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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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August Strindbergs Inferno

jedenfalls als eine kunstvolle und wohl erwogne Episode zu betrachten, durch
die Strindberg in halb dichterischer, halb wissenschaftlicher Weise seine okkul¬
tistischen Welt- und Lebensanschauungen stützen will.

Ein neues Licht bringt das nächste Kapitel in unser Buch: die dämonischen
Einwirkungen und die bösen Gedanken, die Strindbergs Fall und den Verlust
seines Paradieses herbeiführen. Eine übermäßige Sehnsucht nach seiner Gattin
flößt ihm nämlich den unglücklichen Wunsch ein, daß seine kleine Christine in
Österreich leicht erkranken möge, damit man ihn telegraphisch hinrufen könne
(S. 68). Erst längere Zeit später (im Frühling des nächsten Jahres), als
er einen Brief von seinen Kindern erster Ehe erhält, worin sie ihm eine endlich
überwundne schwere Erkrankung mitteilen, wird sich seine mystische Kombina¬
tionsgabe bewußt, daß er mit seinem bösen Wunsche diese Kinder getroffen
hat. Denn inzwischen haben ihn schon viele Leiden gequält: sein unbekannter
Freund, der ihn bis dahin unterstützt hatte, hat sich von ihm zurückgezogen,
weil Strindberg ihm einen anmaßenden Brief geschrieben hat; gleich darauf
wird ihm seine Hotelrechnung überreicht, und in drei benachbarten Zimmern
wird plötzlich Klavier gespielt(!). Das wahre Fegefeuer beginnt aber erst mit
seinem Umzug (Kapitel 5), denn er gerät im Hotel Orfelici in die schon lange
vor ihm durch Svedenborg entdeckte "Kothvlle," insofern als sich überall in
der Ausblickweite seines neuen Zimmers -- Abtritte befinden! Andre vermeint¬
liche Wirren und Strafen, z. B. Strindbergs Freundschaftsuöte müssen wir
übergehen: es bedarf da einer schärfern mystischen Lupe, als wir sie haben,
um namentlich in dem Fall seines amerikanischen Freundes, vou dem sich der
Dichter wohl ziemlich gegen seine sonstigen Gewohnheiten sanft und friedlich
trennt, eine wesentliche und wirkliche Bestrafung zu sehen. Nach einem kleinen
Rückfall Strindbergs in die experimentelle Wissenschaft treten wir dann endlich
S. 30 nicht in das Kapitel, aber in den Bereich der Visionen ein. Diese sind
vorläufig noch harmlos und beschränken sich darauf, daß der Dichter in seinem
dnrch den Mittagsschlaf zerdrückten Kopfkissen in der Abendbeleuchtung alle mög¬
lichen Gestalten erblickt, z. B. einen Marmorkopf im Stile Michel Angelos, dann
aber entsetzliche Ungetüme, gotische Drachen, Lindwurme und schließlich gar
den Teufel selber "mit Faunskopf und sonstigem Zubehör" (S. 91). Auch
wunderbare Träume stellen sich ein; so sieht er z. B. eines Nachts den
norwegischen Dichter Jonas Lie mit einer vergoldeten Vronzependule voll
seltsamer Zierate vor sich stehen und nimmt dieselbe Uhr dann einige Tage
später auf dem Boulevard Se. Michel in dem Schaufenster eines Uhrmacher¬
ladens wahr (S. 94)!

Viel schlimmer als all das ist es aber, daß sein früherer Schüler und
Famulus Popoffsth nach Paris gekommen sein soll; denn er hat einen töd¬
lichen Haß auf seinen ehemaligen Meister geworfen, seitdem er erfahren hat,
daß seine Frau Striudbergs frühere Geliebte gewesen ist. Wir wollen indessen


August Strindbergs Inferno

jedenfalls als eine kunstvolle und wohl erwogne Episode zu betrachten, durch
die Strindberg in halb dichterischer, halb wissenschaftlicher Weise seine okkul¬
tistischen Welt- und Lebensanschauungen stützen will.

Ein neues Licht bringt das nächste Kapitel in unser Buch: die dämonischen
Einwirkungen und die bösen Gedanken, die Strindbergs Fall und den Verlust
seines Paradieses herbeiführen. Eine übermäßige Sehnsucht nach seiner Gattin
flößt ihm nämlich den unglücklichen Wunsch ein, daß seine kleine Christine in
Österreich leicht erkranken möge, damit man ihn telegraphisch hinrufen könne
(S. 68). Erst längere Zeit später (im Frühling des nächsten Jahres), als
er einen Brief von seinen Kindern erster Ehe erhält, worin sie ihm eine endlich
überwundne schwere Erkrankung mitteilen, wird sich seine mystische Kombina¬
tionsgabe bewußt, daß er mit seinem bösen Wunsche diese Kinder getroffen
hat. Denn inzwischen haben ihn schon viele Leiden gequält: sein unbekannter
Freund, der ihn bis dahin unterstützt hatte, hat sich von ihm zurückgezogen,
weil Strindberg ihm einen anmaßenden Brief geschrieben hat; gleich darauf
wird ihm seine Hotelrechnung überreicht, und in drei benachbarten Zimmern
wird plötzlich Klavier gespielt(!). Das wahre Fegefeuer beginnt aber erst mit
seinem Umzug (Kapitel 5), denn er gerät im Hotel Orfelici in die schon lange
vor ihm durch Svedenborg entdeckte „Kothvlle," insofern als sich überall in
der Ausblickweite seines neuen Zimmers — Abtritte befinden! Andre vermeint¬
liche Wirren und Strafen, z. B. Strindbergs Freundschaftsuöte müssen wir
übergehen: es bedarf da einer schärfern mystischen Lupe, als wir sie haben,
um namentlich in dem Fall seines amerikanischen Freundes, vou dem sich der
Dichter wohl ziemlich gegen seine sonstigen Gewohnheiten sanft und friedlich
trennt, eine wesentliche und wirkliche Bestrafung zu sehen. Nach einem kleinen
Rückfall Strindbergs in die experimentelle Wissenschaft treten wir dann endlich
S. 30 nicht in das Kapitel, aber in den Bereich der Visionen ein. Diese sind
vorläufig noch harmlos und beschränken sich darauf, daß der Dichter in seinem
dnrch den Mittagsschlaf zerdrückten Kopfkissen in der Abendbeleuchtung alle mög¬
lichen Gestalten erblickt, z. B. einen Marmorkopf im Stile Michel Angelos, dann
aber entsetzliche Ungetüme, gotische Drachen, Lindwurme und schließlich gar
den Teufel selber „mit Faunskopf und sonstigem Zubehör" (S. 91). Auch
wunderbare Träume stellen sich ein; so sieht er z. B. eines Nachts den
norwegischen Dichter Jonas Lie mit einer vergoldeten Vronzependule voll
seltsamer Zierate vor sich stehen und nimmt dieselbe Uhr dann einige Tage
später auf dem Boulevard Se. Michel in dem Schaufenster eines Uhrmacher¬
ladens wahr (S. 94)!

