liberale Abgeordnete, an ihrer Spitze
Lamey, Vluntschli und Kiefer, ein Rundschreiben, worin sie die Negierung an¬
klagten, sie habe sich von der liberalen Partei entfernt, weil das Ministerium
ohne Mitwirkung der Kammermehrheit gebildet worden sei, und worin sie
als programmatische Forderungen Sparsamkeit im Heerwesen, Freiheit der Reli¬
gion und der Wissenschaft aufstellten. Die scharfe Abfertigung, die Treitschke,
Sybel, G. Freytag u. a. dieser auffälligen Kundgebung zu teil werden
ließen, war verdient, denn sie war kurzsichtig und beruhte zudem teilweise auf
persönlichen Gründen: Lamey und Vluntschli hofften selbst ins Ministerium
einzutreten. Da Jolly seine Sache in der Presse ruhig verteidigen ließ und
ein Teil der "Offenburger" den Fehler bald erkannte, so entfernte eine
größere Versammlung am 26. Dezember die anstößigen Teile des Programms.
Kurz darauf belehrte die großdeutsch-demokratische "Wahlreformliga," die in
Verbindung mit dem "katholischen Volksverein" das allgemeine, gleiche und
direkte Wahlrecht für den Landtag forderte, die Liberalen darüber, daß ihre
Opposition gegen ihr eignes Ministerium ein Spielen mit dem Feuer sei, da,
wenn diese Forderung erfüllt wurde, die Herrschaft wieder wie in den schlimmen
Jahren 1849 und 1866 an die Massen übergehen konnte. So verwarf eine
zweite liberale Versammlung von mehr als zweitausend Teilnehmern in Offen¬
burg am 22. und 23. Mai 1869 jede Änderung des Heergesetzes und das
allgemeine Wahlrecht und billigte die deutsche Politik der Regierung. Eine
Adresse an den Großherzog brachte diese Gesinnung zum Ausdruck, die liberale
Partei des Landes war wieder einig, und die dem Landtage von 1869/70 von
Jolly vorgelegten Gesetze bewiesen, daß der Zweifel an der liberalen Gesinnung
des Ministers durchaus unberechtigt gewesen sei.

Freilich, es fehlte viel, daß das Land ganz und gar hinter Jollys Politik
gestanden Hütte. Daß für eine nationale Politik auch Opfer zu bringen seien,
das wollte auch vielen Liberalen, geschweige der großen Masse des Volks,


Gin mittelstaatlicher Minister in der Zeit der Reichsgründung

Erzbischofs wie in der Erziehung der Geistlichen mehr und mehr zur Herr¬
schaft gelangt, und der junge Nachwuchs wurde ultramontan. Als daher
der greise Erzbischof Vicari am 14. April 1868 starb, enthielt die aufgestellte
Kandidatenliste fast nur Ultramontane, sodaß die Regierung sieben von acht
Namen strich, also eine neue Liste forderte. Da der Papst die Aufstellung
einer solchen verbot, so kam zunächst überhaupt keine Neuwahl zustande.
Während dieses Provisoriums gab ein Gesetz 1869 die Eheschließung frei, ein
zweites übertrug die Verwaltung der Armenstiftungen den politischen Ge¬
meinden, ein drittes führte die obligatorische Zivilehe ein. So erweiterte sich
der Gegensatz, und die Neuwahlen zur zweiten Kammer 1869 brachten schon
vier Ultramontane in die Kammer (statt des bisherigen einzigen Vertreters).
Viel gefährlicher und viel bedenklicher wurde für Jolly die Entfremdung, die
zwischen ihm und einem großen Teile der liberalen Partei eintrat, weil er
nicht alle ihre Ideale erfüllen konnte oder wollte. Im November 1863 ver¬
sandten vierzehn in Offenburg versammelte liberale Abgeordnete, an ihrer Spitze
Lamey, Vluntschli und Kiefer, ein Rundschreiben, worin sie die Negierung an¬
klagten, sie habe sich von der liberalen Partei entfernt, weil das Ministerium
ohne Mitwirkung der Kammermehrheit gebildet worden sei, und worin sie
als programmatische Forderungen Sparsamkeit im Heerwesen, Freiheit der Reli¬
gion und der Wissenschaft aufstellten. Die scharfe Abfertigung, die Treitschke,
Sybel, G. Freytag u. a. dieser auffälligen Kundgebung zu teil werden
ließen, war verdient, denn sie war kurzsichtig und beruhte zudem teilweise auf
persönlichen Gründen: Lamey und Vluntschli hofften selbst ins Ministerium
einzutreten. Da Jolly seine Sache in der Presse ruhig verteidigen ließ und
ein Teil der „Offenburger" den Fehler bald erkannte, so entfernte eine
größere Versammlung am 26. Dezember die anstößigen Teile des Programms.
Kurz darauf belehrte die großdeutsch-demokratische „Wahlreformliga," die in
Verbindung mit dem „katholischen Volksverein" das allgemeine, gleiche und
direkte Wahlrecht für den Landtag forderte, die Liberalen darüber, daß ihre
Opposition gegen ihr eignes Ministerium ein Spielen mit dem Feuer sei, da,
wenn diese Forderung erfüllt wurde, die Herrschaft wieder wie in den schlimmen
Jahren 1849 und 1866 an die Massen übergehen konnte. So verwarf eine
zweite liberale Versammlung von mehr als zweitausend Teilnehmern in Offen¬
burg am 22. und 23. Mai 1869 jede Änderung des Heergesetzes und das
allgemeine Wahlrecht und billigte die deutsche Politik der Regierung. Eine
Adresse an den Großherzog brachte diese Gesinnung zum Ausdruck, die liberale
Partei des Landes war wieder einig, und die dem Landtage von 1869/70 von
Jolly vorgelegten Gesetze bewiesen, daß der Zweifel an der liberalen Gesinnung
des Ministers durchaus unberechtigt gewesen sei.

