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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Politische Reisebetrachtungen aus dem deutschen Süden

Wie greulich verwandelt sich diese Schilderung in ein schmähliches Zerrbild
nationaler Entartung und nationaler Selbstentwürdigung. Erstaunt hört der
Geschichtskundige von den drei Nationen in der alemannischen Schweiz. Genf
ist freilich als burgundische Stadt früh romanisirt und als thatsächlich fran¬
zösisch anzusehen. Bei den übrigen sogenannten französischen Kantonen kann
man sich dagegen durch den Augenschein von der noch jetzt fortschreitenden
Verwelschung dieser einst rein deutschen Landschaften überzeugen. In Tessin
liegen die Verhältnisse ähnlich. Auch dort ist erst seit einem Jahrhundert die
italienische Sprache siegreich vorgedrungen. Der Schweizer war, abgesehen
von seiner Heimathliebe, als echter Deutscher jederzeit ein vaterlandsloser
Geselle, der seine Waffentüchtigkeit jedem Geldgeber zur Verfügung stellte.
Diese Landsknechtsgesinnung beseelt noch heute die Schweiz, deren Unabhängig¬
keit lediglich die Eifersucht der Großmächte gewährleistet. Sonst hätte sie sich
längst die edle Schwesterrepublik einverleibt, wie einst während der großen
Revolution, wo sie im Namen der Völkerfreiheit einfach von Frankreich ver¬
gewaltigt wurde.

Wenn es nicht unhöflich wäre, könnte man leicht versucht sein, die un¬
würdige Haltung der Schweizer dem Frcmzvsentum gegenüber mit einem ge¬
prügelten Hunde zu vergleichen, der, je mehr Schläge er erhält, desto mehr
seinen strengen Herrn liebkost. Es dürfte lehrreich sein, den Gründen dieser
elenden Erscheinung nachzugehen. Das Schweizerdeutsch ist keine besondre
Mundart, soudern ein entartetes Hochdeutsch. Es giebt wohl eine Sprechweise
des Prätigau, des Üchtlandes usw., aber keine allgemeine Schweizer Mundart.
sprachlich ist die Schweiz alemannisch. Seit der Trennung vom Reiche im
Jahre 1648 hat sich diese Mundart wohl besonders entwickelt, aber es, im
Gegensatz zum Holländischen, zu keiner Schriftsprache gebracht. Unsre hoch¬
deutsche Schriftsprache ist auch für das Schweizerdeutsch maßgebend. That¬
sächlich entspricht aber die Rede nicht der Schrift. Handelte es sich nur um
eine mundartliche Abweichung, so wäre diese eigne schweizerische Art höchst er¬
freulich. Leider ist es aber eine Entartung, und der Schweizer ist sich dieser
Thatsache wohl bewußt. Wie bei uns im vorigen Jahrhundert die Mutter¬
sprache schimpflicherweise so verachtet war, daß sich die Gebildeten des Fran¬
zösischen in nationaler Gleichgiltigkeit bedienten, so dauert diese Unsitte in der
Schweiz fort, und deutsch ist zur Hausknechtssprache hinabgesunken. Die
deutschnationale Gefahr liegt gerade in dieser Begünstigung des Französischen
in den gebildeten Kreisen, denn jeder Mann aus dem Volke strebt natürlich
diesem unrühmlichen Vorbilde nach. In jedem Laden, in jeder Gaststube hat
wan zunächst Lein jour Ur., öxcmLW Ur., irisroi dö-iuooux Ur. usw. zu er¬
jagen, womit freilich auch der Wortvorrat dieser falschen Franzosen erschöpft
ist. Jede Speisekarte in der elendesten Wirtschaft ist französisch, obschon in
den mittlern Kneipen die Kost allzu deutsch ist.


Politische Reisebetrachtungen aus dem deutschen Süden

Wie greulich verwandelt sich diese Schilderung in ein schmähliches Zerrbild
nationaler Entartung und nationaler Selbstentwürdigung. Erstaunt hört der
Geschichtskundige von den drei Nationen in der alemannischen Schweiz. Genf
ist freilich als burgundische Stadt früh romanisirt und als thatsächlich fran¬
zösisch anzusehen. Bei den übrigen sogenannten französischen Kantonen kann
man sich dagegen durch den Augenschein von der noch jetzt fortschreitenden
Verwelschung dieser einst rein deutschen Landschaften überzeugen. In Tessin
liegen die Verhältnisse ähnlich. Auch dort ist erst seit einem Jahrhundert die
italienische Sprache siegreich vorgedrungen. Der Schweizer war, abgesehen
von seiner Heimathliebe, als echter Deutscher jederzeit ein vaterlandsloser
Geselle, der seine Waffentüchtigkeit jedem Geldgeber zur Verfügung stellte.
Diese Landsknechtsgesinnung beseelt noch heute die Schweiz, deren Unabhängig¬
keit lediglich die Eifersucht der Großmächte gewährleistet. Sonst hätte sie sich
längst die edle Schwesterrepublik einverleibt, wie einst während der großen
Revolution, wo sie im Namen der Völkerfreiheit einfach von Frankreich ver¬
gewaltigt wurde.

