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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Litterarische Rücksichtslosigkeiten eines Hagestolzen

reichen Formen genau kennen, ohne daß der Versuch gemacht wird, alle diese
Schönheitsmerkmale erst dann zu zeigen, wenn sie in Bewegung sind.

Die Verfasserin behauptet, daß sich Wenda trotz ihrer nchtunddreißig Jahre
"großartig konservirt hat." "Ihre Augen erstrahlen in jugendlichem Feuer," Ihrer
wiederholten Versicherung müssen wir auch glauben, daß sie "liebenswürdig und
geistreich" ist, wenn wir auch nichts davon sehen.

Nun kehrt die Tochter zurück ius Elternhaus, selbstverständlich ein Unikum
jugendlicher Reize -- "blondlockig, mit lachendem, fröhlichem Kindergesicht. Wie
im Fluge hatten sich ihr die Herzen der lieben Bekanntet: und Verwandten zu¬
gewandt. Man hätschelte und verzog die kaum erschlossene Mädchenblüte."

Unsre einfachen Mädchennamen sind natürlich nicht ausreichend für diesen
Engel ohne Flügel. Sie hieß Edles. Ihre Liebenswürdigkeit ist überwältigend.
Die Verfasserin sagt: "Sie betrug sich wie ein Kobold, war zu allein Unfug bereit,
"cette alte weißköpfige Onkel und alte Tanten und war dann wieder die Aufmerk¬
samkeit selbst." So sind die Redensarten, die uns für die fehlende Phantasie ent¬
schädigen sollen. Die Verfasserin sagt es gerade nicht -- dazu ist sie zu gebildet --,
man sieht aber, daß ihr das Wort in der Feder gestockt hat -- Edles war so
ausbündig schön und nett, daß alle Welt "hin War."

Den Vater sehen wir in der ganzen Geschichte nicht. Es wird nur gesagt,
daß er ein "genialer Künstler" ist, und daß er einen regen, geselligen Verkehr liebt.
Wir dürfen das aber solcher Versicherungen ungeachtet bezweifeln, da wir thu nie¬
mals in den Gesellschaften sehen. Wäre es anders, er würde uns weniger "genial"
vorkommen. Denn Väter, die arbeiten und arbeiten müssen, die noch andre Pflichten
haben, als gut auszusehen und "Star" zu sein, gehören überhaupt nicht in Er¬
zählungen hinein, worin es nach Schminke und Puder riecht, wo die Seidenkleider
durch die Spalten rauschen und knistern.

Es kommt die Aschermittwvchsredoute. Jawohl "Redoute." Und mit dieser
"Redoute" kommt das Verhängnis für Mutter Wenda. Sie hat schon so etwas
geahnt. Als die Tochter im Saal erscheint, deckt ein Nebelschleier ihre Augen, das
heißt die Angen, die "noch im Feuer der Jugend erstrahlen." Die böse Ahnung
beschattete sie schon, als sie Toilette machte. Sie hat deshalb auch besondre Sorg¬
falt darauf verwandt. "Ein weicher, weißer Hermelinpuder ist auf die vollen,
runden Wangen aufgetragen." Wir erfahren jetzt ausdrücklich, daß sie nicht zu
den ihrer Schönheit unbewußten Frauen gehört. Sie hat sich vor dem Spiegel
geprüft und uach den ersten Fältchen unter den Augen geforscht. Beruhigt hat sie
den Kopf zurückgeworfen: "Noch nicht, noch war die Jugend nicht entschwunden."
Noch einmal fühlt sie den Triumph nach, den sie noch vor wenigen Tagen gehabt
hat, als der Legationsrat von R. . . hinter einem Legationsrat thun sich selten
und ohne Helden von Adel nnn gar nicht, das Glück der bürgerlichen Welt besteht
in wohlwollender Verwendung als bescheidne Staffage), die Mama Wenda fühlt
also noch immer den Triumph von vorgestern, als der Legntionsrat von R. auf
ihren Rat, doch auch eine Frau zu wählen, erwiderte: "Er habe noch keine Frau
gefunden, die ihr (nämlich dem "Star" Wanda) an Geist und Schönheit gleiche,
er sei ihr Sklave."

Die Verfasserin meint damit, eine interessante Bemerkung mitgeteilt zu haben.
Es sind mir Beispiele bekannt, daß aus der Frauenwelt geradezu maßlose und für
uns unverständliche Eutrüstungsrufe laut werden über Ansichten, die mir durchaus
gesund erschienen sind. Nun muß ich gestehen: hier reicht mein Verständnis nicht
aus. Ich halte es für eine fragwürdige Sittlichkeit, wenn sich mangelhaft bekleidete


Litterarische Rücksichtslosigkeiten eines Hagestolzen

reichen Formen genau kennen, ohne daß der Versuch gemacht wird, alle diese
Schönheitsmerkmale erst dann zu zeigen, wenn sie in Bewegung sind.

