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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Zur äußern Geschichte unsrer Sprache

Schon die erste Blütezeit unsrer Litteratur zur Zeit der staufischen Herrscher
hat eine weitgehende Einigung erreicht. Viele niederdeutsche Dichter bemühten sich
damals, möglichst hochdeutsch zu dichten. Die oberdeutsche Verkleincruugssilbe
--un ist damals Gemeingut für die Litteratursprache aller Stämme geworden.
Aber mit dem Niedergang der Kunst lockerte sich auch diese sprachliche Einigung
wieder, die Mundarten wucherten neu empor. Da tritt die litterarische Rege¬
lung der Urkundensprache ein und schafft einen neuen gemeinsamen Boden.
Das Grenzgebiet des Fränkischen und des Alemannischen wird zur Heimat
eines weiter um sich greifenden schriftsprachlichen Typus. Auch auf niederdeutschen
Boden tritt er bald über: 1386 könne" Göttingen, Minden und Nordheim,
lauter niederdeutsche Städte, ein Bündnis abschließen, dessen Beurkundung in
hochdeutscher Sprache abgefaßt ist. Schon um 1350 verlasse" die "leisten
Kanzleien die reine Mundart. Ein natürliches Übergewicht bekam früh die
kaiserliche Kanzlei, der sich 1470 die kursächsische anschloß. Damit war der
Grund gelegt, auf den: Luther weiterbaute. Den wesentlich oberdeutschen Land-
stand vermählte er mit seinem mitteldeutschen Wortschatz, und Nord und Süd
fügen sich dem so gewordnen Kanon. Ani 1600 ist die Schriftsprache Luthers
schon allem Herrin der litterarischen Arbeit Niederdeutschlands, um dieselbe Zeit
dringt sie in der Schweiz durch. Das katholische Oberdeutschland aber hat
sich bis gegen 1750 gesträubt, hat noch mit Gottsched einen fanatischen Kampf
gekämpft. Der modernere Streit der Schweizer mit Gottsched und die uatioual-
archaistrenden Bestrebungen der Göttinger, unterstützt von Lessing und Herder,
sind dann die letzten theoretischen Bemühungen um unsre Schriftsprache gewesen:
kampflos verwirklichten schließlich die Werke unsrer Klassiker das Ideal der
Einheit.

Zu den Kapiteln unsrer Sprachgeschichte, die den Körper der Sprache
behandeln, gehören anch eins über die Laute und eins über die Formen. Freilich
kann von einem aufzählenden Bericht über sämtliche einzelne Lautwandlungeu,
nach den Lauten geordnet, in einer Sprachgeschichte so wenig die Rede sein,
wie in einer Erdgeschichte von einer Aufzählung aller chemischen Wandlungen
der Mineralien, nach den Mineralien geordnet. Das ist Sache der historischen
Lautlehre, eines Teiles der Grammatik, Darum wird auch die vortreffliche,
knapp gefaßte und inhaltlich reiche Arbeit von Otto Behaghel, die jetzt als
Svnderabdruck aus der zweiten Auflage des Parischen Grundrisses der germa¬
nischen Philologie erschienen ist,*) doch nur zum Teil, soweit wir ihren Inhalt
in dem vorangehenden, etwas umdisponirt, schon wiedergegeben haben, mit dem
Titel einer Geschichte der deutschen Sprache getroffen. Ihren Hauptteil,
der auf das oben skizzirte folgt, bildet eine historische Grammatik der Laute und
Formen der deutschen Sprache. In den dazwischen stehenden Kapiteln vom Accent



") Straszburg, Trülmcr, 18W.
Zur äußern Geschichte unsrer Sprache

Schon die erste Blütezeit unsrer Litteratur zur Zeit der staufischen Herrscher
hat eine weitgehende Einigung erreicht. Viele niederdeutsche Dichter bemühten sich
damals, möglichst hochdeutsch zu dichten. Die oberdeutsche Verkleincruugssilbe
—un ist damals Gemeingut für die Litteratursprache aller Stämme geworden.
Aber mit dem Niedergang der Kunst lockerte sich auch diese sprachliche Einigung
wieder, die Mundarten wucherten neu empor. Da tritt die litterarische Rege¬
lung der Urkundensprache ein und schafft einen neuen gemeinsamen Boden.
Das Grenzgebiet des Fränkischen und des Alemannischen wird zur Heimat
eines weiter um sich greifenden schriftsprachlichen Typus. Auch auf niederdeutschen
Boden tritt er bald über: 1386 könne» Göttingen, Minden und Nordheim,
lauter niederdeutsche Städte, ein Bündnis abschließen, dessen Beurkundung in
hochdeutscher Sprache abgefaßt ist. Schon um 1350 verlasse» die »leisten
Kanzleien die reine Mundart. Ein natürliches Übergewicht bekam früh die
kaiserliche Kanzlei, der sich 1470 die kursächsische anschloß. Damit war der
Grund gelegt, auf den: Luther weiterbaute. Den wesentlich oberdeutschen Land-
stand vermählte er mit seinem mitteldeutschen Wortschatz, und Nord und Süd
fügen sich dem so gewordnen Kanon. Ani 1600 ist die Schriftsprache Luthers
schon allem Herrin der litterarischen Arbeit Niederdeutschlands, um dieselbe Zeit
dringt sie in der Schweiz durch. Das katholische Oberdeutschland aber hat
sich bis gegen 1750 gesträubt, hat noch mit Gottsched einen fanatischen Kampf
gekämpft. Der modernere Streit der Schweizer mit Gottsched und die uatioual-
archaistrenden Bestrebungen der Göttinger, unterstützt von Lessing und Herder,
sind dann die letzten theoretischen Bemühungen um unsre Schriftsprache gewesen:
kampflos verwirklichten schließlich die Werke unsrer Klassiker das Ideal der
Einheit.

