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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Die Interessengemeinschaft zwischen Agnnier" und Arbeitern

gefallen uns nicht. In der Vertretung von andern Interessen, die denen des
Händlertnms in mancher Hinsicht geradezu entgegengesetzt waren, sah sie ein
moralisch minderwertiges Verhalten, eine schmachvolle "Interessenpolitik" gegen¬
über der allein vom "Gemeinwohl" diktirten Politik der Händler. Und als
dann durch eine Koalition von Industrie und Landwirtschaft der Zolltarif von
1879 zu stände kam, da konnte sich der Händlerpatriot nicht genug darüber
entrüsten, daß die "Sonderinteressen" von etwa vierundvierzig Millionen Volks¬
genossen in schändlicher Weise gesiegt hatten gegen die "allgemeinen Interessen"
der etwa sechs Millionen Händler und solcher Leute, die zufällig in dieser
Hinsicht parallele Interessen hatten." Das Bild, das dieser Spiegel zurück¬
wirft, ist scharf und getreu und hat doch die Häßlichkeit des Zerrbildes, aber
ist das die Schuld des Spiegels und dessen, der ihn vorhält? Ist es nicht
vielmehr ein Verdienst? So sei denn auch noch ein besonders kräftiger Trumpf,
den der Verfasser an dieser Stelle seiner Schrift aufsetzt, wörtlich mitgeteilt:
"Das -- die Manipulationen nämlich in Handel und Wandel -- liegt nun
einmal in unsern Einrichtungen, und deshalb darf man den Händlern einen
moralischen Vorwurf daraus nicht machen. Wohl aber kann man ihnen, wenn
sie in dem "Brustton der Überzeugung" von "allgemeinen Interessen" zu reden
anfangen, in aller Gemütsruhe antworten: Ihr könnt uns allenfalls Margarine
als Butter aufhängen und Ziegelmehl als Zimt, aber nicht euer Profit¬
interesse als "Gemeinwohl." Darüber haben wir unser eignes Urteil." Daber
ist er dem Handel und dem Kapital keineswegs feindlich gesinnt. Wenn er
sie in die durch das Gedeihen der andern Zweige der Volkswirtschaft geforderten
Schranken zurückweist, so will er dafür sie. und nicht weniger die Exportindustrie,
i" dem ihnen zustehenden Gebiete geschützt und gefördert wissen. Er verlangt
deshalb und wegen der Weltmachtstellung Deutschlands, daß eine Flotte ersten
Ranges geschaffen werde: "Das kommende Jahrhundert bringt die endgiltige
Verteilung der Erde; wir dürfen dabei nicht leer ausgehen, weil unser Heimat¬
land nur noch wenige Jahrzehnte für unser Volk genügt, wir werden aber
leer ausgehen, wenn wir nicht England gewachsen, ja überlegen sind." Und
dabei wurde auch das Kapital wohl fahren, das bei dem jetzigen Zustande
"schließlich mit dem Gelde doch nichts andres anzufangen weiß, als es in
portugiesische, griechische oder südamerikanische Brunnen zu werfen." Den
industriellen Unternehmern insbesondre will er zwar einesteils zu Gunsten der
Arbeiter von Staats wegen Opfer auferlegen, aber auch nötigenfalls direkte
Staatsunterstützungen zuwenden.

Diese Ausführungen geben nur einen Teil des Gedankenreichtums wieder,
der die Ottosche Schrift auszeichnet. Dieser Reichtum ist sehr groß, und wir
kennen keine moderne Schrift, die in diesem Betracht auf gleichem Raume mehr
böte, aber der Leser wird durch den Reichtum nicht zerstreut oder von dem
Wege, auf dem ihn der Verfasser führen will, abgelenkt. Denn der Verfasser


Die Interessengemeinschaft zwischen Agnnier» und Arbeitern

gefallen uns nicht. In der Vertretung von andern Interessen, die denen des
Händlertnms in mancher Hinsicht geradezu entgegengesetzt waren, sah sie ein
moralisch minderwertiges Verhalten, eine schmachvolle »Interessenpolitik« gegen¬
über der allein vom »Gemeinwohl« diktirten Politik der Händler. Und als
dann durch eine Koalition von Industrie und Landwirtschaft der Zolltarif von
1879 zu stände kam, da konnte sich der Händlerpatriot nicht genug darüber
entrüsten, daß die »Sonderinteressen« von etwa vierundvierzig Millionen Volks¬
genossen in schändlicher Weise gesiegt hatten gegen die »allgemeinen Interessen«
der etwa sechs Millionen Händler und solcher Leute, die zufällig in dieser
Hinsicht parallele Interessen hatten." Das Bild, das dieser Spiegel zurück¬
wirft, ist scharf und getreu und hat doch die Häßlichkeit des Zerrbildes, aber
ist das die Schuld des Spiegels und dessen, der ihn vorhält? Ist es nicht
vielmehr ein Verdienst? So sei denn auch noch ein besonders kräftiger Trumpf,
den der Verfasser an dieser Stelle seiner Schrift aufsetzt, wörtlich mitgeteilt:
„Das — die Manipulationen nämlich in Handel und Wandel — liegt nun
einmal in unsern Einrichtungen, und deshalb darf man den Händlern einen
moralischen Vorwurf daraus nicht machen. Wohl aber kann man ihnen, wenn
sie in dem »Brustton der Überzeugung« von »allgemeinen Interessen« zu reden
anfangen, in aller Gemütsruhe antworten: Ihr könnt uns allenfalls Margarine
als Butter aufhängen und Ziegelmehl als Zimt, aber nicht euer Profit¬
interesse als »Gemeinwohl.« Darüber haben wir unser eignes Urteil." Daber
ist er dem Handel und dem Kapital keineswegs feindlich gesinnt. Wenn er
sie in die durch das Gedeihen der andern Zweige der Volkswirtschaft geforderten
Schranken zurückweist, so will er dafür sie. und nicht weniger die Exportindustrie,
i» dem ihnen zustehenden Gebiete geschützt und gefördert wissen. Er verlangt
deshalb und wegen der Weltmachtstellung Deutschlands, daß eine Flotte ersten
Ranges geschaffen werde: „Das kommende Jahrhundert bringt die endgiltige
Verteilung der Erde; wir dürfen dabei nicht leer ausgehen, weil unser Heimat¬
land nur noch wenige Jahrzehnte für unser Volk genügt, wir werden aber
leer ausgehen, wenn wir nicht England gewachsen, ja überlegen sind." Und
dabei wurde auch das Kapital wohl fahren, das bei dem jetzigen Zustande
»schließlich mit dem Gelde doch nichts andres anzufangen weiß, als es in
portugiesische, griechische oder südamerikanische Brunnen zu werfen." Den
industriellen Unternehmern insbesondre will er zwar einesteils zu Gunsten der
Arbeiter von Staats wegen Opfer auferlegen, aber auch nötigenfalls direkte
Staatsunterstützungen zuwenden.