Freilich, es fehlte viel, daß das Land ganz und gar hinter Jollys Politik
gestanden Hütte. Daß für eine nationale Politik auch Opfer zu bringen seien,
das wollte auch vielen Liberalen, geschweige der großen Masse des Volks,


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[0076] Gin mittelstaatlicher Minister in der Zeit der Reichsgründung Erzbischofs wie in der Erziehung der Geistlichen mehr und mehr zur Herr¬ schaft gelangt, und der junge Nachwuchs wurde ultramontan. Als daher der greise Erzbischof Vicari am 14. April 1868 starb, enthielt die aufgestellte Kandidatenliste fast nur Ultramontane, sodaß die Regierung sieben von acht Namen strich, also eine neue Liste forderte. Da der Papst die Aufstellung einer solchen verbot, so kam zunächst überhaupt keine Neuwahl zustande. Während dieses Provisoriums gab ein Gesetz 1869 die Eheschließung frei, ein zweites übertrug die Verwaltung der Armenstiftungen den politischen Ge¬ meinden, ein drittes führte die obligatorische Zivilehe ein. So erweiterte sich der Gegensatz, und die Neuwahlen zur zweiten Kammer 1869 brachten schon vier Ultramontane in die Kammer (statt des bisherigen einzigen Vertreters). Viel gefährlicher und viel bedenklicher wurde für Jolly die Entfremdung, die zwischen ihm und einem großen Teile der liberalen Partei eintrat, weil er nicht alle ihre Ideale erfüllen konnte oder wollte. Im November 1863 ver¬ sandten vierzehn in Offenburg versammelte liberale Abgeordnete, an ihrer Spitze Lamey, Vluntschli und Kiefer, ein Rundschreiben, worin sie die Negierung an¬ klagten, sie habe sich von der liberalen Partei entfernt, weil das Ministerium ohne Mitwirkung der Kammermehrheit gebildet worden sei, und worin sie als programmatische Forderungen Sparsamkeit im Heerwesen, Freiheit der Reli¬ gion und der Wissenschaft aufstellten. Die scharfe Abfertigung, die Treitschke, Sybel, G. Freytag u. a. dieser auffälligen Kundgebung zu teil werden ließen, war verdient, denn sie war kurzsichtig und beruhte zudem teilweise auf persönlichen Gründen: Lamey und Vluntschli hofften selbst ins Ministerium einzutreten. Da Jolly seine Sache in der Presse ruhig verteidigen ließ und ein Teil der „Offenburger" den Fehler bald erkannte, so entfernte eine größere Versammlung am 26. Dezember die anstößigen Teile des Programms. Kurz darauf belehrte die großdeutsch-demokratische „Wahlreformliga," die in Verbindung mit dem „katholischen Volksverein" das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht für den Landtag forderte, die Liberalen darüber, daß ihre Opposition gegen ihr eignes Ministerium ein Spielen mit dem Feuer sei, da, wenn diese Forderung erfüllt wurde, die Herrschaft wieder wie in den schlimmen Jahren 1849 und 1866 an die Massen übergehen konnte. So verwarf eine zweite liberale Versammlung von mehr als zweitausend Teilnehmern in Offen¬ burg am 22. und 23. Mai 1869 jede Änderung des Heergesetzes und das allgemeine Wahlrecht und billigte die deutsche Politik der Regierung. Eine Adresse an den Großherzog brachte diese Gesinnung zum Ausdruck, die liberale Partei des Landes war wieder einig, und die dem Landtage von 1869/70 von Jolly vorgelegten Gesetze bewiesen, daß der Zweifel an der liberalen Gesinnung des Ministers durchaus unberechtigt gewesen sei. Freilich, es fehlte viel, daß das Land ganz und gar hinter Jollys Politik gestanden Hütte. Daß für eine nationale Politik auch Opfer zu bringen seien, das wollte auch vielen Liberalen, geschweige der großen Masse des Volks,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/76>, abgerufen am 24.07.2024.