Viel schlimmer als all das ist es aber, daß sein früherer Schüler und
Famulus Popoffsth nach Paris gekommen sein soll; denn er hat einen töd¬
lichen Haß auf seinen ehemaligen Meister geworfen, seitdem er erfahren hat,
daß seine Frau Striudbergs frühere Geliebte gewesen ist. Wir wollen indessen


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[0597] August Strindbergs Inferno jedenfalls als eine kunstvolle und wohl erwogne Episode zu betrachten, durch die Strindberg in halb dichterischer, halb wissenschaftlicher Weise seine okkul¬ tistischen Welt- und Lebensanschauungen stützen will. Ein neues Licht bringt das nächste Kapitel in unser Buch: die dämonischen Einwirkungen und die bösen Gedanken, die Strindbergs Fall und den Verlust seines Paradieses herbeiführen. Eine übermäßige Sehnsucht nach seiner Gattin flößt ihm nämlich den unglücklichen Wunsch ein, daß seine kleine Christine in Österreich leicht erkranken möge, damit man ihn telegraphisch hinrufen könne (S. 68). Erst längere Zeit später (im Frühling des nächsten Jahres), als er einen Brief von seinen Kindern erster Ehe erhält, worin sie ihm eine endlich überwundne schwere Erkrankung mitteilen, wird sich seine mystische Kombina¬ tionsgabe bewußt, daß er mit seinem bösen Wunsche diese Kinder getroffen hat. Denn inzwischen haben ihn schon viele Leiden gequält: sein unbekannter Freund, der ihn bis dahin unterstützt hatte, hat sich von ihm zurückgezogen, weil Strindberg ihm einen anmaßenden Brief geschrieben hat; gleich darauf wird ihm seine Hotelrechnung überreicht, und in drei benachbarten Zimmern wird plötzlich Klavier gespielt(!). Das wahre Fegefeuer beginnt aber erst mit seinem Umzug (Kapitel 5), denn er gerät im Hotel Orfelici in die schon lange vor ihm durch Svedenborg entdeckte „Kothvlle," insofern als sich überall in der Ausblickweite seines neuen Zimmers — Abtritte befinden! Andre vermeint¬ liche Wirren und Strafen, z. B. Strindbergs Freundschaftsuöte müssen wir übergehen: es bedarf da einer schärfern mystischen Lupe, als wir sie haben, um namentlich in dem Fall seines amerikanischen Freundes, vou dem sich der Dichter wohl ziemlich gegen seine sonstigen Gewohnheiten sanft und friedlich trennt, eine wesentliche und wirkliche Bestrafung zu sehen. Nach einem kleinen Rückfall Strindbergs in die experimentelle Wissenschaft treten wir dann endlich S. 30 nicht in das Kapitel, aber in den Bereich der Visionen ein. Diese sind vorläufig noch harmlos und beschränken sich darauf, daß der Dichter in seinem dnrch den Mittagsschlaf zerdrückten Kopfkissen in der Abendbeleuchtung alle mög¬ lichen Gestalten erblickt, z. B. einen Marmorkopf im Stile Michel Angelos, dann aber entsetzliche Ungetüme, gotische Drachen, Lindwurme und schließlich gar den Teufel selber „mit Faunskopf und sonstigem Zubehör" (S. 91). Auch wunderbare Träume stellen sich ein; so sieht er z. B. eines Nachts den norwegischen Dichter Jonas Lie mit einer vergoldeten Vronzependule voll seltsamer Zierate vor sich stehen und nimmt dieselbe Uhr dann einige Tage später auf dem Boulevard Se. Michel in dem Schaufenster eines Uhrmacher¬ ladens wahr (S. 94)! Viel schlimmer als all das ist es aber, daß sein früherer Schüler und Famulus Popoffsth nach Paris gekommen sein soll; denn er hat einen töd¬ lichen Haß auf seinen ehemaligen Meister geworfen, seitdem er erfahren hat, daß seine Frau Striudbergs frühere Geliebte gewesen ist. Wir wollen indessen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/597>, abgerufen am 04.07.2024.