Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.Allerhand Erzählungen icht jedes Buch eignet sich dazu, auf den Weihnachtstisch gelegt zu Allerhand Erzählungen icht jedes Buch eignet sich dazu, auf den Weihnachtstisch gelegt zu <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0544" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229493"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341867_228947/figures/grenzboten_341867_228947_229493_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Allerhand Erzählungen</head><lb/> <p xml:id="ID_1611" next="#ID_1612"> icht jedes Buch eignet sich dazu, auf den Weihnachtstisch gelegt zu<lb/> werden, und welches aus einem größern Vorrat die Wahl trifft,<lb/> für das ist es schon eine Empfehlung, und braucht man eh keine<lb/> Kritik mehr drum herumznthun, für die die Leute auch um Weih¬<lb/> nachten am wenigsten Zeit übrig hätten. Unvermerkt gelingt einem<lb/> der erste Satz etwas Roseggerisch, wenn mau ebeu einen neuen Band<lb/> Rosegger gelesen hat und sich daun zum Schreiben hinsetzt. „Idyllen aus einer<lb/> untergehenden Welt" (Leipzig, Staackmann) mögen eine kleine Reihe guter land¬<lb/> schaftlich gefärbter Erzählungen eröffnen, an die sich dann der moderne städtisch<lb/> kultivirte Roman anschließen wird. Rosegger giebt in diesen dreißig kurzen Skizzen<lb/> Erinnerungen an das im Schwinden begriffne „heimständige" Leben des Alpen¬<lb/> volks, das allmählich vor den Eisenbahnen und Maschinen zurückweicht. Er hat<lb/> ihnen eine elegische Betrachtung vorausgeschickt über diesen Weltuntergang, die Ge¬<lb/> schichten selbst aber enthalten viel Heiteres und vielerlei Derbheiten, wie sie eben<lb/> in der Natur des Volkes liegen. Ein Band Rosegger ist immer des Lesens wert,<lb/> ganzen wird man aber die etwas mehr ausgeführte Erzählung für seine Dar-<lb/> stellnugsart vorteilhafter finden, und wir meinen, auch in der Skizze wäre der<lb/> Dichter schon glücklicher gewesen als diesmal. — Schweizerische Geschichten, zumal<lb/> solche, die bei schweizerischen Verlegern erscheinen, sind niemals schlecht; die Gattung ist<lb/> eigentümlich und dort beliebt, sie findet aber auch sachkundige und strenge Beurteiler,<lb/> die Erinnerung an die großen Muster ist noch lebendig. „Neue Bcrgnovellen"<lb/> von Ernst Zahn (Frauenfeld, Huber) sind sehr zu empfehlen, der Grundton ist<lb/> ^use, die Schilderung kräftig und knapp, der Dialog gut, auch im Dialektischen.<lb/> ^>»e einzige größere Erzählung von Joseph Joachim: „Lorry, die Heimat¬<lb/> lose" (Basel, Schwabe), handelt von Haudereru (Zigeunern, würden wir heute<lb/> sagen), die ehemals kesselflicteud, wahrsagend und bettelnd das Land durchzogen,<lb/> "'s sie endlich seßhaft gemacht wurden. Sie waren den Bauern unentbehrlich,<lb/> obwohl sie ihnen bei ihrer Frechheit als eine große Plage auflagen; sie gehörten<lb/> ^>t zum Bilde einer Zeit, die etwa um ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Ein<lb/> solches Hausirerkind ist Lorry, sie wird die Frau eines tüchtigen Bauernburschen,<lb/> "ber es war nicht ihr Glück, eine Verbindung zwischen diesen zwei fremden Ele¬<lb/> menten that dazumal »och nicht gut. Solange der junge Maun lebt, kann er die<lb/> ürciu gegen die Seinen und die öffentliche Meinung seines Gesellschaftskreises<lb/> schützen; nachdem er plötzlich verunglückt ist, treibt man sie aus dem Hause, ihm<lb/> "ach in den See, wo er begraben liegt. Die Geschichte hat ein Meister geschrieben,<lb/> ist tief und an einzelnen Schönheiten reich. Wir sagen das, obwohl die sehr<lb/> ausgedehnte Schilderung des Lebens der Handerersleute mit ihren Unterhaltungen<lb/> »n Gannerdialekt unserm persönlichen Geschmack keineswegs zufügt. Daß sich</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0544]