Die Verfasserin behauptet, daß sich Wenda trotz ihrer nchtunddreißig Jahre
„großartig konservirt hat." „Ihre Augen erstrahlen in jugendlichem Feuer," Ihrer
wiederholten Versicherung müssen wir auch glauben, daß sie „liebenswürdig und
geistreich" ist, wenn wir auch nichts davon sehen.

Nun kehrt die Tochter zurück ius Elternhaus, selbstverständlich ein Unikum
jugendlicher Reize — „blondlockig, mit lachendem, fröhlichem Kindergesicht. Wie
im Fluge hatten sich ihr die Herzen der lieben Bekanntet: und Verwandten zu¬
gewandt. Man hätschelte und verzog die kaum erschlossene Mädchenblüte."

Unsre einfachen Mädchennamen sind natürlich nicht ausreichend für diesen
Engel ohne Flügel. Sie hieß Edles. Ihre Liebenswürdigkeit ist überwältigend.
Die Verfasserin sagt: „Sie betrug sich wie ein Kobold, war zu allein Unfug bereit,
»cette alte weißköpfige Onkel und alte Tanten und war dann wieder die Aufmerk¬
samkeit selbst." So sind die Redensarten, die uns für die fehlende Phantasie ent¬
schädigen sollen. Die Verfasserin sagt es gerade nicht — dazu ist sie zu gebildet —,
man sieht aber, daß ihr das Wort in der Feder gestockt hat — Edles war so
ausbündig schön und nett, daß alle Welt „hin War."

Den Vater sehen wir in der ganzen Geschichte nicht. Es wird nur gesagt,
daß er ein „genialer Künstler" ist, und daß er einen regen, geselligen Verkehr liebt.
Wir dürfen das aber solcher Versicherungen ungeachtet bezweifeln, da wir thu nie¬
mals in den Gesellschaften sehen. Wäre es anders, er würde uns weniger „genial"
vorkommen. Denn Väter, die arbeiten und arbeiten müssen, die noch andre Pflichten
haben, als gut auszusehen und „Star" zu sein, gehören überhaupt nicht in Er¬
zählungen hinein, worin es nach Schminke und Puder riecht, wo die Seidenkleider
durch die Spalten rauschen und knistern.

Es kommt die Aschermittwvchsredoute. Jawohl „Redoute." Und mit dieser
„Redoute" kommt das Verhängnis für Mutter Wenda. Sie hat schon so etwas
geahnt. Als die Tochter im Saal erscheint, deckt ein Nebelschleier ihre Augen, das
heißt die Angen, die „noch im Feuer der Jugend erstrahlen." Die böse Ahnung
beschattete sie schon, als sie Toilette machte. Sie hat deshalb auch besondre Sorg¬
falt darauf verwandt. „Ein weicher, weißer Hermelinpuder ist auf die vollen,
runden Wangen aufgetragen." Wir erfahren jetzt ausdrücklich, daß sie nicht zu
den ihrer Schönheit unbewußten Frauen gehört. Sie hat sich vor dem Spiegel
geprüft und uach den ersten Fältchen unter den Augen geforscht. Beruhigt hat sie
den Kopf zurückgeworfen: „Noch nicht, noch war die Jugend nicht entschwunden."
Noch einmal fühlt sie den Triumph nach, den sie noch vor wenigen Tagen gehabt
hat, als der Legationsrat von R. . . hinter einem Legationsrat thun sich selten
und ohne Helden von Adel nnn gar nicht, das Glück der bürgerlichen Welt besteht
in wohlwollender Verwendung als bescheidne Staffage), die Mama Wenda fühlt
also noch immer den Triumph von vorgestern, als der Legntionsrat von R. auf
ihren Rat, doch auch eine Frau zu wählen, erwiderte: „Er habe noch keine Frau
gefunden, die ihr (nämlich dem »Star« Wanda) an Geist und Schönheit gleiche,
er sei ihr Sklave."

