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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Line Schulrede am Sedantage zu Bismarcks Gedächtnis

dagegen sagt: Das ist Sozialismus, so scheue ich das gar nicht. Es fragt
sich (nur): Wo liegt die erlaubte Grenze des Staatssozialismus?" Und wie
er nun mit seiner Sozialreform ein Werk von einer menschenfreundlichen
Kühnheit unternahm, wie es noch nirgends vorher oder nachher gewagt
worden ist, so suchte er zugleich das wirtschaftliche Leben der Nation auf
eine breitere und freiere Grundlage zu stellen, in beständigem Kampfe mit
jener stumpfsinnigen Binnenpolitik und jenem unbelehrbarer Doktrinarismus,
die aus einer kläglichen, kleinlichen Zeit herüberragten und leider noch immer
herüberragen in die neue große Zeit. Als die Anfänge seiner Kolonialpolitik
mit dem Hinweis auf das "Übelwollen andrer Staaten" und auf die "Nasen¬
stüber," die Deutschland dabei bekommen könne, bekämpft wurde, da er¬
widerte er am 26. Juni 1884 stolz: "Ich muß sagen, daß ich als der erste
Kanzler des neugeschaffnem Reichs doch eine gewisse Schüchternheit empfand,
eine Abneigung, mich so auszusprechen, und selbst, wenn ich an diese unsre
Schwäche und Unfähigkeit geglaubt hätte, ich würde mich geniert haben, den
Hilfesuchenden offen zu sagen: Wir sind zu arm, wir sind zu schwach, wir
sind zu furchtsam, für euern Anschluß an das Reich Hilfe zu gewähren. Ich
habe nicht den Mut gehabt, diese Bankrotterklärung der deutschen Nation
auf überseeische Unternehmungen den Unternehmern gegenüber auszusprechen."

Es ist ihm nach langen, ermüdenden Kämpfen noch beschieden gewesen,
wenige Wochen, ehe Kaiser Wilhelm I. ihn verließ, am 6. Februar 1888, noch
einmal in gewaltiger Rede für die Verstärkung der Wehrkraft des Reichs
gegenüber den drohenden Rüstungen unsrer Nachbarn im Osten und Westen
den ganzen deutschen Reichstag zu einmütigem Beschlusse mit fortzureißen.
In großen Zügen führte er da die Geschichte unsrer auswärtigen Beziehungen
seit 1848 vor, wie nur er es konnte, und wie Posaunenhall klangen seine
Schlußworte: "Wir können durch Liebe und Wohlwollen leicht bestochen
werden -- vielleicht zu leicht --, aber durch Drohungen ganz gewiß nicht!
Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt!" Ein Jubel¬
sturm durchbrauste das Haus, und draußen auf der Leipziger Straße vor dem
Reichstagshause drängten sich Tausende Kopf an Kopf, um ihn zu erwarten:


Und nun trat er heraus! Da stand er hoch,
Ein Hünenbild im Thor des Sprecherhauses,
Und blickte staunend auf die Menge hin.
Denn wie ein Wirbelsturm ins Meer hineinführt.
Die Wellen wütend durch einander wirft,
Daß sich die Wogenknmme wechselflutend
Zerbrechen, also wälzte sich im Jubel
Zu Tausenden das Volk dem Mann entgegen.
Zur Mauer ineinander eingekeilt,
Die breite Straße gänzlich überschwemmend,
So stürzte ihm der Bürger, der Soldat,

Line Schulrede am Sedantage zu Bismarcks Gedächtnis

dagegen sagt: Das ist Sozialismus, so scheue ich das gar nicht. Es fragt
sich (nur): Wo liegt die erlaubte Grenze des Staatssozialismus?" Und wie
er nun mit seiner Sozialreform ein Werk von einer menschenfreundlichen
Kühnheit unternahm, wie es noch nirgends vorher oder nachher gewagt
worden ist, so suchte er zugleich das wirtschaftliche Leben der Nation auf
eine breitere und freiere Grundlage zu stellen, in beständigem Kampfe mit
jener stumpfsinnigen Binnenpolitik und jenem unbelehrbarer Doktrinarismus,
die aus einer kläglichen, kleinlichen Zeit herüberragten und leider noch immer
herüberragen in die neue große Zeit. Als die Anfänge seiner Kolonialpolitik
mit dem Hinweis auf das „Übelwollen andrer Staaten" und auf die „Nasen¬
stüber," die Deutschland dabei bekommen könne, bekämpft wurde, da er¬
widerte er am 26. Juni 1884 stolz: „Ich muß sagen, daß ich als der erste
Kanzler des neugeschaffnem Reichs doch eine gewisse Schüchternheit empfand,
eine Abneigung, mich so auszusprechen, und selbst, wenn ich an diese unsre
Schwäche und Unfähigkeit geglaubt hätte, ich würde mich geniert haben, den
Hilfesuchenden offen zu sagen: Wir sind zu arm, wir sind zu schwach, wir
sind zu furchtsam, für euern Anschluß an das Reich Hilfe zu gewähren. Ich
habe nicht den Mut gehabt, diese Bankrotterklärung der deutschen Nation
auf überseeische Unternehmungen den Unternehmern gegenüber auszusprechen."

Es ist ihm nach langen, ermüdenden Kämpfen noch beschieden gewesen,
wenige Wochen, ehe Kaiser Wilhelm I. ihn verließ, am 6. Februar 1888, noch
einmal in gewaltiger Rede für die Verstärkung der Wehrkraft des Reichs
gegenüber den drohenden Rüstungen unsrer Nachbarn im Osten und Westen
den ganzen deutschen Reichstag zu einmütigem Beschlusse mit fortzureißen.
In großen Zügen führte er da die Geschichte unsrer auswärtigen Beziehungen
seit 1848 vor, wie nur er es konnte, und wie Posaunenhall klangen seine
Schlußworte: „Wir können durch Liebe und Wohlwollen leicht bestochen
werden — vielleicht zu leicht —, aber durch Drohungen ganz gewiß nicht!
Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt!" Ein Jubel¬
sturm durchbrauste das Haus, und draußen auf der Leipziger Straße vor dem
Reichstagshause drängten sich Tausende Kopf an Kopf, um ihn zu erwarten:


Und nun trat er heraus! Da stand er hoch,
Ein Hünenbild im Thor des Sprecherhauses,
Und blickte staunend auf die Menge hin.
Denn wie ein Wirbelsturm ins Meer hineinführt.
Die Wellen wütend durch einander wirft,
Daß sich die Wogenknmme wechselflutend
Zerbrechen, also wälzte sich im Jubel
Zu Tausenden das Volk dem Mann entgegen.
Zur Mauer ineinander eingekeilt,
Die breite Straße gänzlich überschwemmend,
So stürzte ihm der Bürger, der Soldat,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/687>, abgerufen am 24.07.2024.