[Abbildung]
Allerhand Erzählungen
icht jedes Buch eignet sich dazu, auf den Weihnachtstisch gelegt zu
werden, und welches aus einem größern Vorrat die Wahl trifft,
für das ist es schon eine Empfehlung, und braucht man eh keine
Kritik mehr drum herumznthun, für die die Leute auch um Weih¬
nachten am wenigsten Zeit übrig hätten. Unvermerkt gelingt einem
der erste Satz etwas Roseggerisch, wenn mau ebeu einen neuen Band
Rosegger gelesen hat und sich daun zum Schreiben hinsetzt. „Idyllen aus einer
untergehenden Welt" (Leipzig, Staackmann) mögen eine kleine Reihe guter land¬
schaftlich gefärbter Erzählungen eröffnen, an die sich dann der moderne städtisch
kultivirte Roman anschließen wird. Rosegger giebt in diesen dreißig kurzen Skizzen
Erinnerungen an das im Schwinden begriffne „heimständige" Leben des Alpen¬
volks, das allmählich vor den Eisenbahnen und Maschinen zurückweicht. Er hat
ihnen eine elegische Betrachtung vorausgeschickt über diesen Weltuntergang, die Ge¬
schichten selbst aber enthalten viel Heiteres und vielerlei Derbheiten, wie sie eben
in der Natur des Volkes liegen. Ein Band Rosegger ist immer des Lesens wert,
ganzen wird man aber die etwas mehr ausgeführte Erzählung für seine Dar-
stellnugsart vorteilhafter finden, und wir meinen, auch in der Skizze wäre der
Dichter schon glücklicher gewesen als diesmal. — Schweizerische Geschichten, zumal
solche, die bei schweizerischen Verlegern erscheinen, sind niemals schlecht; die Gattung ist
eigentümlich und dort beliebt, sie findet aber auch sachkundige und strenge Beurteiler,
die Erinnerung an die großen Muster ist noch lebendig. „Neue Bcrgnovellen"
von Ernst Zahn (Frauenfeld, Huber) sind sehr zu empfehlen, der Grundton ist
^use, die Schilderung kräftig und knapp, der Dialog gut, auch im Dialektischen.
^>»e einzige größere Erzählung von Joseph Joachim: „Lorry, die Heimat¬
lose" (Basel, Schwabe), handelt von Haudereru (Zigeunern, würden wir heute
sagen), die ehemals kesselflicteud, wahrsagend und bettelnd das Land durchzogen,
"'s sie endlich seßhaft gemacht wurden. Sie waren den Bauern unentbehrlich,
obwohl sie ihnen bei ihrer Frechheit als eine große Plage auflagen; sie gehörten
^>t zum Bilde einer Zeit, die etwa um ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Ein
solches Hausirerkind ist Lorry, sie wird die Frau eines tüchtigen Bauernburschen,
"ber es war nicht ihr Glück, eine Verbindung zwischen diesen zwei fremden Ele¬
menten that dazumal »och nicht gut. Solange der junge Maun lebt, kann er die
ürciu gegen die Seinen und die öffentliche Meinung seines Gesellschaftskreises
schützen; nachdem er plötzlich verunglückt ist, treibt man sie aus dem Hause, ihm
"ach in den See, wo er begraben liegt. Die Geschichte hat ein Meister geschrieben,
ist tief und an einzelnen Schönheiten reich. Wir sagen das, obwohl die sehr
ausgedehnte Schilderung des Lebens der Handerersleute mit ihren Unterhaltungen
»n Gannerdialekt unserm persönlichen Geschmack keineswegs zufügt. Daß sich
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