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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Märchenhafte Romane

Von den vier Büchern dieser Art, die ich mir für heute zurecht gelegt
habe, hat nur eines durchaus den Charakter einer Märchenerzählung: Der
Schelm von Bergen von Julius von der Traun (Schindler), fünfte
Auflage. Wien, Grottendieks Verlag. Mit dem Namen eines alten. 1844 aus¬
gestorbnen rheinischen Adelsgeschlechts wird eine Sage verbunden. Em deutscher
Kaiser weilt auf Besuch bei feinem Schwager, dem Grafen von Bergen bei
Düsseldorf. Der Scharfrichter, der "Schelm." hat einen schönen Sohn von
ritterlichem Auftreten, er gewinnt die Liebe der Kaiserin, das hätte ihm den
Kopf gekostet, wenn nicht ihre Fürsprache ihn begnadigt und der Kaiser darauf
ihn zum Ritter geschlagen hätte. Die Fabel ist einfach, die Erzählung kurz,
der ganze Reiz liegt in der Ausführung: Schilderung von Natureindrücken
und Gesellschastsbildern in großen Zügen, lebendig, überzeugend und anheimelnd.
Die Sprache ist schlicht, ohne Altertümelei. Die Kaiserin läßt sich z. B. von
ihrer alten Amme erzählen, wie diese einst als Kind mit ihren Geschwistern
in den geheimnisvollen Zaubergärten des "Schelms" durch die Lücken des
Zauns hineingesehen und was sie dort für wunderbare Blumen und Tiere ge¬
sehen hätten: weiße Hühner, blaue Pfauen, feingedornte Kühe; dort sprangen
wie Rehe blanke Fohlen im Sonnenschein. Vor dem Brunnentroge lagen
trotzige, wildblickeude 5)unde, auf dem Brunnenrande aber saßen sanfte schnee¬
weiße Tauben. Über" den Zaun hingen Äste, schwer von den kostbarsten
Früchten, herüber; wir durften nur die Hand ausstrecken, und die schönsten
davon waren unser usw. An einer andern Stelle reitet der Sohn des
..Schelms" aus dem Tannenschatten des Waldes über den moosigen Wresen-
rand hinaus in den Mittagsbrand der Heide. Torfmoor, in dem die trocknen
Halme des grauen Schliff, von braunen Wasseradern träg und trügerisch
unterflosfen,' wogten und heiser rauschten, bot unwillkommne Pfade; hörbar
und ängstlich patschten die Hufe des Pferdes durch den schwarzen Schlamm.
Zwischen kümmerlichen Zwergbirken stand Gevatter Storch. Verdrießlich
wandte er seinen Hals; seine gelbbraunen Augen schienen zu fragen: Was
hat denn dieser blanke Geck zu suchen in meinen stillen Sümpfen? Nun w
gleiten wir den Reitersmann. wie er in den Saal des Kaisers tritt und sich
unter die Gäste des Maskensestes mischt, wo die Ritter, ihre Damen an er-
hobner Hand hochführend, an ihm vorbeiftelzten. Dabei drückten sie mit
lächerlicher Grandezza die Linke auf den Griff ihrer überlangen Stoßdegen.
daß ihre Spitzen unter den Kleidersaum der nachstolzirenden Damen fuhren
und ihn nicht selten bis über den letzten Ring der Schuhbänder emporhoben,
was immer ringsum viel Heiterkeit erweckte und, wie es schien, einen Haupt¬
spaß des fröhlichen Mummenschanzes abgab. -- So versteht der Dichter zu
schildern. Das kleine Buch ist ein wirkliches, seltnes Kunstwerk, ohne einen
einzigen überflüssigen, langweiligen Zug.

Charlotte Niese, die wir bisher als die sehr realistische Darstellerin


Märchenhafte Romane

Von den vier Büchern dieser Art, die ich mir für heute zurecht gelegt
habe, hat nur eines durchaus den Charakter einer Märchenerzählung: Der
Schelm von Bergen von Julius von der Traun (Schindler), fünfte
Auflage. Wien, Grottendieks Verlag. Mit dem Namen eines alten. 1844 aus¬
gestorbnen rheinischen Adelsgeschlechts wird eine Sage verbunden. Em deutscher
Kaiser weilt auf Besuch bei feinem Schwager, dem Grafen von Bergen bei
Düsseldorf. Der Scharfrichter, der „Schelm." hat einen schönen Sohn von
ritterlichem Auftreten, er gewinnt die Liebe der Kaiserin, das hätte ihm den
Kopf gekostet, wenn nicht ihre Fürsprache ihn begnadigt und der Kaiser darauf
ihn zum Ritter geschlagen hätte. Die Fabel ist einfach, die Erzählung kurz,
der ganze Reiz liegt in der Ausführung: Schilderung von Natureindrücken
und Gesellschastsbildern in großen Zügen, lebendig, überzeugend und anheimelnd.
Die Sprache ist schlicht, ohne Altertümelei. Die Kaiserin läßt sich z. B. von
ihrer alten Amme erzählen, wie diese einst als Kind mit ihren Geschwistern
in den geheimnisvollen Zaubergärten des „Schelms" durch die Lücken des
Zauns hineingesehen und was sie dort für wunderbare Blumen und Tiere ge¬
sehen hätten: weiße Hühner, blaue Pfauen, feingedornte Kühe; dort sprangen
wie Rehe blanke Fohlen im Sonnenschein. Vor dem Brunnentroge lagen
trotzige, wildblickeude 5)unde, auf dem Brunnenrande aber saßen sanfte schnee¬
weiße Tauben. Über" den Zaun hingen Äste, schwer von den kostbarsten
Früchten, herüber; wir durften nur die Hand ausstrecken, und die schönsten
davon waren unser usw. An einer andern Stelle reitet der Sohn des
..Schelms" aus dem Tannenschatten des Waldes über den moosigen Wresen-
rand hinaus in den Mittagsbrand der Heide. Torfmoor, in dem die trocknen
Halme des grauen Schliff, von braunen Wasseradern träg und trügerisch
unterflosfen,' wogten und heiser rauschten, bot unwillkommne Pfade; hörbar
und ängstlich patschten die Hufe des Pferdes durch den schwarzen Schlamm.
Zwischen kümmerlichen Zwergbirken stand Gevatter Storch. Verdrießlich
wandte er seinen Hals; seine gelbbraunen Augen schienen zu fragen: Was
hat denn dieser blanke Geck zu suchen in meinen stillen Sümpfen? Nun w
gleiten wir den Reitersmann. wie er in den Saal des Kaisers tritt und sich
unter die Gäste des Maskensestes mischt, wo die Ritter, ihre Damen an er-
hobner Hand hochführend, an ihm vorbeiftelzten. Dabei drückten sie mit
lächerlicher Grandezza die Linke auf den Griff ihrer überlangen Stoßdegen.
daß ihre Spitzen unter den Kleidersaum der nachstolzirenden Damen fuhren
und ihn nicht selten bis über den letzten Ring der Schuhbänder emporhoben,
was immer ringsum viel Heiterkeit erweckte und, wie es schien, einen Haupt¬
spaß des fröhlichen Mummenschanzes abgab. — So versteht der Dichter zu
schildern. Das kleine Buch ist ein wirkliches, seltnes Kunstwerk, ohne einen
einzigen überflüssigen, langweiligen Zug.