Wenn es nicht unhöflich wäre, könnte man leicht versucht sein, die un¬
würdige Haltung der Schweizer dem Frcmzvsentum gegenüber mit einem ge¬
prügelten Hunde zu vergleichen, der, je mehr Schläge er erhält, desto mehr
seinen strengen Herrn liebkost. Es dürfte lehrreich sein, den Gründen dieser
elenden Erscheinung nachzugehen. Das Schweizerdeutsch ist keine besondre
Mundart, soudern ein entartetes Hochdeutsch. Es giebt wohl eine Sprechweise
des Prätigau, des Üchtlandes usw., aber keine allgemeine Schweizer Mundart.
sprachlich ist die Schweiz alemannisch. Seit der Trennung vom Reiche im
Jahre 1648 hat sich diese Mundart wohl besonders entwickelt, aber es, im
Gegensatz zum Holländischen, zu keiner Schriftsprache gebracht. Unsre hoch¬
deutsche Schriftsprache ist auch für das Schweizerdeutsch maßgebend. That¬
sächlich entspricht aber die Rede nicht der Schrift. Handelte es sich nur um
eine mundartliche Abweichung, so wäre diese eigne schweizerische Art höchst er¬
freulich. Leider ist es aber eine Entartung, und der Schweizer ist sich dieser
Thatsache wohl bewußt. Wie bei uns im vorigen Jahrhundert die Mutter¬
sprache schimpflicherweise so verachtet war, daß sich die Gebildeten des Fran¬
zösischen in nationaler Gleichgiltigkeit bedienten, so dauert diese Unsitte in der
Schweiz fort, und deutsch ist zur Hausknechtssprache hinabgesunken. Die
deutschnationale Gefahr liegt gerade in dieser Begünstigung des Französischen
in den gebildeten Kreisen, denn jeder Mann aus dem Volke strebt natürlich
diesem unrühmlichen Vorbilde nach. In jedem Laden, in jeder Gaststube hat
wan zunächst Lein jour Ur., öxcmLW Ur., irisroi dö-iuooux Ur. usw. zu er¬
jagen, womit freilich auch der Wortvorrat dieser falschen Franzosen erschöpft
ist. Jede Speisekarte in der elendesten Wirtschaft ist französisch, obschon in
den mittlern Kneipen die Kost allzu deutsch ist.


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[0526] Politische Reisebetrachtungen aus dem deutschen Süden Wie greulich verwandelt sich diese Schilderung in ein schmähliches Zerrbild nationaler Entartung und nationaler Selbstentwürdigung. Erstaunt hört der Geschichtskundige von den drei Nationen in der alemannischen Schweiz. Genf ist freilich als burgundische Stadt früh romanisirt und als thatsächlich fran¬ zösisch anzusehen. Bei den übrigen sogenannten französischen Kantonen kann man sich dagegen durch den Augenschein von der noch jetzt fortschreitenden Verwelschung dieser einst rein deutschen Landschaften überzeugen. In Tessin liegen die Verhältnisse ähnlich. Auch dort ist erst seit einem Jahrhundert die italienische Sprache siegreich vorgedrungen. Der Schweizer war, abgesehen von seiner Heimathliebe, als echter Deutscher jederzeit ein vaterlandsloser Geselle, der seine Waffentüchtigkeit jedem Geldgeber zur Verfügung stellte. Diese Landsknechtsgesinnung beseelt noch heute die Schweiz, deren Unabhängig¬ keit lediglich die Eifersucht der Großmächte gewährleistet. Sonst hätte sie sich längst die edle Schwesterrepublik einverleibt, wie einst während der großen Revolution, wo sie im Namen der Völkerfreiheit einfach von Frankreich ver¬ gewaltigt wurde. Wenn es nicht unhöflich wäre, könnte man leicht versucht sein, die un¬ würdige Haltung der Schweizer dem Frcmzvsentum gegenüber mit einem ge¬ prügelten Hunde zu vergleichen, der, je mehr Schläge er erhält, desto mehr seinen strengen Herrn liebkost. Es dürfte lehrreich sein, den Gründen dieser elenden Erscheinung nachzugehen. Das Schweizerdeutsch ist keine besondre Mundart, soudern ein entartetes Hochdeutsch. Es giebt wohl eine Sprechweise des Prätigau, des Üchtlandes usw., aber keine allgemeine Schweizer Mundart. sprachlich ist die Schweiz alemannisch. Seit der Trennung vom Reiche im Jahre 1648 hat sich diese Mundart wohl besonders entwickelt, aber es, im Gegensatz zum Holländischen, zu keiner Schriftsprache gebracht. Unsre hoch¬ deutsche Schriftsprache ist auch für das Schweizerdeutsch maßgebend. That¬ sächlich entspricht aber die Rede nicht der Schrift. Handelte es sich nur um eine mundartliche Abweichung, so wäre diese eigne schweizerische Art höchst er¬ freulich. Leider ist es aber eine Entartung, und der Schweizer ist sich dieser Thatsache wohl bewußt. Wie bei uns im vorigen Jahrhundert die Mutter¬ sprache schimpflicherweise so verachtet war, daß sich die Gebildeten des Fran¬ zösischen in nationaler Gleichgiltigkeit bedienten, so dauert diese Unsitte in der Schweiz fort, und deutsch ist zur Hausknechtssprache hinabgesunken. Die deutschnationale Gefahr liegt gerade in dieser Begünstigung des Französischen in den gebildeten Kreisen, denn jeder Mann aus dem Volke strebt natürlich diesem unrühmlichen Vorbilde nach. In jedem Laden, in jeder Gaststube hat wan zunächst Lein jour Ur., öxcmLW Ur., irisroi dö-iuooux Ur. usw. zu er¬ jagen, womit freilich auch der Wortvorrat dieser falschen Franzosen erschöpft ist. Jede Speisekarte in der elendesten Wirtschaft ist französisch, obschon in den mittlern Kneipen die Kost allzu deutsch ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/526>, abgerufen am 12.12.2024.