Die Verfasserin meint damit, eine interessante Bemerkung mitgeteilt zu haben.
Es sind mir Beispiele bekannt, daß aus der Frauenwelt geradezu maßlose und für
uns unverständliche Eutrüstungsrufe laut werden über Ansichten, die mir durchaus
gesund erschienen sind. Nun muß ich gestehen: hier reicht mein Verständnis nicht
aus. Ich halte es für eine fragwürdige Sittlichkeit, wenn sich mangelhaft bekleidete


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[0719] Litterarische Rücksichtslosigkeiten eines Hagestolzen reichen Formen genau kennen, ohne daß der Versuch gemacht wird, alle diese Schönheitsmerkmale erst dann zu zeigen, wenn sie in Bewegung sind. Die Verfasserin behauptet, daß sich Wenda trotz ihrer nchtunddreißig Jahre „großartig konservirt hat." „Ihre Augen erstrahlen in jugendlichem Feuer," Ihrer wiederholten Versicherung müssen wir auch glauben, daß sie „liebenswürdig und geistreich" ist, wenn wir auch nichts davon sehen. Nun kehrt die Tochter zurück ius Elternhaus, selbstverständlich ein Unikum jugendlicher Reize — „blondlockig, mit lachendem, fröhlichem Kindergesicht. Wie im Fluge hatten sich ihr die Herzen der lieben Bekanntet: und Verwandten zu¬ gewandt. Man hätschelte und verzog die kaum erschlossene Mädchenblüte." Unsre einfachen Mädchennamen sind natürlich nicht ausreichend für diesen Engel ohne Flügel. Sie hieß Edles. Ihre Liebenswürdigkeit ist überwältigend. Die Verfasserin sagt: „Sie betrug sich wie ein Kobold, war zu allein Unfug bereit, »cette alte weißköpfige Onkel und alte Tanten und war dann wieder die Aufmerk¬ samkeit selbst." So sind die Redensarten, die uns für die fehlende Phantasie ent¬ schädigen sollen. Die Verfasserin sagt es gerade nicht — dazu ist sie zu gebildet —, man sieht aber, daß ihr das Wort in der Feder gestockt hat — Edles war so ausbündig schön und nett, daß alle Welt „hin War." Den Vater sehen wir in der ganzen Geschichte nicht. Es wird nur gesagt, daß er ein „genialer Künstler" ist, und daß er einen regen, geselligen Verkehr liebt. Wir dürfen das aber solcher Versicherungen ungeachtet bezweifeln, da wir thu nie¬ mals in den Gesellschaften sehen. Wäre es anders, er würde uns weniger „genial" vorkommen. Denn Väter, die arbeiten und arbeiten müssen, die noch andre Pflichten haben, als gut auszusehen und „Star" zu sein, gehören überhaupt nicht in Er¬ zählungen hinein, worin es nach Schminke und Puder riecht, wo die Seidenkleider durch die Spalten rauschen und knistern. Es kommt die Aschermittwvchsredoute. Jawohl „Redoute." Und mit dieser „Redoute" kommt das Verhängnis für Mutter Wenda. Sie hat schon so etwas geahnt. Als die Tochter im Saal erscheint, deckt ein Nebelschleier ihre Augen, das heißt die Angen, die „noch im Feuer der Jugend erstrahlen." Die böse Ahnung beschattete sie schon, als sie Toilette machte. Sie hat deshalb auch besondre Sorg¬ falt darauf verwandt. „Ein weicher, weißer Hermelinpuder ist auf die vollen, runden Wangen aufgetragen." Wir erfahren jetzt ausdrücklich, daß sie nicht zu den ihrer Schönheit unbewußten Frauen gehört. Sie hat sich vor dem Spiegel geprüft und uach den ersten Fältchen unter den Augen geforscht. Beruhigt hat sie den Kopf zurückgeworfen: „Noch nicht, noch war die Jugend nicht entschwunden." Noch einmal fühlt sie den Triumph nach, den sie noch vor wenigen Tagen gehabt hat, als der Legationsrat von R. . . hinter einem Legationsrat thun sich selten und ohne Helden von Adel nnn gar nicht, das Glück der bürgerlichen Welt besteht in wohlwollender Verwendung als bescheidne Staffage), die Mama Wenda fühlt also noch immer den Triumph von vorgestern, als der Legntionsrat von R. auf ihren Rat, doch auch eine Frau zu wählen, erwiderte: „Er habe noch keine Frau gefunden, die ihr (nämlich dem »Star« Wanda) an Geist und Schönheit gleiche, er sei ihr Sklave." Die Verfasserin meint damit, eine interessante Bemerkung mitgeteilt zu haben. Es sind mir Beispiele bekannt, daß aus der Frauenwelt geradezu maßlose und für uns unverständliche Eutrüstungsrufe laut werden über Ansichten, die mir durchaus gesund erschienen sind. Nun muß ich gestehen: hier reicht mein Verständnis nicht aus. Ich halte es für eine fragwürdige Sittlichkeit, wenn sich mangelhaft bekleidete

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/719>, abgerufen am 12.12.2024.