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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Märchenhafte Romane

ihres heimatlichen Volkstums kannten, des von Deutschen und Dänen be¬
wohnten, gemischten nordschleswigschen Sprachgebiets, hat diesmal in einem
mehr ausgeführten Roman: Auf der Heide (Leipzig, Grunow) ein jütlän-
disches Gesellschaftsbild aus der Zeit der Schlacht bei Jdstedt gegeben. Die
Handelnden sind meist Dänen, ein gräflicher Gutsbesitzer, wohlhabende Bauern,
Krugwirte, Knechte und Mügde, einzelne Deutsche kommen vor, und politischer
Gegensatz wirkt mit als treibende Kraft der Handlung. Die Figuren haben
zwar Ähnlichkeit mit den frühern der Erzählerin, aber sie sind fast durchweg
feiner gezeichnet, sie sind zum Teil zart, weich, sympathisch, und die derben
Gestalten, die sonst bei ihr vorherrschen, sind hier in der Minderzahl. Ich
habe noch keine Erzählung Charlotte Rieses gelesen, die mich so angesprochen
Hütte. So viel Stimmung und Poesie hatten ihre frühern Bücher nicht. In
dem verfallnen Schloßgarten von Trolleborg webt ein Zauber von Erinnerung
und Vergangenheit, wie wir ihn kürzlich in Sophus Bauditzens Wildmoor¬
prinzeß kennen gelernt haben. Dabei bleibt die volksmäßige Realistik, worin
die Verfasserin Meister ist, da wo sie hingehört, z. B. wenn der alte Knecht
von Kamphof, der seinen Herrn zum Grafen Troile fahren soll, als der Hund
mit in den Wagen springt, würdevoll sagt: "Er hat keinen Respekt. Neulich
wollte er auch in den Wagen, als wir in die Kirche fuhren, aber das war
noch nicht einmal so schlimm. Denn Gottes Wort ist an manchen Stellen
fürs Vieh bestimmt. Aber bei einem wirklichen Grafen ist für einen gemeinen
Hund nichts zu holen." Die kritischen Beurteiler, denen diese Wendung in
Charlotte Rieses Schriftstellerin nicht entgehen konnte, standen ihr zum Teil
einigermaßen fassungslos gegenüber und suchten ihrer Verlegenheit durch
Schlagworte wie Phantastik und dergleichen in den Bügel zu helfen, einige
auch mit dem Bekenntnis, daß sie den frühern Erzählungen den Vorzug gäben.
Der Grund lag darin, daß die Verfasserin in ihre Geschichte eine Ahnfrau und
einen vergrabnen Familicnschatz, der ganz zuletzt gehoben wird, verflochten hat.
Dieses mystische Element ist aber sehr geschickt verarbeitet, sodaß die Einheit¬
lichkeit des Milieus nirgends gestört wird, vielleicht hat dieser Bestandteil die
Verfasserin unbewußt veranlaßt, das Übrige zu heben und das Ganze etwas
zu idealisiren. Ich meine darum, daß in diesem Roman ein glücklicher Fort¬
schritt zu einer der Verfasserin neuen Gattung ausgesprochen liegt, und so
schöne und durchgeführte Charaktere, wie Frau Svenstrup, Hans Christian
oder die Gräfin Troile geborne Reventlow haben wir noch nicht von ihr be¬
kommen. Die vielfach an das märchenhafte anklingende Ausmalung paßt aber
zu dem Ganzen sehr gut.

Ein eigentümliches Buch ist Der Henker von Nauplia von Johann
Christoph Werner (Leipzig, Dieterich). Diese Erzählung aus dem neu¬
griechischen Volksleben ist auf einen wirklichen Boden verlegt, aber die Aus¬
führung ist durchweg phantastisch, und das Einzelne entfernt sich vielfach in


Märchenhafte Romane

ihres heimatlichen Volkstums kannten, des von Deutschen und Dänen be¬
wohnten, gemischten nordschleswigschen Sprachgebiets, hat diesmal in einem
mehr ausgeführten Roman: Auf der Heide (Leipzig, Grunow) ein jütlän-
disches Gesellschaftsbild aus der Zeit der Schlacht bei Jdstedt gegeben. Die
Handelnden sind meist Dänen, ein gräflicher Gutsbesitzer, wohlhabende Bauern,
Krugwirte, Knechte und Mügde, einzelne Deutsche kommen vor, und politischer
Gegensatz wirkt mit als treibende Kraft der Handlung. Die Figuren haben
zwar Ähnlichkeit mit den frühern der Erzählerin, aber sie sind fast durchweg
feiner gezeichnet, sie sind zum Teil zart, weich, sympathisch, und die derben
Gestalten, die sonst bei ihr vorherrschen, sind hier in der Minderzahl. Ich
habe noch keine Erzählung Charlotte Rieses gelesen, die mich so angesprochen
Hütte. So viel Stimmung und Poesie hatten ihre frühern Bücher nicht. In
dem verfallnen Schloßgarten von Trolleborg webt ein Zauber von Erinnerung
und Vergangenheit, wie wir ihn kürzlich in Sophus Bauditzens Wildmoor¬
prinzeß kennen gelernt haben. Dabei bleibt die volksmäßige Realistik, worin
die Verfasserin Meister ist, da wo sie hingehört, z. B. wenn der alte Knecht
von Kamphof, der seinen Herrn zum Grafen Troile fahren soll, als der Hund
mit in den Wagen springt, würdevoll sagt: „Er hat keinen Respekt. Neulich
wollte er auch in den Wagen, als wir in die Kirche fuhren, aber das war
noch nicht einmal so schlimm. Denn Gottes Wort ist an manchen Stellen
fürs Vieh bestimmt. Aber bei einem wirklichen Grafen ist für einen gemeinen
Hund nichts zu holen." Die kritischen Beurteiler, denen diese Wendung in
Charlotte Rieses Schriftstellerin nicht entgehen konnte, standen ihr zum Teil
einigermaßen fassungslos gegenüber und suchten ihrer Verlegenheit durch
Schlagworte wie Phantastik und dergleichen in den Bügel zu helfen, einige
auch mit dem Bekenntnis, daß sie den frühern Erzählungen den Vorzug gäben.
Der Grund lag darin, daß die Verfasserin in ihre Geschichte eine Ahnfrau und
einen vergrabnen Familicnschatz, der ganz zuletzt gehoben wird, verflochten hat.
Dieses mystische Element ist aber sehr geschickt verarbeitet, sodaß die Einheit¬
lichkeit des Milieus nirgends gestört wird, vielleicht hat dieser Bestandteil die
Verfasserin unbewußt veranlaßt, das Übrige zu heben und das Ganze etwas
zu idealisiren. Ich meine darum, daß in diesem Roman ein glücklicher Fort¬
schritt zu einer der Verfasserin neuen Gattung ausgesprochen liegt, und so
schöne und durchgeführte Charaktere, wie Frau Svenstrup, Hans Christian
oder die Gräfin Troile geborne Reventlow haben wir noch nicht von ihr be¬
kommen. Die vielfach an das märchenhafte anklingende Ausmalung paßt aber
zu dem Ganzen sehr gut.