Charlotte Niese, die wir bisher als die sehr realistische Darstellerin


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[0055] Märchenhafte Romane Von den vier Büchern dieser Art, die ich mir für heute zurecht gelegt habe, hat nur eines durchaus den Charakter einer Märchenerzählung: Der Schelm von Bergen von Julius von der Traun (Schindler), fünfte Auflage. Wien, Grottendieks Verlag. Mit dem Namen eines alten. 1844 aus¬ gestorbnen rheinischen Adelsgeschlechts wird eine Sage verbunden. Em deutscher Kaiser weilt auf Besuch bei feinem Schwager, dem Grafen von Bergen bei Düsseldorf. Der Scharfrichter, der „Schelm." hat einen schönen Sohn von ritterlichem Auftreten, er gewinnt die Liebe der Kaiserin, das hätte ihm den Kopf gekostet, wenn nicht ihre Fürsprache ihn begnadigt und der Kaiser darauf ihn zum Ritter geschlagen hätte. Die Fabel ist einfach, die Erzählung kurz, der ganze Reiz liegt in der Ausführung: Schilderung von Natureindrücken und Gesellschastsbildern in großen Zügen, lebendig, überzeugend und anheimelnd. Die Sprache ist schlicht, ohne Altertümelei. Die Kaiserin läßt sich z. B. von ihrer alten Amme erzählen, wie diese einst als Kind mit ihren Geschwistern in den geheimnisvollen Zaubergärten des „Schelms" durch die Lücken des Zauns hineingesehen und was sie dort für wunderbare Blumen und Tiere ge¬ sehen hätten: weiße Hühner, blaue Pfauen, feingedornte Kühe; dort sprangen wie Rehe blanke Fohlen im Sonnenschein. Vor dem Brunnentroge lagen trotzige, wildblickeude 5)unde, auf dem Brunnenrande aber saßen sanfte schnee¬ weiße Tauben. Über" den Zaun hingen Äste, schwer von den kostbarsten Früchten, herüber; wir durften nur die Hand ausstrecken, und die schönsten davon waren unser usw. An einer andern Stelle reitet der Sohn des ..Schelms" aus dem Tannenschatten des Waldes über den moosigen Wresen- rand hinaus in den Mittagsbrand der Heide. Torfmoor, in dem die trocknen Halme des grauen Schliff, von braunen Wasseradern träg und trügerisch unterflosfen,' wogten und heiser rauschten, bot unwillkommne Pfade; hörbar und ängstlich patschten die Hufe des Pferdes durch den schwarzen Schlamm. Zwischen kümmerlichen Zwergbirken stand Gevatter Storch. Verdrießlich wandte er seinen Hals; seine gelbbraunen Augen schienen zu fragen: Was hat denn dieser blanke Geck zu suchen in meinen stillen Sümpfen? Nun w gleiten wir den Reitersmann. wie er in den Saal des Kaisers tritt und sich unter die Gäste des Maskensestes mischt, wo die Ritter, ihre Damen an er- hobner Hand hochführend, an ihm vorbeiftelzten. Dabei drückten sie mit lächerlicher Grandezza die Linke auf den Griff ihrer überlangen Stoßdegen. daß ihre Spitzen unter den Kleidersaum der nachstolzirenden Damen fuhren und ihn nicht selten bis über den letzten Ring der Schuhbänder emporhoben, was immer ringsum viel Heiterkeit erweckte und, wie es schien, einen Haupt¬ spaß des fröhlichen Mummenschanzes abgab. — So versteht der Dichter zu schildern. Das kleine Buch ist ein wirkliches, seltnes Kunstwerk, ohne einen einzigen überflüssigen, langweiligen Zug. Charlotte Niese, die wir bisher als die sehr realistische Darstellerin

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/55>, abgerufen am 24.07.2024.