Diese Ausführungen geben nur einen Teil des Gedankenreichtums wieder,
der die Ottosche Schrift auszeichnet. Dieser Reichtum ist sehr groß, und wir
kennen keine moderne Schrift, die in diesem Betracht auf gleichem Raume mehr
böte, aber der Leser wird durch den Reichtum nicht zerstreut oder von dem
Wege, auf dem ihn der Verfasser führen will, abgelenkt. Denn der Verfasser


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[0630] Die Interessengemeinschaft zwischen Agnnier» und Arbeitern gefallen uns nicht. In der Vertretung von andern Interessen, die denen des Händlertnms in mancher Hinsicht geradezu entgegengesetzt waren, sah sie ein moralisch minderwertiges Verhalten, eine schmachvolle »Interessenpolitik« gegen¬ über der allein vom »Gemeinwohl« diktirten Politik der Händler. Und als dann durch eine Koalition von Industrie und Landwirtschaft der Zolltarif von 1879 zu stände kam, da konnte sich der Händlerpatriot nicht genug darüber entrüsten, daß die »Sonderinteressen« von etwa vierundvierzig Millionen Volks¬ genossen in schändlicher Weise gesiegt hatten gegen die »allgemeinen Interessen« der etwa sechs Millionen Händler und solcher Leute, die zufällig in dieser Hinsicht parallele Interessen hatten." Das Bild, das dieser Spiegel zurück¬ wirft, ist scharf und getreu und hat doch die Häßlichkeit des Zerrbildes, aber ist das die Schuld des Spiegels und dessen, der ihn vorhält? Ist es nicht vielmehr ein Verdienst? So sei denn auch noch ein besonders kräftiger Trumpf, den der Verfasser an dieser Stelle seiner Schrift aufsetzt, wörtlich mitgeteilt: „Das — die Manipulationen nämlich in Handel und Wandel — liegt nun einmal in unsern Einrichtungen, und deshalb darf man den Händlern einen moralischen Vorwurf daraus nicht machen. Wohl aber kann man ihnen, wenn sie in dem »Brustton der Überzeugung« von »allgemeinen Interessen« zu reden anfangen, in aller Gemütsruhe antworten: Ihr könnt uns allenfalls Margarine als Butter aufhängen und Ziegelmehl als Zimt, aber nicht euer Profit¬ interesse als »Gemeinwohl.« Darüber haben wir unser eignes Urteil." Daber ist er dem Handel und dem Kapital keineswegs feindlich gesinnt. Wenn er sie in die durch das Gedeihen der andern Zweige der Volkswirtschaft geforderten Schranken zurückweist, so will er dafür sie. und nicht weniger die Exportindustrie, i» dem ihnen zustehenden Gebiete geschützt und gefördert wissen. Er verlangt deshalb und wegen der Weltmachtstellung Deutschlands, daß eine Flotte ersten Ranges geschaffen werde: „Das kommende Jahrhundert bringt die endgiltige Verteilung der Erde; wir dürfen dabei nicht leer ausgehen, weil unser Heimat¬ land nur noch wenige Jahrzehnte für unser Volk genügt, wir werden aber leer ausgehen, wenn wir nicht England gewachsen, ja überlegen sind." Und dabei wurde auch das Kapital wohl fahren, das bei dem jetzigen Zustande »schließlich mit dem Gelde doch nichts andres anzufangen weiß, als es in portugiesische, griechische oder südamerikanische Brunnen zu werfen." Den industriellen Unternehmern insbesondre will er zwar einesteils zu Gunsten der Arbeiter von Staats wegen Opfer auferlegen, aber auch nötigenfalls direkte Staatsunterstützungen zuwenden. Diese Ausführungen geben nur einen Teil des Gedankenreichtums wieder, der die Ottosche Schrift auszeichnet. Dieser Reichtum ist sehr groß, und wir kennen keine moderne Schrift, die in diesem Betracht auf gleichem Raume mehr böte, aber der Leser wird durch den Reichtum nicht zerstreut oder von dem Wege, auf dem ihn der Verfasser führen will, abgelenkt. Denn der Verfasser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/630>, abgerufen am 24.07.2024.