Ein eigentümliches Buch ist Der Henker von Nauplia von Johann
Christoph Werner (Leipzig, Dieterich). Diese Erzählung aus dem neu¬
griechischen Volksleben ist auf einen wirklichen Boden verlegt, aber die Aus¬
führung ist durchweg phantastisch, und das Einzelne entfernt sich vielfach in


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[0056] Märchenhafte Romane ihres heimatlichen Volkstums kannten, des von Deutschen und Dänen be¬ wohnten, gemischten nordschleswigschen Sprachgebiets, hat diesmal in einem mehr ausgeführten Roman: Auf der Heide (Leipzig, Grunow) ein jütlän- disches Gesellschaftsbild aus der Zeit der Schlacht bei Jdstedt gegeben. Die Handelnden sind meist Dänen, ein gräflicher Gutsbesitzer, wohlhabende Bauern, Krugwirte, Knechte und Mügde, einzelne Deutsche kommen vor, und politischer Gegensatz wirkt mit als treibende Kraft der Handlung. Die Figuren haben zwar Ähnlichkeit mit den frühern der Erzählerin, aber sie sind fast durchweg feiner gezeichnet, sie sind zum Teil zart, weich, sympathisch, und die derben Gestalten, die sonst bei ihr vorherrschen, sind hier in der Minderzahl. Ich habe noch keine Erzählung Charlotte Rieses gelesen, die mich so angesprochen Hütte. So viel Stimmung und Poesie hatten ihre frühern Bücher nicht. In dem verfallnen Schloßgarten von Trolleborg webt ein Zauber von Erinnerung und Vergangenheit, wie wir ihn kürzlich in Sophus Bauditzens Wildmoor¬ prinzeß kennen gelernt haben. Dabei bleibt die volksmäßige Realistik, worin die Verfasserin Meister ist, da wo sie hingehört, z. B. wenn der alte Knecht von Kamphof, der seinen Herrn zum Grafen Troile fahren soll, als der Hund mit in den Wagen springt, würdevoll sagt: „Er hat keinen Respekt. Neulich wollte er auch in den Wagen, als wir in die Kirche fuhren, aber das war noch nicht einmal so schlimm. Denn Gottes Wort ist an manchen Stellen fürs Vieh bestimmt. Aber bei einem wirklichen Grafen ist für einen gemeinen Hund nichts zu holen." Die kritischen Beurteiler, denen diese Wendung in Charlotte Rieses Schriftstellerin nicht entgehen konnte, standen ihr zum Teil einigermaßen fassungslos gegenüber und suchten ihrer Verlegenheit durch Schlagworte wie Phantastik und dergleichen in den Bügel zu helfen, einige auch mit dem Bekenntnis, daß sie den frühern Erzählungen den Vorzug gäben. Der Grund lag darin, daß die Verfasserin in ihre Geschichte eine Ahnfrau und einen vergrabnen Familicnschatz, der ganz zuletzt gehoben wird, verflochten hat. Dieses mystische Element ist aber sehr geschickt verarbeitet, sodaß die Einheit¬ lichkeit des Milieus nirgends gestört wird, vielleicht hat dieser Bestandteil die Verfasserin unbewußt veranlaßt, das Übrige zu heben und das Ganze etwas zu idealisiren. Ich meine darum, daß in diesem Roman ein glücklicher Fort¬ schritt zu einer der Verfasserin neuen Gattung ausgesprochen liegt, und so schöne und durchgeführte Charaktere, wie Frau Svenstrup, Hans Christian oder die Gräfin Troile geborne Reventlow haben wir noch nicht von ihr be¬ kommen. Die vielfach an das märchenhafte anklingende Ausmalung paßt aber zu dem Ganzen sehr gut. Ein eigentümliches Buch ist Der Henker von Nauplia von Johann Christoph Werner (Leipzig, Dieterich). Diese Erzählung aus dem neu¬ griechischen Volksleben ist auf einen wirklichen Boden verlegt, aber die Aus¬ führung ist durchweg phantastisch, und das Einzelne entfernt sich vielfach in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/56>, abgerufen am 24.07.2024.