Zu den Kapiteln unsrer Sprachgeschichte, die den Körper der Sprache
behandeln, gehören anch eins über die Laute und eins über die Formen. Freilich
kann von einem aufzählenden Bericht über sämtliche einzelne Lautwandlungeu,
nach den Lauten geordnet, in einer Sprachgeschichte so wenig die Rede sein,
wie in einer Erdgeschichte von einer Aufzählung aller chemischen Wandlungen
der Mineralien, nach den Mineralien geordnet. Das ist Sache der historischen
Lautlehre, eines Teiles der Grammatik, Darum wird auch die vortreffliche,
knapp gefaßte und inhaltlich reiche Arbeit von Otto Behaghel, die jetzt als
Svnderabdruck aus der zweiten Auflage des Parischen Grundrisses der germa¬
nischen Philologie erschienen ist,*) doch nur zum Teil, soweit wir ihren Inhalt
in dem vorangehenden, etwas umdisponirt, schon wiedergegeben haben, mit dem
Titel einer Geschichte der deutschen Sprache getroffen. Ihren Hauptteil,
der auf das oben skizzirte folgt, bildet eine historische Grammatik der Laute und
Formen der deutschen Sprache. In den dazwischen stehenden Kapiteln vom Accent



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[0715] Zur äußern Geschichte unsrer Sprache Schon die erste Blütezeit unsrer Litteratur zur Zeit der staufischen Herrscher hat eine weitgehende Einigung erreicht. Viele niederdeutsche Dichter bemühten sich damals, möglichst hochdeutsch zu dichten. Die oberdeutsche Verkleincruugssilbe —un ist damals Gemeingut für die Litteratursprache aller Stämme geworden. Aber mit dem Niedergang der Kunst lockerte sich auch diese sprachliche Einigung wieder, die Mundarten wucherten neu empor. Da tritt die litterarische Rege¬ lung der Urkundensprache ein und schafft einen neuen gemeinsamen Boden. Das Grenzgebiet des Fränkischen und des Alemannischen wird zur Heimat eines weiter um sich greifenden schriftsprachlichen Typus. Auch auf niederdeutschen Boden tritt er bald über: 1386 könne» Göttingen, Minden und Nordheim, lauter niederdeutsche Städte, ein Bündnis abschließen, dessen Beurkundung in hochdeutscher Sprache abgefaßt ist. Schon um 1350 verlasse» die »leisten Kanzleien die reine Mundart. Ein natürliches Übergewicht bekam früh die kaiserliche Kanzlei, der sich 1470 die kursächsische anschloß. Damit war der Grund gelegt, auf den: Luther weiterbaute. Den wesentlich oberdeutschen Land- stand vermählte er mit seinem mitteldeutschen Wortschatz, und Nord und Süd fügen sich dem so gewordnen Kanon. Ani 1600 ist die Schriftsprache Luthers schon allem Herrin der litterarischen Arbeit Niederdeutschlands, um dieselbe Zeit dringt sie in der Schweiz durch. Das katholische Oberdeutschland aber hat sich bis gegen 1750 gesträubt, hat noch mit Gottsched einen fanatischen Kampf gekämpft. Der modernere Streit der Schweizer mit Gottsched und die uatioual- archaistrenden Bestrebungen der Göttinger, unterstützt von Lessing und Herder, sind dann die letzten theoretischen Bemühungen um unsre Schriftsprache gewesen: kampflos verwirklichten schließlich die Werke unsrer Klassiker das Ideal der Einheit. Zu den Kapiteln unsrer Sprachgeschichte, die den Körper der Sprache behandeln, gehören anch eins über die Laute und eins über die Formen. Freilich kann von einem aufzählenden Bericht über sämtliche einzelne Lautwandlungeu, nach den Lauten geordnet, in einer Sprachgeschichte so wenig die Rede sein, wie in einer Erdgeschichte von einer Aufzählung aller chemischen Wandlungen der Mineralien, nach den Mineralien geordnet. Das ist Sache der historischen Lautlehre, eines Teiles der Grammatik, Darum wird auch die vortreffliche, knapp gefaßte und inhaltlich reiche Arbeit von Otto Behaghel, die jetzt als Svnderabdruck aus der zweiten Auflage des Parischen Grundrisses der germa¬ nischen Philologie erschienen ist,*) doch nur zum Teil, soweit wir ihren Inhalt in dem vorangehenden, etwas umdisponirt, schon wiedergegeben haben, mit dem Titel einer Geschichte der deutschen Sprache getroffen. Ihren Hauptteil, der auf das oben skizzirte folgt, bildet eine historische Grammatik der Laute und Formen der deutschen Sprache. In den dazwischen stehenden Kapiteln vom Accent ") Straszburg, Trülmcr, 18W.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/715>, abgerufen am 12.12.2024.